30. Januar

Frühstück mit Eisenkrauttee und Walnüssen; die Morgenpresse mit den Nachrichten von gestern – auch das Neuste weiß man schon längst, die Resultate vom Tennis, die Börsenabschlüsse, die Wahlergebnisse in Tunesien und Chile kursieren seit zwölf Stunden im Internet. Wirklich aktuell ist eigentlich nur noch das Feuilleton; nur im Feuilleton finden sich noch Beiträge, die man nicht schon anderswo gelesen hat. In der Post heute die Monografie von Hans Ulrich Reck über Pier Paolo Pasolini mit freundschaftlicher Widmung. Meine eigene Beschäftigung mit Pasolini liegt weit zurück, sie war am intensivsten in den mittleren 1980er Jahren, als ich in meinem Roman ›Letzte Liebe‹ das Drehbuch zu ›Teorema‹ weitläufig überschrieb – riskanter Versuch eines persönlichen Dialogs mit Pasolini auf Distanz. Dabei habe ich gelernt, dass man widersprüchlich sein muss, »um wirklich konsequent zu sein«; im Wissen freilich, das solche Konsequenz, solche Widersprüchlichkeit im literarischen Betrieb nicht honoriert, vielmehr abgestraft wird. Notwendigerweise damit verbunden ist die »einsame« Position, die einer einzunehmen und durchzustehen hat, um nicht nur »ich«, sondern auch »selbst« zu sein, eine Position, die permanent erkämpft und behauptet werden muss gegen den aktuellen Trend, Kunst und Autorschaft auf Markttauglichkeit zu trimmen. Wer’s nicht tut, wird abgehängt, bleibt draußen, erntet Verachtung und Neid, bestenfalls Unverständnis: »Im übrigen garantiert mir vielleicht gerade diese Einsamkeit eine verrückte und widersprüchliche Objektivität, denn ich habe keinen hinter mir, der mich unterstützen würde und mit dem ich gemeinsame Interessen zu vertreten hätte.« Gemeinsame Interessen? Die eigenen Interessen zu vertreten, ist Revolte genug; sie zu verraten – das Übliche. – Krys arbeitet weiter an ihrem Projekt, berichtet gern und ausführlich darüber, hat immer ihr großformatiges Regieheft dabei, mit Notaten, Zeichnungen, eingeklebten Zeitungsbildern. Projekt statt Stück. Denn Stücke, erklärt sie mir, braucht’s keine mehr heute, es braucht Essays, aus starken Essays Bühnenstücke machen, »das ist meins«. Das könne sie auch selbst. Als Regisseurin sei sie auf Autoren, auf Dramatiker nicht mehr angewiesen, Regisseure sind die besseren Autoren, sie bringen ihre Stoffe, ihre Fragestellungen essayistisch auf den Punkt, und anhand des Skripts – »ein paar wenige Seiten genügen« – wird das Projekt in der Folge beim Proben und Improvisieren mit den Schauspielern zum Stück … wird zu einem Stück, das bei jeder Aufführung anders herauskommt, also jedes Mal als Uraufführung gelten kann, fürs Publikum wie für die Darsteller und für sie, Krys, als »Regieautorin« so viel spannender als das übliche Nachspielen. Es wird ein langes Gespräch, wir schlagen ein gemeinsames Projekt »zu Faden«, lassen spontane Einfälle Revue passieren, aber plötzlich, mit der aufkommenden Müdigkeit, habe ich nur noch Augen für sie, ihre etwas linkische und asymmetrische Figur, ihre starken Beine, die leicht schiefe Hüfte, die runde Stirn mit der darüber ausfransenden Frisur, ich kann mir Krys, wenn sie mir so frontal ihr helles Gesicht zeigt, als Mutter gut vorstellen, nicht aber als Frau eines Mannes. Halbwegs gebe ich sie schon verloren, als sie unerwartet in die Hocke geht, über ihren Knien rutscht der enge Wollrock hoch, sie tastet auf dem Teppich nach ihrem herabgefallenen Handy, findet es nicht, schwingt sich mit einer schönen Bewegung wieder in den Stand, steckt sich mit erhobenen Armen eine Haarnadel hinten, oben in die Frisur, geht langsam … kommt langsam um den Tisch herum, kommt auf mich zu. Mit Krys hab ich immer kein Verlustgefühl. – Der kalte Regen hält an, macht mich zuversichtlich, das beständige Rieseln und Rauschen empfinde ich wie eine uneinnehmbare Festung, in deren Verlies ich mich, für jedermann sichtbar, verschanzt halten kann. Trotz der Kälte arbeite ich … schreibe ich bei offenem Fenster, trage überm Pullover einen dicken Schal. ›Alias‹ nimmt weiter Gestalt an, will aber noch immer nicht gelingen. – Das Staunen (wenn nicht
die Verblüffung) ist das reinste Interesse. Da
aaaaawird nichts mehr benannt und
aaaaaniemand angeklagt. Da jagt nur noch
aaaaaein Sinn den andern und hat
aaaaaherrlich Bestand für den Moment (fast
aaaaawie für eine Ewigkeit). Die Last bleibt ganz
aaaaabeim fahrigen Gedanken der allerlei
aaaaaBedeutung fasst (und
aaaaaaber kein einziges Bild. Das Bild
aaaaagehört dem Rahmen
aaaaaund der Rahmen ist das was gilt
aaaaawo Ähnlichkeit und Glück
aaaaasich endlich gefallen im fahlen Gegenlicht.)
– Licht ist das Ungemach der Nacht, die Liebe – das der Normalität. Achten wir darauf. – Langer Stadtspaziergang in der Früh am Rand des Berufsverkehrs. Das Brausen und Quietschen und Röhren der Autos und Straßenbahnen. Anthrazitgrau rieselt halbgefrorener Regen herab, während ganz allmählich der Tag ans Licht gezogen wird. Straßenbeleuchtung, Fahrzeugbeleuchtung und auf dem nassen Asphalt deren bewegter Widerschein. Auf dem Gehsteig nur wenige Passanten, gestiefelt, vermummt bis zum Hals … bis unter die Nase, dazu Kapuze oder Regenschirm – dunkle wankende Gestalten, Statisten in einem Stück ohne Text, ohne Autor. Tragische Schmierenkomödie, in der auch ich meinen stummen Auftritt habe. – Der Konservatismus des Konzertpublikums; das Interesse, das Bedürfnis, die Geduld, die Lebenszeit, die es braucht, um sich die immer gleichen Stücke aus dem 18., 19. Jahrhundert in immer wieder anderer Interpretation anzuhören, wird kein Leser für literarische Texte der Vergangenheit aufbringen. Keiner wird sich die jeweils neuste Werkausgabe von Raabe, Balzac oder Thackery besorgen und zum siebten oder siebzehnten Mal den ›Stopfkuchen‹ oder ›Sarrazine‹ oder ›Vanity Fair‹ zu lesen. Man muss schon ein echter Literaturliebhaber oder ein professioneller Literaturforscher sein, um ein solches Werk mehr als einmal durchzuarbeiten. Das hat wohl, im Unterschied zur Musik, damit zu tun, dass Erzählwerke nicht der Form, sondern dem Inhalt nach memoriert werden. Hat man die Geschichte erst einmal gelesen, weiß man im Wesentlichen, worum es geht, abgesehen davon, dass man dies auch dann wissen kann, wenn man bloß eine Nacherzählung oder eine Zusammenfassung zur Kenntnis nimmt. Ein Musikstück lässt sich bekanntlich nicht zusammenfassen, lässt sich auch nicht auf eine narrative oder diskursive Aussage reduzieren, baut sich als Formen- und nicht als Ideengefüge auf, muss deshalb bei jeder weiteren Aufführung, bei jeder neuen Interpretation vollständig durchgespielt und immer wieder neu gedeutet werden, und das erbringt denn auch jedes Mal ein neues Hörerlebnis. Das Phänomen der wiederholten beziehungsweise der wiederholbaren Premiere stellt sich im Literaturbereich am ehesten bei poetischen Texten ein, bei Gedichten, die man ebenso wenig kürzen oder resümieren kann wie musikalische Kompositionen und bei denen die Aussage hinter das Sagen, der Inhalt hinter die Form zurücktritt.

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