30. März

Mein Buch zur Geschichte der russischen Nachahmungs- und Aneignungskultur, ›Faszination des Fremden‹, ist darauf angelegt, die Geschichte der russischen Kulturimporte im Bereich der Künste, der Philosophie, des politischen und sozialen Denkens nachzuzeichnen und anhand von Beispielen zu belegen, aber auch darauf, die Imitationskultur nicht auf Imitation zu beschränken, sondern die Aneignung des Fremden als eine Eigenart russischen Kulturschaffens auszuweisen. In Russland … in nationalistisch gesinnten, der Orthodoxie und dem Neostalinismus zugewandten russischen Zirkeln stoßen meine Thesen und Belege mehrheitlich auf Ablehnung – was nicht weiter verwunderlich ist, aber auch nichts zu einer wünschbaren Debatte beiträgt. Nun gibt mir das ›Jahrbuch für osteuropäische Geschichte‹ die Möglichkeit und den notwendigen Raum für eine Präzisierung des komplexen Problemzusammenhangs – meine Grundgedanken dazu und ein paar weiterführende Überlegungen will ich hier knapp skizzieren. – Vorab ist festzuhalten, dass in meiner Arbeit nicht Russland, sondern umgekehrt Europa oder generell »der Westen« als Imitat, mithin als das Nachgeahmte ausgewiesen wird – als Gegenstand eines kollektiven mimetischen Begehrens, das in einer ersten Phase auf Nachahmung angelegt ist (»einholen«), dann auf transformierende Aneignung, schließlich auf Verwerfung oder gar Vernichtung (»überholen«). Es handelt sich hier um einen doppelten Spiegeleffekt, der auf paradoxale Weise das »Wider« mit dem »Wieder« in eins setzt und eben kraft dieser Einschmelzung das Fremde im Eigenen gleichzeitig bewahrt und suspendiert. Daraus leite ich nun aber keineswegs eine besonders »provokante These« ab, wie man es mir da und dort unterstellt, und schon gar nicht generiere ich daraus die obsolete Behauptung, Russland habe keine nennenswerten eigenständig hervorgebrachten Kulturleistungen aufzuweisen. Anhand Dutzender von Fallbeispielen aus unterschiedlichsten Kulturbereichen – vom »italienischen« Kreml in Moskau bis hin zur »japanischen« Matrjoschka − kann ich, im Gegenteil, belegen, dass die spezifisch russische Kulturleistung eben darin besteht, aus Versatzstücken fremder Kulturen unverwechselbar eigene Werke zu kreieren, und dass die spezifische Originalität solcher Werke darin zu finden ist, wie sie die übernommenen Versatzstücke neu zusammenfügen und sie zu etwas Eigenem synthetisieren. Explizit heißt es dazu in meinem Text: »Die Integration und Akkulturation des Fremden, und mehr als dies: des höher entwickelten Fremden ist eine Stärke der russischen Kultur und sollte keinesfalls, wie es oft geschieht, als bloße Imitation abgewertet werden. Imitation ist in jedem Fall mehr als bloße Imitation. Imitation bereichert das Imitat um den Akt des Imitierens. Zu bedenken ist, dass nicht nur das Geben, als Einflussnahme oder Fremdeinwirkung, eine kulturelle Leistung ist, sondern auch die Fähigkeit des Nehmens, die Bereitschaft, das Eigene dem Fremden zu öffnen und das Fremde den eigenen Möglichkeiten anzupassen, es den eigenen Bedürfnissen nutzbar zu machen, es in neuem kulturellem Kontext expandieren zu lassen.« Dieser Vorgang (diese Leistung) synthetisierender Aneignung oder Vereinnahmung ist mithin nichts anderes als eine kunstvolle Verfremdung des Fremden ins Eigene. Die Rezeptionsgeschichte der deutschen Romantik in Russland ist dafür ebenso exemplarisch wie die Aufnahme des französischen utopischen Sozialismus oder die spätere Aneignung des Marxismus und dessen verfremdende Transformation zum Marxismus-Leninismus. Keine Nationalkultur kann ohne transnationale Wechselbeziehungen ihre Eigenständigkeit herausbilden und durchsetzen. Die russische Nationalkultur ist singulär insofern, als gerade ihre besonders »typischen« beziehungsweise eigenartigen Ausprägungen weitgehend fremdbestimmt sind. Das gilt für repräsentative staatliche Bauwerke (etwa den Facettenpalast im Moskauer Kreml, die Ermitage oder die Börse in Sankt Petersburg) ebenso wie für den russischen Nationaldichter Aleksandr Puschkin, die russischen »Slawophilen«, den führenden russischen Philosophen Wladimir Solowjow und selbst den »russischsten« aller russischen Autoren, Fjodor Dostojewskij, dessen umfangreiches Werk fast ausschließlich aus westlichen Quellen erwachsen ist und der dennoch zum wortführenden Protagonisten der russischen patriotischen Reaktion, zum Verächter der westeuropäischen Zivilisation, zum Propheten der »russischen Seele« werden konnte. In all diesen und manch andern Fällen kommt die doppelte Spiegelung des Fremden im Eigenen und des Eigenen im Fremden prädominant zum Tragen. Was sich diesbezüglich seit der Wende von 1989/1991 in Russland abgespielt hat, entspricht nochmals genau diesem Modell. Statt Glasnost und Perestrojka zur Konkretisierung eigener Vorstellungen und Möglichkeiten zu nutzen, hat man sich zunächst in allen Bereichen auf Fremdimporte beschränkt, um ausländische Standards zu erreichen. Postmoderne, Globalismus, neue Medien wurden aktiv und produktiv übernommen. Doch kaum war die hektische Phase des mimetischen Begehrens vorbei, kaum war, zumindest in den Großstädten, die Alltagswelt weitgehend »macdonaldisiert« beziehungsweise »westernisiert« (westernisazija – ein russischer Neologismus), da traten machtvoll die Altkommunisten und die neuen Patrioten auf den Plan, um das nationale Erbe zu retten. Auch dies ist ein Widerspruch, der auf den kulturellen Spiegeleffekt zurückgeht – dass nämlich Russland (das Imperium wie auch das Sowjetreich) sich seine Multinationalität, seine »Allweltlichkeit«, seine Rezeptions- und Synthetisierungskraft zugutehalten und gleichzeitig auf einem nationalen Sonderweg, auf einer historischen Sonderstellung, auf einem weltanschaulichen Sonderstatus beharren kann. Usf. Ist weiterzuentwickeln. – Hermann Broch? Mit Musil und Kafka der bevorzugte Autor meiner späten Gymnasialzeit! Und jetzt? Jetzt, Jahrzehnte danach, ist mir Broch völlig entrückt. Zwar stehen seine Bücher – die schöne Werkausgabe aus dem ehemaligen Rhein Verlag – noch immer im Regal, ich kann mich aber nicht erinnern, je wieder nach einem der Bände gegriffen zu haben. Bis heute … bis ich heute, auf der Suche nach den ›Postalischen Varianten‹ von Kazimierz Brandys, dank alphabetischer Aufstellung unversehens auf ›Die Schuldlosen‹ von Broch stieß, auf den ›Tod des Vergil‹, ›Die unbekannte Größe‹, den ›Versucher‹, die Essays und Briefe. Noch im Stehen blätterte ich einige der Bände auf, fühlte mich sofort auf bekanntem Terrain, das mir allerdings nun ganz fremd und auch irgendwie befremdlich vorkam. Fast auf jeder Seite fand ich … finde ich meine früheren Anstreichungen und Randkommentare. In den ›Schuldlosen‹ entdecke ich eine von mir getippte Liste, auf der sämtliche im Text vorkommenden Farbadjektive, Eigennamen, Zahlwörter, Zeitangaben und mathematischen Begriffe festgehalten sind, dazu – wozu? – die von Broch erwähnten Kleidungsstücke (Mantel, Hut usf.) sowie die erstaunlich zahlreichen Tiere (Ameisen, Bienen, Fliegen usf.). Vertrautheit und Überdruss verbinden sich nun beim Wiederlesen. Es bleibt ein Rest von Faszination, die aber einzig vom ausgeprägten Rhythmus dieser Prosa genährt wird, von der ebenso weitläufigen wie komplexen Syntax, die offensichtlich von James Joyce geprägt ist, im Übrigen jedoch, was Inhalt und Intention der Texte angeht, fast durchweg ein Pathos zur Geltung bringt, das ich heute nur noch peinlich finden kann. Dass ich diesem Pathos als ganz junger Mensch habe erliegen können, ist mir unbegreiflich. Anderseits treffe ich bei Broch, wenn ich von seiner erhabenen Rhetorik abstrahiere, auf manche Einsichten, die noch immer anregend und bedenkenswert sind – so die Zeitdiagnosen zum Epochenjahr 1913, die Reflexionen über den Kitsch und das Böse, die narrative Vergegenwärtigung des »Urwaldgeruchs des Massentieres« beziehungsweise des Führerkults im Roman ›Der Versucher‹. Ich kann das alles durchaus interessant finden, doch die Faszination stellt sich nicht mehr ein, schon eher eine Art von beifälliger Resignation dort, wo Broch seinen Kulturpessimismus durch den sterbenden Vergil kundtut: »Und desgleichen werden die Bücher mit in dem Rauch aufgehen. Mit Recht, mit Recht, mit Recht. In der Brust des Kranken brannte es, allein die Lippen des Schriftstellers lächelten ein wenig, denn der Brand würde auch die Bücher Horazens und Ovids kaum verschonen, und man musste sagen, ebenfalls mit Recht. Keiner wird bestehen bleiben. Was aber dann? Was vermöchte die Menschen noch zu retten, auf dass sie weiterlebten? Verse? Waren Verse nicht zu wenig und doch zu viel? Vermochten Verse eine solche Welt zu ändern?« – Mehr und mehr dominieren »Autoren mit Migrationshintergrund« den deutschsprachigen Literaturbetrieb, Autoren, Autorinnen, die in der Fremdsprache Deutsch schreiben … die ein mangelhaftes Deutsch schreiben, das bei den Verlagen lektoriert und korrigiert werden muss, das aber auch in bereinigter Form vom Charme des Unvollkommenen profitiert und von der Toleranz der Kritik, die sich für formale Qualitäten oder Mängel ohnehin weit weniger interessiert als für spannende, anrührende, wenn nicht tragische Stoffe: Authentizität wird durchweg honoriert (die zahlreichen Literaturpreise für »fremdsprachige« deutsche Literaten bezeugen es), derweil Literatur als Kunst, der Wille zum Stil, das Bemühen um die Form weithin unbeachtet bleiben oder aber negativ veranschlagt werden. – Ich bin eben, zusammen mit vielen Bekannten von einst, in ein fernab liegendes Camp eingerückt, schleppe die Vollpackung mit, drin verstaut meine Gummistiefel, ein Tarnanzug, Toiletten- und Papeterieartikel. Die Reise ist beschwerlich. Man sitzt dicht gedrängt in immer wieder andern Transportzügen, jedes Mal beim Umsteigen verliere oder vergesse ich etwas von meiner Ausrüstung, und als wir endlich ankommen, schwebt wie an einem großen rotierenden Karussell Krys hoch an mir vorüber – sie hält sich wie ein lebensgroßer Wachsengel in der Luft, hat eine Klangwolke vor dem Mund, trägt ein gestärktes Ballettröckchen über den Hüften, zeigt ihre langen starken Beine bis zum Zwickel ihrer Netzstrumpfhose. Für einen Moment bleibt sie über mir hängend in der Schwebe, schaut lächelnd herab, singt mir was vor und … und lässt sich an den klirrenden Ketten weitertragen. Um mich herum stehn mit gerecktem Kinn meine abgekämpften Kameraden, der Engel ist entschwunden, alle wollen nun einfach nur ins Camp, ins Zelt, in den Schlafsack. Gemütlich ist es hier nicht. Wir befinden uns in einer ungeheizten Baracke, die mit Regalen vollgestellt ist, wir legen unsre Rucksäcke ab, kramen nach dem »Schlafzeug«, ich vermisse mein Etui mit Zahnbürste und Nivea, kann von meinen Stiefeln nur den rechten finden. So humple ich in den unter Flutlicht liegenden Hof hinaus, rechts im Stiefel, links in der gestreiften Socke, beobachte, wie am silbern schimmernden Boden (vielleicht Neuschnee? Wüstensand?) ein kleiner Hügel sich auftürmt, anderthalb Meter breit, kaum knöchelhoch, und in diesem weichen, bröselnden, mit feinen Federn untermischten Hügel tummeln sich – als wäre die bewegte Erhebung ein wogender Tümpel – Marder, Iltisse, Wildkatzen, sie bewegen sich, stets zur Hälfte über der Erde und unter ihr, wie wendige Fische gleichsam um sich selbst, mein Eindruck ist, dass sie den Hof, das ganze Camp, den gesamten Kontinent untergraben. Auf wankendem Grund überquere ich den Hof und betrete das Zirkuszelt … betrete den riesigen, nach oben offenen Drahtkäfig, wo die Artisten und Kuratoren bereits am Feiern sind. Krys, jetzt mit wippenden Schwanzfedern geschmückt, räkelt sich von Schoss zu Schoss, von Schulter zu Schulter, versucht sich zu entspannen vor ihrem nächsten großen Auftritt: Als Hauptdarstellerin wird sie im jüngsten Bühnenstück von Jost Scaliger (den sie Scali nennt und mit dem sie sichtlich – sicher? – ein Verhältnis hat). Scali wirkt hier, assistiert von Jost, nebenbei als Bühnenarbeiter, ein sympathischer, wenn auch mürrisch verdüsterter Typ, spricht sehr wenig, dann aber sehr laut und ausschließlich italienisch, er wird unsre Rückreise organisieren. Man trifft sich nach der Vorstellung – also jetzt – am Rand des Bahnhofs bei der gewaltigen, im Rost metallisch knirschenden Drehscheibe. Auch hier dampfendes Flutlicht, und drum herum und darüber hin – nichts, Nacht. Warten. Man kommt ins Witzeln und Fluchen, natürlich hab ich auch diesmal das Wichtigste vergessen oder man hat es mir geklaut, die Gasmaske, das Federmesser, die Kondome, Fishermen’s Pastillen, den Großen Wladimir. Endlich – jetzt – fährt die Bahn ein, ein langer, kaum noch fahrtüchtiger Zug, komponiert aus schmalen Schlafwagen mit quer angeordneten Pritschen, jeweils deren drei übereinander. Der Zug kommt über der Drehscheibe scheppernd zum Stehen und wird sogleich von allen Seiten – von uns allen – gestürmt. Es gibt halt doch nur diesen einen Waggon für die ganze Kompanie, man drängt, stößt, bückt, verkrümelt sich. Die Pritschen sind mit Waffen, Kerlen, Helmen, Sprengladungen voll bepackt, als sich der Zug endlich in Bewegung setzt. Das blecherne Klirren lässt keinen Zweifel, wir werden in einem ausgeweideten Spielplatzautobus in den Fernen Osten verfrachtet. Eine Weile begleitet uns … noch lange begleitet mich die Stimme jener Frau, die grade eben noch den Ton angegeben hat und aber sehr bald unwiederbringlich verweht sein wird. – Zur Zeit halte ich mich wieder einmal bei Joseph Roth auf, bei seinem »Panoptikum«, den »Reisebildern« und den kleinen großartigen Erzählungen der 1920er, 1930er Jahre – »Fallmerayer«, »April«, »Jablonowka«, »Der blinde Spiegel«. Ich finde wohl meine Anstreichungen und Randkommentare aus früheren Lektüren, erinnere mich aber nicht mehr an die Plots der Geschichten, bestenfalls an Orts- und Personennamen, an einzelne Episoden oder Detailbeschreibungen, vor allem freilich, vom Kontext losgelöst, an Sätze von merkwürdiger Einprägsamkeit; Sätze wie diese: »In kleinen Städten sind nachts keine zufälligen Menschen auf der Straße. Nur Liebhaber oder Straßenmädchen oder Nachtwächter oder Wahnsinnige oder Dichter. Die Zufälligen und Gleichgültigen sind sicher zu Hause.« Das heißt? – sie sind nur bei sich zu Hause sicher! Oder: »Ich liebte die Frauen, deren Güte wie ein verschütteter Quell, unsichtbar fruchtlos, aber unermüdlich, jedes Mal gegen die Oberfläche anströmt und, weil ein Ausweg nicht möglich, nach der Tiefe gedrängt, verborgene Schächte gräbt und gräbt, bis zum Versiegen.« Das Selbstverständliche, Naturhafte – hier wird’s als etwas Ungeheuerliches (etwas ungeheuerlich Erhabenes) vorgeführt und wirkt umso wahrhaftiger. – »Der Regen, die Harmlosigkeit des Strohhalms, das Kanalgitter und ich gehörten zusammen.« – »Rund um die Bänke, die in der Mitte der Beete standen, war das Gras ein wenig müde und hergenommen von der nächtlichen Liebe der Menschen.« Nicht von den Menschen also, sondern von einem nachtaktiven Ungetüm mit Namen Liebe. – »Einmal gelang es Abel, nach New York zu fahren. Auf dem Schiff sah er zum ersten Mal in seinem Leben eine schöne Frau. Als er im Hafen landete, verschwand ihm die schöne Frau aus den Augen. Da kehrte er mit dem nächsten Schiff nach Europa zurück.« – Ich erkenne in solchen Sätzen (die ich auch heute wieder unterstreichen würde) embryonale Romane, Lebens-, Liebesgeschichten, die Roth groß hätte entfalten können, wäre er nicht auf die Feuilletonhonorare angewiesen gewesen. Die oft unbeholfen, bisweilen auch abstrus wirkenden Formulierungen stehn in größtmöglichem Kontrast zur Prunkprosa Thomas Manns und in nächster Nähe zu den unscheinbaren Stilblüten Robert Walsers. Jene Distanz und diese Nähe dürften Roth bewusst gewesen sein; er hat für sich den Weg dazwischen gewählt. Beim Lesen wie beim Wiederlesen wird mir manches – immer wieder das Gleiche – neu bewusst. Ich werde diesen Autor nie ausgelesen haben.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00