31. Dezember

Abends zum Jahreswechsel bei Krys. Man sitzt eng gedrängt am langen Gästetisch, der für diesmal diagonal im Raum steht. In der Ecke hält sich der geschmückte Weihnachtsbaum, unter dem nun ein paar neue Geschenke liegen. Krys hat nebst manchen Bekannten, Nachbarn und Freunden ihre Eltern aus Polen eingeladen. Vater Edgar Wiśniewski, fünfundsiebzig, sieht aus wie ein Sechziger, war einst Ausbilder für Sozialarbeiter, sehr belesen, sehr lebhaft und kritisch – er macht mir meine Müdigkeit und Langsamkeit bewusst, indem er meine offenbar zu gemächlich gesprochenen Sätze vorgreifend abschließt, was mich erst mal irritiert, dann eher amüsiert; Frau Mutter, Grażyna Wiśniewska, eine alte elegante Dame, schmal und großgewachsen, mit hellem, fein gefälteltem Gesicht, gepflegten sommersprossigen Händen, beobachtet wortlos das Geschehen, lächelt aus ihren grüngrauen Augen, rührt das Essen nicht an. Plinsen, Fischpastete, Randensalat, Fenchelgemüse, Speckstreifen, Käsekuchen, Fleischbällchen, Kartoffelkroketten, dazu polnischer Wodka, georgische Weine, armenischer Kognak – Krys offeriert eine ziemlich bunte Palette von konkurrierenden Farben, Aromen und Konsistenzen. Ich unterhalte mich in der bewegten Runde bei häufigem Platzwechsel mit einem Pianisten, einer Mathematikstudentin, einer Zahnarztgattin, die sich im Zweitstudium mit dem jurassischen Anarchosyndikalismus beschäftigt, einem Eisenplastiker, der aus Granatsplittern von den Golanhöhen kleine Skulpturen, Armreifen und Amulette schmiedet, auch mit einer Handvoll junger Leute aus Krys’ Musikklasse. Angenehme, anregende, zugleich entspannende Stunden, die sich, während draußen Böller und Raketen krachen, bis ins neue Jahr hinüberziehn. Was soll man sich … was sollte ich mir nun noch wünschen? Wünschen! Wo doch jeder weiß, dass uns das Wünschen und selbst das viel anspruchslosere Hoffen zu nichts verhelfen … über nichts hinweghelfen wird. – Die sogenannten Feiertage sind hier einigermaßen glimpflich vorbeigegangen und auch schon ziemlich spurlos verdampft. Am schönsten war (und wird gewesen sein) Simons Besuch mit dem guten Vater-Sohn-Gespräch, offen, vertrauensvoll, mehr auf Zukunft denn auf Vergangenheit ausgerichtet – er wird sich ab Neujahr für drei Monate von der Bank beurlauben lassen, um in den USA ein Film- und Internetprojekt auf den Weg zu bringen, in das er auch eigenes Geld einbringen will. Und nun wieder – zum Einheizen, Post abarbeiten, Nach- und Vorausdenken, Musik hören – im Jura. Eiseskälte bei brillanter Himmelsbläue. Bin allein im Haus, die Nachbarn verreist, ich höre nur den eigenen Schritt, den eigenen Atem. Allzu leicht ist mir nicht, ich werde im kommenden Jahr siebzig, weit darüber hinaus reichen meine Ambitionen und Erwartungen nicht, und doch gibt es … und doch gäbe es noch manches zu tun. Ich merke schon, wie der Zeit- und Energieschwund mich mehr und mehr einschränkt, mich unleidlich, unfroh, weltscheu macht. Wofür soll einer wie ich seine Restzeit einsetzen, sie nutzen? Wenn nicht zu unmerklichem Verschwinden! Nur kein Kampf auf Leben und Tod! Kein Widerstand, kein Gegensteuern. Mit »verschwinden« meine ich zurücktreten hinter mein Geschriebenes, Getanes, vielleicht Bleibendes. Nur noch für eine Weile tun, was ich weniger gut kann, was mir aber wesentlicher ist als das Geläufige. Verschwinden heißt in solchem Verständnis – sich aus dem Leben schleichen, so wie man sich von einer Droge, einem Medikament, einer Liebe allmählich emanzipiert. Doch verschwinden wohin? Und wie wäre … wie ist denn ein Verschwinden überhaupt möglich bei der heutigen permanenten Spurensicherung durch elektronische Kontrollsysteme und soziale Medien? – Das alte (elende) Lied in deutschen Landen: Wer sich wissenschaftlich, publizistisch, also »sekundär« umtut, der kann kein ernst zu nehmender Dichter sein. In Frankreich, Italien, den USA entspricht diese Konstellation längst der Normalität, hierzulande ist sie ein Makel. Diesen Makel zu transzendieren, wird mir nicht mehr gelingen, und für die Auswanderung des poeta doctus in ein passendes Exil ist es zu spät. – Ungarn, Belarus, Russland – eklatante Beispiele dafür, dass es tatsächlich so etwas gibt wie eine Volks- oder Nationalmentalität. Seit zwanzig Jahren stehen diesen Ländern – ihren Regierungen wie auch ihren Bevölkerungen – viele Wege in die Zukunft offen; dennoch entscheiden sie sich mehrheitlich für den Weg zurück, zu den eigenen Wurzeln und Müttern: Russland wird quasiautoritär unterm Doppeladler des Zarenreichs regiert, Belarus ist eine quasisowjetische Diktatur, Ungarn eine quasifaschistische Gulaschrepublik usf. Gäbe es die Mentalitätsschranken nicht und auch nicht die jeweiligen nationalen Traditionen und Tragödien, könnten diese Staaten längst angepasst, längst modernisiert, europäisiert, also normalisiert sein. Warum ist politische und soziale Normalität derart unattraktiv, während sich sonst so vieles – Unterhaltungsindustrie, Gadgets in der Alltagswelt, Kleidung, Produktedesign, Sprachgebrauch usf. – widerstandslos hat nivellieren und unifizieren lassen? Ich lese heute in der FAZ unter dem Titel »Regierung in der Schock- Starre« einen Bericht mit Zwischentiteln wie Korruptionsskandale, Lahmgelegt, Scheinheilige Opposition, Verpasste Chancen usf. Erst glaube ich noch, einen Bericht aus und über Italien vor Augen zu haben, realisiere aber bald, dass es hier um Indien geht – ob Indien oder Italien, ob Elfenbeinküste oder Ukraine, überall herrscht gleichartiges Elend bei doch sehr unterschiedlicher Mentalität. Was zählt denn also – der Mensch oder die Leute? – Nachmittags mit Krys im Piccadilly. Michael Hanekes ›Liebe‹, ein schöner, freilich allzu gediegener Film in streng gebauten Bildern und ruhigen pastellösen Farben. Reines Kammerspiel, zu dem die Gesichter der beiden Hauptdarsteller, Riva und Trintignant, die eigentliche Bühne bilden – auf diesen Gesichtern spielt sich die schwache Handlung ab; der alte Ehemann pflegt die invalide Ehefrau, füttert und wickelt sie, unterhält sie mit Geschichten, irritiert sie mit Fragen. Alles läuft würdig und unaufhaltsam zum Ende hin, jede Geste ist absehbar und gut gemeint, selbst die Tötung der Ehefrau durch ihren fürsorglichen Mann. Die eigenen Probleme sind die einzigen Probleme, die den beiden Alten das Leben schwer machen. Während gut einer Stunde wird diese behinderte Liebe mühsam zelebriert, fast beginnt man – vor Langeweile – an die Liebe wieder zu glauben und dem Leben der alten Dame eine Chance einzuräumen. Alles tendiert zum Lethalen, dennoch wird einem der Eindruck vermittelt, es habe alles seine Richtigkeit. Aus der Langeweile – Schlurfen, Schlürfen, Mampfen, Fragen, Warten – baut sich erst allmählich eine ambivalente Spannung auf: So gut und so glimpflich kann dieses Arrangement doch auf Dauer nicht aufrecht erhalten werden – irgendetwas Unerwartetes, Abweichendes, Ernüchterndes oder Erschreckendes muss noch geschehen, denn sonst bliebe die hier vorgeführte Liebe vollends unglaubwürdig. Tatsächlich kommt es zum Ende hin zu zwei Übergriffen, die das tragische Idyll konterkarieren sollen. Da für den Zuschauer die dramaturgische Notwendigkeit, zumindest die Wünschbarkeit einer solchen Korrektur nach allzu langem Zuwarten auf der Hand liegt, bleibt dann aber die Überraschung aus. Der Mann schlägt die sterbende Frau plötzlich ins Gesicht, nachdem er sich vergeblich bemüht hat, ihr mit einer Schnabeltasse Wasser einzuflößen; und eben dieser liebende Mann erzählt seiner Frau, am Bettrand sitzend, von einer frühkindlichen Erkrankung und von Schulproblemen – es ist eine traurige Geschichte, die Frau will oder kann sie nicht hören, sie zeigt keinerlei Reaktion, gibt nur hin und wieder ein Röcheln von sich, bis sich der Alte abrupt zusammenreißt, sich über sie wirft, ihr das Kissen aufs Gesicht drückt, sich mit ganzem Gewicht, als wollte er sie vergewaltigen, auf sie legt, bis sie nach einigen Zuckungen kein Lebenszeichen mehr gibt. Insgesamt drei Minuten – die Ohrfeige, die Ermordung – investiert Haneke, um die lange Weile dieser Liebe aus der Kontinuität in die Intensität überzuführen. Für die Glaubwürdigkeit des Plots reicht das aber, wie ich finde, nicht aus. Kaum etwas an dem Film ist zwingend, auch nicht, dass es ihn gibt, dass er gemacht wurde – Plot und Anliegen und sämtliche Dialoge bis hin zu den Geräuschen wären eigentlich besser aufgehoben gewesen in einem Hörspiel. Vollends bleibt mir rätselhaft, wie dieser Film … wie ein solcher Film zu solchen Ehren kommt? Haneke heimst nahezu alle großen Preise ein, wird weltweit gefeiert, obwohl er doch quer zu allem steht, was derzeit im Kino gefragt ist – kurze Szenen, rasche Schnitte, verluderte Sprache, Special effects, Sexyness, Dynamik und Spannung. Was wird da also abgegolten? – Bin um halb drei Uhr früh aufgewacht … geweckt vermutlich von der ungewöhnlichen nächtlichen Stille. Im schwarzen Fenster steht mein Spiegelbild, dahinter – oder davor – seh ich, erhellt vom Innenlicht, den Schnee in dichtem Fall, ein feines, leicht wehendes Treiben, das nun scheinbar vor meinem Gesicht durchzieht. Das wird die weiße Premiere dieses Winters gewesen sein. Im heraufdämmernden Morgenlicht – jetzt – sehe ich den Schnee in dicken Kissen herumliegen, darunter die geduckten Büsche und Hecken. Der alte verkrüppelte Apfelbaum schräg gegenüber meinem Hauseingang, mein Lieblingsbaum, den ich immer gern als »meinen« Baum bezeichnet habe, liegt als ein unförmiger Haufen von Totholz auf dem Gehweg – vom Schnee auseinander gerissen, der wuchernde Efeu, der ihn umrankte, hat ihn nicht halten können. Ein feuchter Föhn setzt ein, in Kürze wird die erdrückende Schneemasse verschwunden sein, und die Dorffeuerwehr wird die Baumruine weggeräumt haben. – Ich bin in die Universalgeschichte so lange schon involviert, dass ich mich an jene ferne Zeit erinnern kann, da es hierzulande noch keine sogenannten Fremdarbeiter gab und man in den Straßen fast ausschließlich den heimischen Dialekt zu hören bekam. »Hochdeutsch« galt demgegenüber, obwohl es Amtssprache war, als eine Art Fremdsprache, die man obligatorisch zu lernen, aber nur schriftlich zu verwenden hatte. Ich bin in der Grenzstadt Basel zwischen Schweizerdeutsch und Hochdeutsch zweisprachig aufgewachsen, die andern Sprachen kamen mit den Fremdarbeitern, die irgendwann zu Gastarbeitern mutierten und die hiesige Alltagswelt um den Sprachklang des Italienischen, Spanischen, Portugiesischen bereicherten, bevor mit der politisch bedingten Immigration aus Ungarn und der Tschechoslowakei weitere Fremdsprachen hinzukamen. Heute scheinen die Fremdsprachen, angeführt von der Allerweltssprache Englisch, insgesamt zu einer hybriden Landessprache geworden zu sein, die von albanischen Fußballprofis wie von chinesischen Alternativmedizinern gleichermaßen praktiziert wird. Nicht nur für die alltägliche Verständigung, auch bei Behörden oder in den Medien reicht diese defizitäre, völlig deregulierte Sprachverwendung problemlos aus, Grammatik und Syntax (und selbst die Lexik) müssen nicht mehr »beherrscht« werden, um Verständlichkeit herzustellen. Die Sprachvermischung geht mit dem Sprachverfall einher – die Fremdsprachen fallen der Primitivisierung und Auspowerung ebenso anheim wie die Landessprachen und deren zahlreiche Dialekte: Differenzen werden begradigt, regionale und lokale Eigenheiten verschliffen, Anpassung und Austauschbarkeit werden weit höher veranschlagt als die Spezifizierung und Unverwechselbarkeit des Sprachgebrauchs. Korrekt nach Duden oder Lehrbuch zu sprechen und zu schreiben, ist kein Interesse mehr, gilt als obsolet. Die Hybridisierung der Sprachkultur hat unter den Bedingungen der Globalisierung dazu geführt, dass »die Sprache« als nivelliertes mehrsprachiges Medium »die Sprachen« in ihrer Einzigartigkeit wie auch in ihrer jeweiligen Vielfalt mehr und mehr verdrängt. In der Straßenbahn, im Straßencafé höre ich heute meine Muttersprache nur noch in ihrer grobschlächtigen Zurichtung als Fremdsprache. – In Israel hat man eine Handvoll menschlicher Zähne gefunden, deren Alter auf vierhunderttausend Jahre geschätzt wird; es soll sich um die die ältesten Überreste des Homo sapiens weltweit handeln, weit älter als alles, was es bisher an Rest- und Trümmerstücken frühester Menschen gegeben hat. Konkrete physische Zeugnisse, die Hunderttausende von Jahren überdauert haben! Was sind, verglichen damit, die Spuren, die wir im Internet hinterlassen haben werden! – Unsentimentale Silvesternacht. Bin allein daheim, lesend, schreibend; im Kamin das Feuer, im Haus weder Stimmen noch Schritte, ab und zu ein Knacken im Gebälk; draußen kaum ein Feuerwerk, dafür die kalte funkelnde Pracht des mitternächtlichen Himmels. Auf sechsundachtzig TV-Kanälen laufen derweil die Silvesterprogramme – hier findet der globale Schwachsinn zu einem einzigen Generalprogramm zusammen, das zwischen Moskau und Rio und Kapstadt ein Milliardenpublikum erreicht und zur ungefähren Menschheit zusammenschließt. Für heute reicht’s. Kurz vorm Jahreswechsel – gerade eben – ruft Krys aus München an, Simon Morris aus New York, Galina Kubarskaja aus Moskau. Als es vom Kirchturm zum zweiten Mal zwölf Uhr schlägt, bin ich – nun also im neuen Jahr – schon unterwegs zur Quelle im nahen Wald. Die Nacht steht schwarz in der eisigen Kälte. Ohne meine Stirnlampe käme ich nicht weit. – Ein – soweit ich mich erinnere – sehr kurzer Traum diesmal, aus dem ich gerade erst erwacht bin, nachdem mir E. G. in der Person von E. K. lachend gedroht hat: Warte nur, wenn einst alle Wörter sich zusammengerottet haben und aus ihnen wieder Gott geworden ist – dann bist auch du dran! Eine kleine private Apokalypse? Lauter Wörter … nichts als Wörter, die sich zu dem verdichten, was Alles und zugleich Eins sein soll! Auch eine Prognose. – Im Gespräch mit Krys geht es wieder einmal um den Menschen und beiläufig auch um uns selbst … um die Frage, weshalb und wozu wir gegenüber allen andern Tieren, gegenüber der Pflanzen- und Dingwelt so herausragend sein sollten, so besonders wertvoll, so schützens- und bemitleidenswert? Wert! Das Bewusstsein, das Selbstbewusstsein, die Sprache als uneinholbarer Mehrwert? Aber Sprache und Bewusstsein sind doch der Grund für unsere Uneigentlichkeit, dafür, dass wir nicht selbst in der Welt sein können, sondern immer nur in Bezug auf sie; dass wir immer Unterschiede machen, Vergleiche und Vermutungen anstellen müssen, um der konkreten Welt näherzukommen … der Welt näherzukommen und beim Näherkommen aber bloß feststellen, dass wir zwar irgendwie drin und dabei sind, dass wir hier anwesend sind und … aber ohne anwesend zu sein. Wie der Stein. Wie der Baum. Wie Luft.

Abends

Was Ich am Ende beklagt, ist das, was Es im Anfang war.

(Das Buch, das noch ein Weilchen weiterflattert zwischen den Schläfen.)

Mag sein, das alles ist bereits zu viel gesagt.

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