31. Januar

Habe in Nachtschicht am Roman gearbeitet, zwei Schritte vor, ein Schritt zurück, bin erstaunt und irritiert, dass die Schreibbewegung keinen Schwung gewinnt, obwohl ich doch in jüngster Zeit mehrere erzähltechnische Probleme – etwa den Wechsel zwischen erster und dritter Person des Protagonisten, der als Subjekt wie auch als Objekt der Berichterstattung auftreten soll – bereinigen konnte. Doch vielleicht weiß ich nun bereits zu viel, um weiterhin suchend und erfindend schreiben zu können? Denn schreiben heißt ja nicht bloß, dass man … dass ich Gefundenes beschreibe, Begriffenes umsetze. Das Schreiben selbst ist ein Suchvorgang, der nicht Funde, sondern Erfindungen hervorbringt. – Ich werde … ich muss ›Alias‹ in dieser Phase seiner Entstehung radikal umbauen, das erste Kapitel (Bergers Tod) kommt an den Schluss, ein Zwischenstück wird gestrichen, doch diese Maßnahmen bedingen auch viele Detailkorrekturen. Kärrnerarbeit. Und dabei werde ich auch noch gestört durch abrupt hereinbrechende Ideen zu andern … zu ganz anders gearteten Projekten; oder mal wieder, bei dieser Ungelegenheit, zu einem Gedicht: Was keinen Duft und keinen Klang hat
aaaaadas hat vielleicht Bugform. Ist
aaaaavielleicht so etwas wie Hunger wie Mutter wie
aaaaaein Nu. Ist wie alles Vollkommne
aaaaavergeblich genug. Selbander wäre ein anderes
aaaaaBeispiel dazu. Wo die Luft nun
aaaaaschon viel herzlicher atmet. Ein und aus.
aaaaaEin und
aaaaa– aus!
– Komische … tragikomische Frage: Was wäre aus mir geworden, wenn ich Balz Kussmaul geheißen hätte, oder Fritz Würmli, oder Götz von Ficker? Zu schweigen von Thomas Mann! Der Eigenname ist Bestimmung, ob man’s mag oder nicht. Eigenname? Immer fremdbestimmt! Wer wählt schon seinen Namen selbst? Ausser dem Untergrundkämpfer, dem Heiratsschwindler, der einen oder andern Opernsängerin, dem Papst! – Ich soll eine Radiodiskussion über Lewis Carroll moderieren. In einem engen lärmigen Raum findet zwischen vielen zirkulierenden Leuten die Vorbesprechung statt – welche Fragen in welcher Reihenfolge angegangen werden sollen, wie viel Zeit man der Biografie, dem Werk, der Wirkung des Autors widmen soll, ob man zwischendurch Kurzlesungen einblenden soll usf. Ich vermute, wir befinden uns auf einem Schiff, Wände und Mobiliar sind aus billigem Material … sind aus Spanplatten, aus Styropor, aus Bakelit gefertigt, altmodisch und abgenutzt. Lange werden die Mikrofone justiert, keiner weiß so recht, was zu tun ist und wann die Sendung beginnt. Ich habe mir meine Statements und Fragen zurechtgelegt, bin ungeduldig angesichts der Verzögerungen und Ungewissheiten. Kurz bevor das Gespräch endlich beginnt, werden wir zum Aufbruch gedrängt, eine lange Wanderung mit dem Besuch einer Burg ist vorgesehen. Auf einem schmalen und kurvenreichen Weg mit vielen Treppen und Brücken bewegen wir uns in unabsehbar langer Kolonne nach oben, derweil uns ein ebenso endloser Strom von Wandervögeln entgegenkommt. Irgendwann verliere ich den Kontakt mit unsrer Gruppe, bleibe allein mit Peter Huchel zurück, und gemeinsam müssen wir nun auch schon an die Rückkehr denken. Ich bin desorientiert, habe keine Ahnung, wo wir sind. Huchel scheint sich besser auszukennen. Verspätet erreichen wir den Bahnhof, können aber unsre Rückfahrkarten nicht mehr finden, müssen also einen Ticketautomaten suchen, während uns die Zeit davonläuft. Ich will meinem Begleiter und Retter das Ticket finanzieren, zwanzig Euro, habe aber nicht genug Cash dabei. Suche im Gedränge des Bahnhofs vergeblich nach einem Wechselgeldautomaten, bis mich jemand durch die getönte Scheibe eines geschlossenen Schalters heranwinkt. Ich gehe hin, der Schalter wird geöffnet, ich sehe mich einer Dame mittleren Alters gegenüber – elegant, mit hochgestecktem Haar, südländischer Typ; sie lacht mich an, nennt viel zu laut meinen Namen, so dass die Umstehenden wie ein Mann ihre Köpfe zu uns wenden. Ich brauche dringend hundert-, zweihunderttausend Euro, lege meine Kreditkarte in den Drehteller unter der Panzerglasscheibe. Die Frau prüft die Karte mit einem zangenförmigen Spezialgerät, es gibt offensichtlich Probleme, die Karte muss ausgetauscht werden. Ich bekomme dafür einen winzigen Chip, kleiner als mein kleinster Fingernagel, entsprechend schwierig wird er aufzubewahren sein, und umso leichter werde ich ihn bei nächster Gelegenheit verlieren. Erst nach der Auszahlung realisiere ich, dass ich mit den großen Geldscheinen eigentlich gar nichts anfangen kann – kein Ticketautomat nimmt Tausendeuroscheine an. Da stehe ich nun … da stehen wir und können nicht weiter. Ob wir auf gut Glück den wartenden Zug besteigen? Uns als blinde Passagiere im Postwagen verstecken? Unsre Namen und Papiere tauschen? Doch Huchel sitzt ja bereits im Cockpit, hantiert mit präzisen Gesten an der Armatur, wir sind startklar. Kaum klappt die Luke hinter mir zu, heben wir ab. – Das war ein gutes und schönes Gespräch mit dir, liebe Krys, und du warst es auch – schön und gut. Mein Zug ging bald danach ab, und doch brauchte ich rund fünf Stunden (statt achtundfünfzig Minuten) für die Rückfahrt nach Zürich. Ich war sogar noch einmal kurz in Basel, am gleichen Bahnsteig, wo wir uns verabschiedet haben. Grund: Unterwegs auf freier Strecke gab es bei friedlicher Fahrt plötzlich eine Notbremsung, ein hässliches Rumpeln unter den Rädern, und ein paar Minuten danach kam über den Lautsprecher die Stotternachricht, es habe »leider einen Unfall … einen Personenschaden« gegeben, man bitte um »ein wenig Ge-Geduld« usf. Eklatante Hilflosigkeit des Personals, völlig unzureichende, auch missverständliche Anweisungen und Maßnahmen. Nach anderthalb Stunden Wartezeit ohne weitere Informationen wurde ein Entlastungszug angekündigt, worauf die Reisenden – alle wie ein Mann – naturgemäß zu den Ausgängen stürmten, aber nur, um dort noch einmal eine Stunde, meist stehend und bei verriegelten Türen, warten zu müssen. Am Bahndamm fuhren zwei Polizeiwagen mit Blaulicht und ein Krankentransporter vor. Endlich kam der »Noteinsatzzug«, hielt auf dem Nebengleis an, und durch eine einzige Tür mussten nun sämtliche Passagiere … mussten wir nun alle über eine schmale Falltreppe hinübersteigen. Schulter an Schulter, Hüfte an Hüfte gedrängt wurde man wie in einem Viehtransport zurück nach Basel verfrachtet und dort kommentarlos entlassen. Knapp erreichte ich dann doch noch den letzten Zug nach Zürich, von wo ich dich ab iPod grüße. Herzlich wieder dein. – Mein bestes Buch könnte mein zweites Leben sein und … aber mein bestes Buch werde ich zeitlebens nicht schreiben. – Der größte Schwachsinn ist nicht bei Idioten und Komikern zu finden, sondern bei den Geistesgiganten – Arthur Schopenhauer (über Frauen und Kollegen), Fjodor Dostojewskij (über Juden, Polen, Sozialisten, Protestanten), Friedrich Nietzsche (über Christentum, Frauen, Wagner), Lew Tolstoj (über Kunst, Ehe, Sex), von einem winzigen Giganten wie Peter Handke (über Jugoslawien, Frauen, Freunde, sich selbst) zu schweigen. – Lesung in Sihlcity, volles Sälchen in der Pestalozzibibliothek, Moderation von Christine Lötscher; ich trage eigene Gedichte vor, ergänzt durch Übersetzungen aus meiner geplanten Anthologie russischer Lyrik (zweisprachig). Gute Diskussion. Pablo Meier ist da, Rolf Winnewisser, David Philip Hefti. Danach hinaus in die schneedurchwehte Nacht, eine Straße weiter zum Drink mit Yvette Sánchez und Simon Morris. – Tun, was man kann! Täte jeder, was er kann, es wäre des Guten zu viel. Das mag der Grund dafür sein, dass so manche Zeitgenossen – wie ich übrigens auch – fast durchweg unter ihren Möglichkeiten bleiben. Davon ausgenommen ist bei mir nur das Gedicht; nur im Gedicht bin ich ganz bei mir und bin zugleich auf einsamer Höhe – will sagen: Das Gedicht ist das Einzige, was ich wirklich kann … das Einzige, was nicht auch jemand anderes fertigbrächte. Ruhig atmen, langsam gehn in dünner Luft. Dann ausatmen. Nicht mehr atmen. Liegen bleiben. Nun erhebt sich das Gedicht, hebt ab, lässt mich zurück, ist zu lesen: »Was ich geschrieben habe, habe ich nicht.« – Eine selten rapportierte, als »wahr« behauptete Anekdote über den russischen Philosophen und Literaten Wladimir Solowjow findet sich beim Fürsten Jewgenij Trubezkoj, der von seinem verstorbenen Bruder Sergej Trubezkoj einst Folgendes berichtet bekam: Der extrem kurzsichtige Solowjow sieht auf dem Tisch vor sich in einer schlanken Glasvase einen leicht geneigten Zweig, an dessen äußerstem Ende ein bemaltes hölzernes Osterei befestigt ist. Sogleich kommt er ins Schwärmen über die Schönheit dieser »herrlichen Waldrose«, und mehr als das – er beginnt dazu (was er vor Gästen gern und häufig tut) ein Gelegenheitsgedicht zu improvisieren, das nun also im Prozess des Vortragens entsteht und das naturgemäß die Rose, also die Illusion zum Gegenstand hat, und nicht etwa das hier und jetzt konkret vorhandene Holzei. Das meine ich, wenn ich sage, das Gedicht beginne stets mit einem Wort, einem Namen und nicht mit einem vorgegebenen Thema, einer bestimmten Erinnerung, einer persönlichen Erfahrung; das Wort hier ist »Waldrose«, und eine Waldrose kommt in der kleinen Szene tatsächlich nur als Wort, nicht als Blume vor. Die Anekdote … das poetologische Potential dieser Anekdote wäre weiterzuentwickeln. – Der Tag war klar und blau, sehr kalt, mit viel Sonne. Jetzt gegen Abend trübt er sich ein. Im nackten schwarzen Gezweig vor meinem Fenster hocken, weit voneinander entfernt, zwei aufgeplusterte Meisen und piepsen jämmerlich gegen die einfallende Dämmerung an. Die Straßenlaterne leuchtet auf, und durch die kegelförmige Lichtreuse unterhalb der Blende fällt plötzlich wieder Schnee, zunächst in vereinzelten zögerlichen Flocken, jetzt bereits in dichter Formation. Die torkelnden weißen Partikel sind vom Kunstlicht gelblich eingefärbt.

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