31. Mai

Zwischen »Machen« und »Haben«, »Wollen« und »Nutzen«, Leistung und Besitz liegt – was außer der Sexualität auch viele andere Lebens- und Erfahrungsbereiche betrifft − ein evolutiver Dreh, der einer Transformation des Humanen gleichkommt. Der sexuelle Leib, der weibliche wie der männliche, wird zunehmend in ein technisches Objekt verkehrt, wandelt sich bei zunehmender technogener Nähe und gleichzeitig abnehmender körperlicher wie emotionaler Präsenz zu einer steuerbaren, erneuerbaren, erweiterbaren Apparatur, die mehr und mehr vereinnahmt wird durch medizinische, kosmetische, prothetische Ein- und Übergriffe. Der einstmals weltbewegende Slogan »Mein Bauch gehört mir!«, vor dreißig-vierzig Jahren bei Frauendemonstrationen hochgemut und trotzig als Emanzipationsdevise proklamiert, nimmt sich heute naiv aus und wirkt fast schon romantisch angesichts der jüngsten Errungenschaften der Fortpflanzungsmedizin. Die wissenschaftlich-technische Instrumentalisierung menschlicher Sexualität reicht von Samenbanken über In-vitro-Befruchtungen bis hin zu postmenstrualen Leihmüttern, sie verhilft libidoschwachen Männern mit Potenzpillen, ebensolchen Frauen mit Testosteronpflastern zum Orgasmus, sie nimmt primäre und sekundäre Geschlechtsorgane in die kosmetische Kur, unterfüttert schlaffe Brüste neu, hübscht ungefällige Schamlippen auf. Cloning und Doping sind zu Spitzentechnologien avanciert, ebenso die Roboter- und Prothesenherstellung, die plastische Chirurgie, nicht zuletzt Telematik und Informatik, die nebst globaler Partnersuche und Dirty-chatting neuerdings – im Virtualbereich des Internet – die Eigenkonstruktion eines Second Life ermöglichen, etwa die Einrichtung imaginärer Harems oder Bordelle, wo ich, ganz »man« geworden, beliebig modellierte Partnerinnen oder Partner zu Sexparties aufbieten kann und wo ich selbst – wie du oder Sie – als Sexuser, Sexteilnehmer, Sexobjekt usf. zugange bin. In der Verlängerung dieser vorerst noch virtuellen Perspektive zeichnet sich bereits der Horizont ab, an dem es zu einem Kippeffekt zwischen Realität und Virtualität, aber auch zwischen Rationalität und Phantasmagorie kommen wird. Der russische Erfolgsschriftsteller Wiktor Pelewin sieht – in seinem Roman ›Der Schreckenshelm‹ – an jenem Kipppunkt »die pure künstlerische Freiheit« aufdämmern, aus der Junggesellen- und Alphamädchenmaschinen jeglicher Bauart erwachsen können: »Das war es ja gerade: Die pure künstlerische Freiheit, aber so was von überzeugend, man brauchte nur einmal hinzuschauen und wusste: Sollte Rolls-Royce je auf die Idee kommen, ein SUV zu bauen, dann muss es werden wie das dort aufgemalte, etwas anderes lässt der Druck der Ereignisse gar nicht zu. Das Ding war ganz aus Gold und Stahl, eine überdimensionierte Juwelieruhr. Es eindrucksvoll zu nennen wäre stark untertrieben. Wenn, sagen wir, das teuerste Brillantencollier der Welt sich von einem Space Shuttle ein Kind machen lassen könnte, dann sähe das nach Eintritt in die Geschlechtsreife etwa so aus.« Doch man braucht sich weder an die Front des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zu begeben noch an den Kipppunkt zur telematischen Utopie, um zu realisieren, dass Liebe und Sexualität schon heute unter gänzlich andern qualitativen Standards ausgelebt werden als noch vor einer Generation. Was damals Zukunftstraum oder auch Horrorvision war, hat sich seither ohne merkliche soziale Verwerfungen weitgehend normalisiert. Dass weithin im Internet nicht nur der Lust- und Liebesmarkt, sondern auch die Kinderpornografie boomt; dass man eigene Sexpraktiken nicht nur mit der Videokamera oder dem Handy aufzeichnet, sondern sie auch über Youtube öffentlich macht; dass manche Besserverdienende und Höhergestellte dem Mittagslunch eine kurze SM-Session vorziehen; dass sich Studentinnen als Callgirls oder als Begleitdamen lukrative Nebenjobs verschaffen; dass immer mehr Beziehungen als unpersönliche Cybersexkontakte (mit Datenhandschuh oder Ganzkörperdatenanzug) gesucht und gepflegt werden – all dies ist Teil der Alltagswelt geworden und hat Sexualität zu einem kontrollierbaren Gut mit marktbedingtem Preis werden lassen. Im WWW sind zur Zeit ca. 350 Millionen Sexangebote aller Art abrufbar. Nie zuvor war Sex in so vielen Erscheinungsformen, Aktionsarten und Signifikanten so präsent wie in heutigen Chatrooms, Schulzimmern, Wellnesszentren, Sportanlagen, Familienherbergen, Castingshows, Misterwahlen, Ratespielen, Werbekampagnen; und noch nie war Pornografie für ein so breites Publikum so leicht erreichbar – einschlägige Filme, Clips oder Stills gibt es, auch Kindern problemlos zugänglich, im Internet, dazu entsprechende Kontaktmöglichkeiten und konkrete Sexangebote. Sänger wie Bushido oder Sido treten mit härtesten Pornotexten vor jubelnden Fans auf. Nachdem die großen Liebesmythen verdampft und die kleinen romantischen Bedürfnisse obsolet geworden sind, scheint den Internetsexuser vor allem die Geschlossenheit – bei gleichzeitiger Geheimnislosigkeit – des Pornopanoptikums zu faszinieren, das heißt dessen Anspruch beziehungsweise dessen Angebot, alles zu sein und alles zu zeigen und alles anzubieten. – »Alles in doppelter Hinsicht«, wie Frank Böckelmann unlängst in einem argumentativ starken Essay über ›Sex und das Schweigen‹ dargelegt hat: »Die ganze, komplette, nichts aussparende Sexualität, deren Präsenz immer direkter, nackter, deutlicher und brutaler wird, und zugleich das pure, reale, eigentliche Ereignis, das den Teilnehmer virtuell davon entbindet, noch hinauszutreten und persönlich und körperlich tätig werden zu müssen. Hier hat der Teilnehmer das Spiel der Verführung endgültig hinter sich gelassen. Er ist im Reich der absoluten sexuellen Selbstgenügsamkeit angelangt, in der Sphäre der körperlosen Exzesse, wo seine Computerexistenz dereinst, wenn sich die digitale Technik vervollkommnet hat, den größten Teil der Tageszeit wird verweilen können.« Und weiter im Text: »Man mag den Tastendrucksex als platt und eindimensional und steril verachten, sollte dabei aber bedenken, dass er eine Parallelwelt darstellt, die nicht mehr abzuschalten ist. Man mag ihn als Erniedrigung des Menschseins fürchten, sollte dabei aber wissen, dass er nur vortäuscht, obszön und erschütternd zu sein. Er reduziert das Liebesspiel auf das Sichtbare und parodiert es auf diese Weise.« – Die Einsätze in diesem Spiel sind die Lebenszeit und das Medienbudget, aber nicht das Schicksal. Sexy – zu deutsch »geil« – ist derzeit alles, was »Spaß macht« und außerdem materiell »etwas bringt«. Sexyness ist deshalb auch das, was von aller Werbung unbedingt »herübergebracht« werden muss. Sexy kann, sexy soll eine Waschmaschine ebenso wie ein Sportwagen sein, die jeweils jüngste Duftlinie ebenso wie das jeweils neueste Notebook oder der teuerste Turnschuh. Wer Sex hat, dem bleibt – wie das Wort selbst, auf Einsilbigkeit reduziert, es klar macht – bloß noch ein Stummel von dem, was Sexualität einst gewesen ist und bedeutet hat. War Sexualität über lange Zeiten hin mit den Registern Spiel, Verführung, Lust, Verschmelzung, Orgasmus dotiert und galt (neben der kreativen Ekstase) als die einzige naturgemäße Möglichkeit, »außer sich« zu sein, so scheinen heutige Sexteilnehmer eher »in sich« zu gehen, rational und cool sein zu wollen, Risiken und Nebenwirkungen (vor allem die Zeugung) zu meiden, möglichst rasch und möglichst unaufwendig zur Sache zu kommen, möglichst wenig Emotionalität zu investieren, mithin das sexuelle Tun nicht mehr vorrangig als wechselseitige sinnliche Erfahrung, sondern als willkürlichen Zeichenaustausch zu begreifen, Sex also konsequent aus der Biosphäre in die Semiosphäre überzuführen. Der aktuelle sexuelle Triumph – oder soll man sagen: Trumpf?! – liegt bei Onan, nicht bei Aphrodite. Die zunehmende technologische Vereinnahmung des Körpers verdrängt dessen psychophysische Bedingtheiten und Möglichkeiten (Alterung, Krankheit, Selbst- und Präsenzerfahrung) zugunsten seiner Neuinszenierung als Image (Model, Roboter, Avatar, Sexpuppe, digitaler Golem etc.), drängt ihn also ab in eine Zeichenwelt, die von der sensuell erfahrbaren Wirklichkeit weitgehend getrennt ist. Wenn demgegenüber ein mäßig amüsantes Buch wie Charlotte Roches ›Feuchtgebiete‹, das unter anderem die ganz gewöhnlichen Dreckeffekte sexuellen Tuns und Lassens vor Augen führt, zu einem fulminanten Publikumserfolg werden kann, ist das womöglich ein Beleg dafür, dass die von der Alltagswelt abgehobene, in den aseptischen Raum des WWW verwiesene Sexualität den viel niedrigeren Ansprüchen körperlichen Begehrens letztlich ebenso wenig genügen kann wie den viel höheren Ansprüchen eines ethisch oder religiös fundierten Erotismus. − In einem elegischen ›Prolog mit Vierzig‹ hat schon vor mehreren Jahren der Versdichter Armin Senser die globale Verfügbarkeit, auch die Geheimnislosigkeit und Austauschbarkeit sexueller Angebote wie folgt auf den Punkt gebracht: 2004 ist man, mit allem, was man liebt, kaum mehr allein.
aaaaaDas liegt auch am Entweder-oder, das den String
aaaaaund das Kopftuch für dasselbe hält.
aaaaaOder anders gesagt: geht man einander nicht an die Wäsche
aaaaaoder schaut sich nicht in die Augen, ist der Grund entweder
aaaaaTabu oder Toleranz, alles andere wäre Ignoranz.

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