4. Februar

Die Rosenfingrige ist kein Witz, auch kein Wunschtraum – sie war schon da, als ich kurz nach sieben in der Früh auf den Balkon hinausging und mich vom unsteten Föhn packen ließ. Tatsächlich packend: Die Stadt und der gegenüber liegende Üetliberg präsentieren sich wie eine blinkende Spielanlage, jedes einzelne Haus ist scharfkantig aus dem zwielichtigen Tag gesägt, der Föhn hat alles ausgefegt, alles wirkt wie neu, sehr klein, sehr nah, zugleich sehr fern. Darüber hängen, kaum merklich wogend, zarteste Farb- und Wolkenschlieren, der gesamte restliche Himmel überm Berg ist fein ausgemalt mit einem nie gesehenen, auffallend warmen Rosa – es ist ein blasser roter Hauch, durchwirkt von bläulichen und hellgelben Tönen, ein großes Rosa, das eigentlich einen andern … einen eignen Namen bräuchte. Lang hält es nicht an. Die scharfe Zeichnung der Dingwelt beginnt schon wieder zu verschwimmen, wieder scheint eins ins andre überzugehn, und bald gehört alles in hässlicher Eintracht zusammen wie eh und je. Aber wer war sie denn nun, diese Rosenfingrige? So unverwechselbar und doch so heutig! – So viele Abschiede! Der Abschied ist bei mir ein kontinuierliches, nicht nur ein punktuelles Ereignis – besonders markant der frühe definitive Abschied von meinem Bruder, später von zwei besten Studienfreunden, Abschied von Jugendträumen, Hoffnungen, guten Vorsätzen, Illusionen, Abschied von liebgewordenen Orten und überhaupt von Liebgewordenem, Abschied von Überzeugungen und andern Gewissheiten, Abschied von Frauen, von Verwandten; usf. Zeitweilig hab ich das ständige Abschiednehmen und Verabschieden als Verhängnis, dann wieder als Provokation empfunden – das Leiden daran ist vor zwei, drei Jahren sozusagen über Nacht geschwunden, als mir plötzlich klar wurde, dass ich bei keinem meiner zahllosen Abschiede jemals an die Ankunft gedacht hatte. Anzukommen war nie mein Ziel, abzufahren … abzutreten auch nicht; aber unterwegs zu sein. Unterwegs bin ich mir selbst – unausweichlich – am nächsten; nicht nur angenehm. – Lesung im Centre Culturel Suisse in Paris; Gedichte – französisch und deutsch – aus dem Band ›De nature‹, dazu neuere Lyrik aus ›Wortnahme‹. Fünf Hörerinnen und Hörer, dazu drei Angestellte des CCS sitzen oder stehn verstreut in dem kleinen Raum, von dem aus man durch ein großes Schaufenster direkt auf den Gehsteig und auf die Straße hinaus sehen kann. Fußgänger, Autos, Busse zirkulieren unentwegt in beiden Richtungen, der Straßenlärm ist ohrenbetäubend, das Lesen … die Konzentration auf den Text ist so gut wie unmöglich. Und da nach der Veranstaltung niemand eine Frage hat, verabschiede ich mich rasch, besteige den erstbesten Autobus und lasse mich im Oberdeck durch die Stadt zur Endstation fahren. Auf meiner Sichthöhe strömen unzählige Leuchtreklamen, die über den Schaufenstern angebracht sind, als bunt wogende Fließschrift vorüber – Labels, Icons, aus Neonröhren gewundene Firmennamen, russische, englische, iranische, chinesische, kroatische, moldawische, arabische, zum geringeren Teil auch französische Schilder. Auf den Knien halte ich mein Heft, skizziere die eine oder andere Straßenszene, das Profil einer verschleierten Muslimin, beobachte, wie die große fremde Welt an mir vorbeizieht, mich hinter sich lässt. Spontan halte ich vorüberflitzende oder beiseite gesprochene Wörter fest, um sie später zu Versen und Strophen zu gruppieren. An der Endstation hinter dem Bois de Boulogne steige ich aus, vertrete mir die Füße, besorge mir einen Punsch. Mit dem nächsten Bus fahre ich ins Quartier Latin zurück. – E. M. Ciorans ›Hefte‹ gehören – wie jene Paul Valérys – zu der Sorte dichterer Texte, die ich nicht durchlesen mag, in denen ich aber (ich nutze sie als Handbücher, als Nachschlagewerke) immer mal wieder blättere. Gerade lese ich bei Cioran – sein mehr als tausendseitiger Band kommt mir beim Umräumen zufällig unter die Hand – diesen Eintrag: »Wassilij Rosanow – mein Bruder. – Er ist zweifelsfrei der Denker, nein, der Mensch, mit dem ich die meisten Berührungspunkte habe.« Ein seltenes, ein bisher nicht beachtetes, vielleicht ein singuläres Zeugnis für Ciorans ansonsten schwach ausgeprägte Fähigkeit der Bewunderung, der Verehrung sogar. Doch was hat er von Rosanow gelesen? Lesen können? Und in welcher Sprache? Denn weder französisch noch deutsch (und nicht mal russisch) lag dessen umfangreiches Werk damals in einer auch nur annähernd repräsentativen Ausgabe vor. War es Cioran bewusst … konnte Cioran wissen, dass sein »Bruder«, zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Wortführer der intellektuellen Rechten in Russland, zu den aggressivsten, den »zoologischen« Antisemiten seiner Zeit gehörte? Konnte er erkennen, dass eben dieser Autor einer der brillantesten russischen Stilisten und originellsten Literaten seiner Zeit war? Erkennen konnte er’s wohl nicht, doch diese Affinität hat er sicherlich richtig erfühlt. – Olymp. Über all den Sterblichen nichts mehr
aaaaawas glänzt. Ein schmutziges
aaaaaBlau anstelle der lichteren Götter.

aaaaaÖfter jetzt Fluchten und Lachen. Ja …
aaaaa… ach die Verluste ins Wollen.
aaaaaDas Restsoll glimmt im Gemeinen.

aaaaaNie kein Glaube wo das Schweigen
aaaaabricht und nichts zu kriegen
aaaaawenn die Sage geht.
(Sag nichts dagegen, gewiss, du kannst alles widerlegen, aber zum Schluss ist gar nichts widerlegt. Du zitterst jahrelang wegen der Ungewissheit, fragst dich, wie du das Aussichtslose überhaupt hast wagen können, hoffst aber doch, dies jedenfalls ist der Eindruck, der sich jetzt, da du mir manches erklärt hast, so ein bisschen verfestigt, ist mir doch klar, dass … und nach vielen Jahren, vielleicht dann in deiner Altersverrücktheit wirst du erfahren, wer wen widerlegt hat und aber auch, wie unwichtig das alles gewesen sein wird und dass ohnehin alles verloren ist und dein Leben so gut wie ohne Gewicht ist, zu leicht für die Erde.) Denn dieser
aaaaagroße Hof steht offen
aaaaadamit niemand ihn betritt. Derweil
aaaaagehn Regen fressen die
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadie’s wissen. Und
aaaaaaber alles – versteht sich –
aaaaaist am besten für immer auf Fehler gebaut.

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