5. Februar

Gestern um zehn Uhr abends zu Bett, vier Stunden Schlaf, traumlos, dann wach bis acht. Im heutigen ›Tages-Anzeiger‹ findet sich eine Kolumne unter dem provokanten Titel »Krieg den Anglizismen!«. Beklagt wird hier – wie anderswo auch – das Überhandnehmen eines globalen, nach Aussprache, Grammatik und »Wortschatz« defizitären englischen Idioms, wie es allenthalben von Fußballtrainern, Eisprinzessinnen, Spitzenköchen, Bankangestellten, Blumenverkäuferinnen, Tenniscracks, Schönheitsköniginnen, Slampoeten, Slalomspezialisten, Politikberatern, Armeesprechern und Supertalenten aller Sparten, aber auch von minderen Zeitgenossen wie du und ich praktiziert wird. Noch beklagenswerter sei die Tatsache, dass außerdem »unsere Landessprachen und Dialekte« mehr und mehr von englischen Begriffen und Redewendungen imprägniert werden, was nicht allein zur »Überfremdung unserer althergebrachten nationalen und regionalen Sprachkultur« führe, sondern auch zu ihrer Vernachlässigung und Verarmung. Man kennt die Klage; man kann ihr zustimmen, kann sie relativieren, zurückweisen, für nichtig erklären. Ich selbst verfolge die aktuellen Kontroversen über den angeblichen Verfall der Sprach- und Sprechkompetenz mit wachsender Aufmerksamkeit, seitdem ich mir die Lektüre von Arno Borsts mehrbändigem Werk über den ›Turmbau von Babel‹ vorgenommen und davon auch schon ein paar hundert Seiten absolviert habe. Die von Borst nachgezeichnete »Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker« ist nichts weniger als eine globale Zivilisationsgeschichte und damit nichts anderes als eine Menschheitsgeschichte … nichts anderes als die Geschichte der Menschheit. Für mich wird diese Lektüre im Durchgang durch alle Epochen und Kontinente zu einem anhaltenden Faszinosum. Die höchst rational anmutenden Mythen, Legenden und Prophetien zur Aufspaltung der Sprachen und zur Zerstreuung der Völker wie auch die diesbezüglichen Deutungen und Wertungen machen klar, dass der Verlust der vorbabelschen Einheit und die Herausforderung der nachbabelschen Diversität für die Menschheitsgeschichte ebenso bestimmend gewesen sind wie für das menschliche Bewusstsein schlechthin. Die Alternative, genauer: die Entscheidung bestand für alle Völker gleichermaßen darin, entweder »in der Abschließung ihr bestes Teil zu retten oder im Synkretismus sich der Welt zu verschenken«. Der Synkretismus hat sich durchgesetzt, allerdings nicht als Schenkung, vielmehr als schwerlich zu versöhnende Konkurrenz. – Auf ORF 1 wird ein Interview mit Aleksej Dmitrijewitsch Dostojewskij gesendet. Der Mann ist ein Urururenkel des Schriftstellers Fjodor Michajlowitsch Dostojewskij und als solcher der letzte überlebende Nachfahr des Geschlechts. Gegenwärtig arbeitet er als Busfahrer und Reiseführer in Sankt Petersburg, organisiert Besichtigungstouren zu Dostojewskijs Lebensstationen und zu den in seinen Romanen beschriebenen Örtlichkeiten. Der Schriftsteller, so erfahre ich nun aus dieser familiären Quelle, sei nie zu Fuß gegangen, habe auch für kürzeste Strecken stets eine Kutsche gemietet. Und noch erstaunlicher – die meisten seiner Nachkommen seien im Kutschergewerbe und später bei der Straßen- oder Eisenbahn tätig gewesen. Der Weltautor Dostojewskij hat also keineswegs eine literarische Dynastie begründet, sondern eine lange, bis in die Jetztzeit reichende Generationenfolge von Kutschern, Chauffeuren, Tramschaffnern und Zugführern. Dass ich heute einen Angehörigen dieser Familie darüber reden höre, gibt mir für Sekunden den Eindruck, in die Zeit Raskolnikows, des Fürsten Myschkin und der Brüder Karamasow zurückversetzt zu sein. Doch aus diesem Traum bin ich schon wieder aufgewacht. – Das Reale ist das nie nicht Verfehlte. Nie ist etwas alles; nie ist etwas nichts. – Es ist noch Nacht, als ich heute früh am Spyriplatz im Schneegestöber unter einer Straßenlaterne dem ersten Osterhasen dieses Jahrs begegne und mir sofort der Geschmack von intensiver Süße in den Gaumen steigt. Bei dem mannshohen Osterhasen handelt es sich um einen rundum zugeschneiten Motorroller, der von der Seite tatsächlich so aussieht wie ein Hase aus weißer matt glänzender Schokolade. Und doch ist es bis Ostern noch weit genug. – Einen Voltaire, einen Sartre oder Althusser verhaftet man nicht! »Man« ist der Staat … »man« ist die Staatsmacht. Solche Toleranz hat in Frankreich ihre Tradition und … aber solche Toleranz widerspricht den Menschenrechten, widerspricht der Forderung nach Gleichstellung aller, unabhängig von Nationalität, Konfession, Geschlecht. Nimmt man – der Staat – die intellektuelle und künstlerische Elite von der Gleichstellung aus, um sie vorm Gesetz zu privilegieren, sie also in positivem Verständnis ungleich zu behandeln, ist dies ein unstatthafter Toleranzakt. Unstatthaft? Unstatthaft unterm Gesichtspunkt der Gleichberechtigung und Gleichstellung. Zu fragen bleibt allerdings, wie Gleichheit und Einzigartigkeit gegeneinander abgewogen werden und miteinander in Beziehung zu bringen sind. Man kann einerseits davon ausgehen, dass sich Menschen insofern gleichen, als jeder von ihnen einzigartig, nicht ersetzbar ist. Nun mag es zur Eigenart herausragender Künstler, Wissenschaftler oder Philosophen gehören, dass sie für die Umsetzung ihrer Konzepte mehr als die vom Gesetz zugelassene geistige und moralische Freiheit benötigen. Manche Dichter zwischen François Villon und Paul Verlaine (und selbst ein Gerechtigkeitsapostel wie Lew Tolstoj) waren unter juristischem Gesichtspunkt Kriminelle; aber das Verbrecherische ihres Tuns war Teil ihres Schöpfertums und ist von ihrem Werk nicht zu trennen. Hätte Verlaine nicht auf Rimbaud geschossen … hätte er nicht den Willen gehabt und nicht die Freiheit beansprucht, einen Mord zu begehen, so wäre er womöglich, retrospektiv wie prospektiv, auch nicht zum Dichter geworden, jedenfalls nicht zu dem Dichter, unter dessen Hand das Werk entstanden ist, das wir heute, wenn wir’s lesen, mit seinem Namen identifizieren. Weder sein Werk noch sein Leben wäre ohne Verbrechertum zu vollenden gewesen, kriminelle wie schöpferische Energie gehörten integral zu seinem energetischen Gesamthaushalt. Doch wo alle vorm Gesetz gleich sind, kann dies kein Argument für Toleranz und damit für die Ungleichbehandlung eines Ausnahmemenschen sein, der eben für uns Aufgeklärte und Angepasste auch nur ein Mensch ist; und … aber wie steht’s denn um den deutschen Altbundeskanzler mit dem Allerweltsnamen Schmidt? Der darf als einziger Bürger seines Lands zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort unter den Augen der Öffentlichkeit entgegen einschlägiger gesetzlicher Bestimmungen seine Zigarette rauchen. Ich darf das nicht. Du darfst das auch nicht. »Wir« sind gegenüber dem Ausnahmebürger jene Andern … »wir« sind alle Andern, die zwar das Recht und die Gleichberechtigung auf unsrer Seite haben, nicht aber die staatlich sanktionierte Toleranz. – Abend mit Krys; sie kommt im Deuxpièces, trägt rote Strümpfe, hat sich selbst die Haare geschnitten und neu frisiert, ihr Duft ist etwas zu heftig, legt sich aber bald, als wir uns in der Küche zu schaffen machen – Kürbissuppe, dann kalte Platte mit grillierten Melanzane, getrockneten Tomaten, geröstetem Parmaschinken, Mascarpone, Teigzungen mit Oliven, dazu ein weißer Fetzer. Bei einer zweiten Flasche sehen wir uns den Film ›Songs from the Second Floor‹ von Roy Andersson an, sie hat die DVD mitgebracht, um mir vor Augen zu führen, von was für einer Art von Theater sie träumt. Der Film zeigt eine Folge von gleichsam stillstehenden Szenen, sorgfältig aufgebaut, ausgestattet, ausgeleuchtet; exzellente Licht- und Farbenregie; dickleibige, wie erratische Blöcke herumstehende Laiendarsteller, die sich selbst und ihre Nächsten ständig nur fragen: Wer sind wir wohl? Wo sind wir denn? Die fast unbewegt in der Landschaft ragenden Kunstfiguren sondern teilnahmslos simple hintergründige Sätze ab, meist aber schweigen sie … sie schweigen, um hin und wieder plötzlich aufzuheulen, zu brüllen wie Wölfe oder Elche – eine hundertminütige Revue von letzten Menschen, von Übriggebliebenen, die sich längst überlebt haben und vielleicht gar schon tot sind. Großartig gemacht, mit schlichtesten Mitteln ans Äußerste rührend, ein Film, der – wie könnte es anders sein – nie im Verleih war hierzulande. Starke Werke dieser Art (gilt auch für Literatur) halten sich heute nur noch in den Marginalien, der Betrieb rezipiert sie nicht mehr; erst wenn die Ränder – wann auch immer und falls überhaupt – so schwer von solcher Ausnahmekunst besetzt sind, dass sie hereinbrechen und die formlosen Quantitäten unter sich begraben, werden sie in der Mitte angekommen sein. Vermutlich also nie. Auch das hätte seine Richtigkeit. Und wir? Krys mit mir in der Mitte! Aber nein – lieber von Rand zu Rand.

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