5. Juni

Die immer länger werdenden Tage, die Überfülle an Licht und fliegender Hitze provozieren – wie meistens in dieser Jahreszeit – gähnende Depressionen, aber auch, im Gegenzug, weitläufige freundliche Träume, die allerdings nicht bildhaft oder als Handlung sich einprägen, sondern bloß stimmungsmäßig. Potocki bleibt in der Schwebe, die Rezensenten Samuel Moser und Martin Zingg sind am Lesen, Marco Baschera will sich später anschließen. Fragt sich bloß, wie verlässlich Freunde als Kritiker sein können. – In diesem Jahr scheint der Juni den September nachahmen oder vorwegnehmen zu wollen. Ist mir nicht unangenehm, die Grisaille der Tage entspricht meiner desolaten Verfassung. Starke Träume wieder, aber es bleibt davon nur der allgemeinste Eindruck, ein atmosphärisches Wabern, manchmal eine Gestalt, eine schattenhafte Szene; das Meiste verfliegt spurlos und lagert sich wohl irgendwo auf einem fernen Planeten ab. Weiter an der Anthologie gearbeitet (zur Zeit täglich drei, vier Gedichte; dazu biobibliografische und textkritische Recherchen im russischen Internet); weiterhin kein konkretes Verlagsinteresse. – Auf einer festungsähnlichen Burg findet das Seminarfest statt, ich gehöre zu den eingeladenen Gästen, obwohl ich mit all den Leuten – vorwiegend Romanisten − nichts zu tun habe und auch niemanden kenne. Ich bewege mich auf verschiedenen Etagen der riesigen turmartigen Festung durch das Gedränge, wobei mir zwei-, dreimal diese sympathische Frau begegnet, sie ist sichtlich älter als die vielen Studentinnen und Assistentinnen, hat ein weißes flaches Gesicht mit feinen Fältchen an den Schläfen und mit kaum wahrnehmbaren, nur aus nächster Nähe – wie in diesem Augenblick – wahrnehmbaren honigbraunen Sommersprossen; vermutlich eine Berichterstatterin, sie stellt links und rechts Fragen, macht sich Notizen. Ich steige ins oberste Stockwerk des Turms hinauf, auch hier halten sich viele Menschen auf, es gibt einen Gastbetrieb, Informationsstellen, Organisationsbüros. Ich lehne mich über die Brüstung, in der Runde dehnt sich eine sanfte Landschaft unter zauberhaftem Wetter, überwölbt von quellenden Kondensstreifen. Am Fuß der Festung verläuft ein unregelmäßig angelegter, unterschiedlich breiter Wassergraben, der teilweise von angerosteten Blechdächern verdeckt ist. Die Fallhöhe beträgt gemäß meiner Wurfleine genau achtunddreißig Meter, am Abend soll ich von der Brüstung hinunter in den Graben springen. Natürlich werde ich den Pflichtsprung machen, befürchte nur, dass ich, von der Schwerkraft vornübergedreht, mit Kopf und Schultern auf eins der Blechdächer prallen könnte. Aber vor mir ist, zu meiner Erleichterung, ein junger Kollege von der Romanistik dran, er hat sich offenbar eingehend auf seinen Sprung vorbereitet, hat links das Knie bandagiert, das rechte Bein von der Leiste bis zum Knöchel mit einem Gipsverband gesteift. Ich beobachte seinen Sprung, der Mann stößt sich schräg von der Brüstung ab, kommt sofort ins Trudeln und streift im Sturz zwei der Vordächer, bevor er mit erhobenen Armen im Wassergraben verschwindet. Vielleicht ist er ja tot.

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