6. Mai

Um dem Pfingstverkehr auf der Straße zu entkommen, reise ich diesmal mit der Bahn. Der Schnellzug von Zürich nach Lausanne ist voll besetzt. Von den fünf Mitfahrenden in meinem Abteil sind vier unentwegt mit ihrem Handy beschäftigt, eine junge Frau schräg gegenüber benutzt gleichzeitig deren zwei – mit dem einen ist sie auf Plauderlinie, mit dem andern versendet sie ihre SMS; wieder eine andere hält ein winziges Mikrofon wie eine Rose in der Hand und diktiert leise raunend irgendwelche Daten hinein. Der Zug, in dem wir sitzen, trägt den Namen PIAGET, was für mich geradezu provokant wirkt angesichts dessen, was ich hier im Lauf von knapp drei Stunden beobachte. Eine junge Mitreisende, sehr beleibt und gepflegt, geht in die Hocke, wühlt in ihrer Tasche, die enge Hose rutscht gespannt über die Hüften, gibt den Ansatz einer grauen, stellenweise leicht geröteten Arschspalte frei, darüber ein kleines Tattoo, eine Art Wappen, das einen steifen Penis mit nach oben hängenden Hoden zeigt. Die Frau lässt einen tiefen Seufzer fahren, steht auf, schüttelt den Kopf, sagt »Scheiße«! Unabweisbar mein Gedanke: All diese Menschen – ich selbst gehöre dazu – haben die gleichen Innereien! – Am Bahnhofskiosk blättere ich, auf den ICE nach München wartend, im neuen Roman von Thomas Pynchon, ›Gegen den Tag‹, 1592 Dünndruckseiten, wimmelnd von Jargonismen, Fachbegriffen, Daten, Personen- und Ortsnamen, ganz zu schweigen von zahllosen Anspielungen und Paraphrasen, die auch meine Lektürekompetenz auf die Probe stellen. Doch wie kommt’s, dass ein solches Buch neben Donna Leon und Verena Kast am Kiosk als Reiselektüre angeboten wird? Bei der seriösen Kritik ist Pynchon deutlich höher kotiert als beispielsweise Philip Roth oder Martin Walser, bleibt aber von der Aura des Geheimtipps umgeben und scheint gegen alle denkbaren Vorbehalte immun zu sein. Vermutlich gehört ›Gegen den Tag‹, nicht anders als ›Unendlicher Spaß‹ von Wallace oder ›Parallelgeschichten‹ von Nádas zu jenen schwergewichtigen Kultbüchern, über die alle reden, sogar urteilen, ohne sie tatsächlich gelesen zu haben. Man hat eine – seine – Meinung darüber, wagt’s aber nicht … vermag aber nicht argumentativ darzulegen, worin diese Meinung begründet ist und auf welchen Kriterien sie beruht. Werke, die durch ihre überwältigende Sprachkraft sprachlos machen und jeden möglichen Einwand vorab entmächtigen. Was ja außerdem für manche Texte des modernen Kanons gilt, die im Rating des Feuilletons ganz oben stehen und schon deshalb der kritischen Lektüre entzogen bleiben – ein Banause, der sich heute erdreisten würde, den ›Ulysses‹ oder ›Die Cantos‹ gegen den Strich der positiven Vorurteile zu lesen. – Mein Leib ist ein Windbeutel, der blöd der Witterung nachhängt, sich nach ihr richtet, mal im Guten, meist im Üblen. Seit Tagen herrscht hier unverändert ein Hoch, für meine Physiologie ist das optimal, Kopf und Bauch arbeiten störungsfrei. Bis zum nächsten Wetterwechsel … bis demnächst in diesem Haus. – Pfingsten zu Hause, ohne Schreibprogramm, nicht mal Lektüre, Krys allein ist angesagt – sie besucht mich mit großer Musik. Die Messen von Mozart, Beethoven, Schubert – Jubel und Requiem in einem, Jubel als Requiem, das Requiem als der eigentliche polyphone Triumph, der das Halleluja mit Miserere in Einklang bringt. Geistliche Musik ist zwar oft eine Spur zu gewaltig, zu prächtig, aber zum Höchsten, was unter Menschenhand entsteht, gehört sie doch. Auch Krys gelingt es nicht, mir das Mit- und Nachlesen der Partituren beizubringen; ich bleibe, in Sachen Musik, der Laie, der ich bin. Und mein eigener Jubel? Kindisch vielleicht – wir sind hier allein zu zweit, und ihr seid dort im Stau! Dazu ein paar Zeilen, die beim Schreiben zu Versen geworden sind: aaaaaGingst auf den
aaaaaGrund dem Zweifel und
aaaaader Ausdruckswut. Empfingst
aaaaa(wo Gewalt das Gute tut) Spra-rache!
aaaaaAu … wen das Wort versteht! Und dunkler
aaaaaist die Laune die stillt
aaaaaund staunt. Auch kommt alles von oben
aaaaaGesagte nie nicht zu spät und aber
aaaaaNamen und Berge
aaaaaversetzt es. Welches Ding dann
aaaaawessen Zwilling ist
aaaaaweiß auch die innre Stimme nicht. Dem Hiesigen
aaaaaentspricht − als Wort – die Tat.
– Die klassische lateinische Periode ist für mich noch immer das Vorbild für Vers und Strophe – die ungemeine Präzision der grammatischen Korrespondenzen bei weitgehend freier Wortfolge und mobiler Betonung; allgemeiner: die Präzision im Ungefähren; bildlich: Gegenstände, Gestalten im Nebel, ihre bedrängende Präsenz im Unterschied zu jenen Dingen, die man bei klaren Sichtverhältnissen gewohnheitsmäßig wahrnimmt oder auch oft übersieht.

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