7. Juli

Heute unter den aktuellen News online die Nachricht: Fünf Bergsteiger sind im Wallis vor einer Stunde tödlich verunglückt – zu sechst waren sie zur Besteigung des Lagginhorns aufgebrochen, einer von ihnen ist auf viertausend Meter Höhe, einhundert Meter unterm Gipfel, wegen eines plötzlichen Unwohlseins zurückgeblieben; eine Viertelstunde danach stürzte die Restgruppe, die weiter aufgestiegen war, »aus ungeklärten Gründen« ab – alle fünf sind tot. Überlebt hat einzig der Zurückgefallene, Zurückgebliebene, dem es unterwegs sterbensübel geworden war, der als Verlierer kapitulieren musste und der nun mit dem Ungemach zurechtzukommen hat, als Verlierer oder Versager mit dem Leben davongekommen zu sein, während seine tüchtigeren Kameraden weiter vorn und weiter oben den Tod gefunden haben. Schestow – auch er ein kundiger Berggänger – hätte die Sinnlosigkeit dieses Geschehens exemplarisch heranziehen können zur Erläuterung des Lebenssinns ganz allgemein: Der Sinn des menschlichen Lebens (dessen Wirklichkeit und Wahrheit) erfüllt sich am vollständigsten in der Absurdität … als Absurdität. – Da ich ohnehin in der Nähe bin, mache ich kurz Halt bei meinem Elternhaus – dem Haus meiner Kindheit – in R., komme an, sehe gerade noch, wie das Haus in die Luft geht und ein riesiger Gesteinsbrocken … wie ein riesiges Eckstück aus Eisenbeton hochgeschleudert wird und nun über mich hinwegschwebt und neben dem Drahtverhau, hinter dem ich stehe … an dem ich mich mit gespreizten Fingern festhalte, lautlos in die Wiese stürzt; im Hintergrund ist die gewaltige Basilika, die das Schatzhaus meiner Kindheit ersetzen soll, bereits zur Hälfte gebaut – sie überragt als ausladende, von innen erleuchtete Schalenstruktur die Umgebung und wird bald, denke ich, für die nächste Großveranstaltung zur Verfügung stehen. – Schlusssatz aus einer großen Buchbesprechung in der heutigen NZZ: »Die ›Desperate Characters‹ von Paula Fox blicken auch heutigen Lesern noch mit beunruhigender Schärfe in die Seele.« Voraus geht über drei Spalten eine akribische Inhaltsangabe des Romans im Stil von Kindlers Literaturlexikon. Der Plot wird zusammengefasst, das Personal vorgeführt, als handelte es sich um einen Tatsachenbericht. Die Besprechung scheint bloß darauf angelegt zu sein, die Lektüre des Buchs überflüssig zu machen – man erfährt im Wesentlichen, worum es geht, wer mit wem interagiert, worauf der Text angelegt ist und – der letzte Satz macht’s klar –, worin seine Aktualität besteht: Die literarischen Kunstfiguren bewahren bis heute ihren beunruhigend scharfen Blick, mit dem sie uns Lesern in die Seele schauen. Lesend sollen wir uns also in die Seele schauen lassen? Kann das – heute – die Funktion von Literatur sein? Bin ich – heute – als Leser darauf verwiesen … soll ich mich darauf beschränken, mich dem Blick, der Diagnose, der Therapie von Seiten fiktiver Charaktere auszusetzen? Dass das Feuilleton Tag für Tag auf solche Weise die Entmündigung literarisch interessierter Leser betreibt, geht wohl auf die Befürchtung zurück, man könnte jene neun Prozent des Publikums, die die Kulturseiten überhaupt noch zur Kenntnis nehmen, überfordern. Was mich angeht – ich halte die hier praktizierte intellektuelle Unterforderung (und generell die Boulevardisierung der Kulturberichterstattung) für weit verhängnisvoller als die vermeintliche Überforderung einer ohnehin minderheitlichen Leserschaft, die noch nicht resigniert genug ist, um sich zumindest fordern zu lassen. – Weiter mit Andrej Platonow; es ist eine – muss auch ich sagen – schwersterträgliche Lektüre; die unsägliche menschliche Niedertracht, angereichert mit Geilheit und Sentimentalität, wird in Platonows Darbietung noch verstärkt durch das Wahrheits- und Überlegenheitspathos einer verlogenen, religiös unterlegten Staatsideologie und gehöht durch das geradezu bedrohliche Versprechen einer lichten Zukunft, die angeblich unmittelbar bevorsteht, nein, die bereits ins Land gezogen ist. Allein die Tiere und Kinder, missbraucht und verwahrlost, bilden dazu einen schwachen Widerpart. Wie selbstverständlich lässt Platonow (in ›Die Baugrube‹) einen Bären unter den Menschen auftreten – in Wirklichkeit ein Tier unter Tieren, das sich von den bestialisierten »Menschen« durchaus positiv abhebt und seinerseits »menschliche« Züge gewinnt. Das Bestiarium, das hier Revue passiert, vereinigt sich zu einem Höllentanz von Krüppeln, Kriminellen, Idioten, Säufern, Lügnern und Selbstbetrügern, die sich im Besitz der Wahrheit wähnen und damit des Rechts, im Namen dieser Wahrheit alles Unwahre und alle Ungläubigen zu liquidieren, um »die Menschheit« … um »den Menschen« ins kommunistische Paradies zu retten. Die Handlung bleibt in Platonows Erzähltexten relativ flach, entwickelt sich zumeist in alogischen Sprüngen und Brüchen, tendiert eher zur Aufzählung von Einzelheiten denn zur Entfaltung des Stoffs insgesamt. Das hat zur Folge, dass einzelne Szenen, Dialoge, Kernsätze deutlicher hervortreten, derweil der Gesamtzusammenhang lediglich als Rahmen dazu fungiert.

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