7. Mai

Auch eine Art von Horror – Recht zu haben, im Recht zu sein, gar Recht zu sprechen am Leitfaden der von so viel Unrecht geprägten Normalität. – Laut Todesanzeige ist in diesen Tagen »nach langer schwerer Krankheit« der Schauspieler Ingold Wildenauer gestorben. Ich war mit Wildenauer vor dreißig, vierzig Jahren gut befreundet, als er noch zu den Protagonisten der Pfauenbühne gehörte. Unser gemeinsames Interesse war Dostojewskij, den er so gut wie auswendig kannte – er las ihn in verschiedenen Sprachen, auch auf Russisch, aber ohne entsprechende Sprachenkenntnis; dennoch schien er alles – jede Redewendung, jede vom Autor beschriebene Geste, jeden unausgesprochenen Gedanken – problemlos zu verstehen. Wildenauer hortete in seinem Dostojewskij-Zimmer Hunderte von Bänden, darunter zahlreiche Erst- und Werkausgaben, Übersetzungen, Sekundärliteratur, illustrierte Editionen, dazu viele Kassetten mit Theater- und Filmfassungen von Dostojewskij-Texten; seine Ambition war’s, die großen Romane und einige Erzählungen Dostojewskij szenisch umzuschreiben und auf die Bühne zu bringen – dieser Ambition opferte er seine erfolgreiche Karriere, zog sich früh aus dem Theaterbetrieb zurück, um nur noch dem großen Russen nachzuleben, ihn wieder und wieder zu lesen, ihn immer wieder neu und immer riskanter zu interpretieren. Wildenauers hauptsächliche Bezugs- und Identifikationsfigur bei Dostojewskij war der Untergrundmensch, dessen unheimlichster Satz mir bis heute in seiner unverwechselbaren Diktion tief im Ohr klingt: »Aber auch zweimal zwei gleich fünf wäre doch ein tolles Sächelchen!« In den letzten Jahren hatte ich mit Ingold keinen Kontakt mehr – früher gab’s von ihm jährlich zwei Anrufe, irgendwann in der Nacht, und er berichtete dann in monologischem Furor während jeweils mindestens einer Stunde über seine neusten Recherchen und Funde in Sachen Dostojewskij. Wovon der Mann lebte, war mir schleierhaft … schleierhaft auch, warum er den Trend zum Hörbuch nicht für sich als Sprecher genutzt hat – da hätte er mit seiner literarischen Kompetenz und seiner ungewöhnlich sonoren und skulpturalen Stimme leicht reüssieren können. Doch er schloss sich in seiner Bücherwelt und zugleich in Dostojewskijs Geisteswelt ein, ohne auch nur eins seiner Projekte zu realisieren – sein Kopf, seine Vorstellungswelt ist ihm zur Bühne geworden, und mit dem gebückten Rücken zur Wirklichkeit hat er nun seinen Lebenstraum begraben. – Mister Switzerland, der Schönste des Jahres, outet sich hochgemut als Analphabet, hat sich nach eigenem Bekunden durch die Grund- und Realschule gemogelt, noch nie ein Buch gelesen, nie eine Lehre abgeschlossen. Hier hat er es nun in die Endrunde und darüber hinaus aufs Podium geschafft. Für ein Jahr wird er den Schönsten spielen, für Magazine posieren, als Model für Industriefirmen, Modelabels und Bankinstitute werben, die Präsenz der Schweiz auf internationalen Messen markieren usf. Bis zur Wahl des nächsten schönsten Schweizers wird er voraussichtlich zwei- bis dreihunderttausend Dollar eingenommen haben. Was für ein Haben! Was für ein Sein? – Die hässlichen Alten (manche von ihnen sind deutlich jünger und schöner als ich) – Maximilian Schell, Herta Müller, Tom Buhrow, Eva Mattes, Niki Lauda, Dieter Bohlen, Peter Sloterdijk, Christine Neubauer, Klaus Maria Brandauer, Christian Wulff, Dörte Lyssewski, Annette Schavan, Max Wagner, Hans-Jürgen Heinrichs, Michael Krüger, Iris Berben, Stefan Raab, Christine Kaufmann, Jörg Kachelmann, Silke Scheuermann, Sarah Kirsch, Hanns Zischler. Und weiter? Weiter so! Und wie gern wäre ich dabei! Alt genug bin ich ja, hässlich genug – noch immer nicht. – Ich stehe kurz vor der Matura. Es geht nun noch darum, die Erfahrungsnoten aufzubessern. Als Erfahrungsnote gilt auch die Bewertung im Fach Turnen. Bis zur großen Prüfung stehen nur noch wenige Turnstunden an, und ich würde gut daran tun, meine bisher schwachen Leistungen am Pferd und auf der Bodenmatte deutlich zu steigern. Dabei weiß ich natürlich, dass ein Überschlag beim Pferdesprung oder ein Salto rückwärts auf der Matte weit über meine Möglichkeiten hinausgehn. Also drücke ich mich an der Sprossenwand entlang, versuche unbemerkt zu bleiben, werde aber immer wieder vom Turnlehrer gerufen, zum Vorturnen befohlen, für meine schwache Performance getadelt, sogar ausgelacht. Hans Robert Jauss weiß, dass die von ihm vergebene Note entscheidend sein könnte dafür, ob ich die Reifeprüfung bestehe. Wie ein Ausrufezeichen stellt er sich in seinem weißen Trainingsanzug vor mir auf, senkt den Daumen, zeigt abschätzig lächelnd seine blitzenden Stahlzähne. Ich fühle mich gedemütigt und in die Enge getrieben, am Ende mache ich mich, ohne geduscht zu haben, fluchtartig auf den Heimweg. Zu Hause ist gerade das große Reinemachen im Gang. Meine Mütter, Tanten, Schwestern, Stiefschwestern und Kusinen, dazu einige Nachbarinnen sind mit Schrubben, Polieren, Staubsaugen, Abwaschen, Aussortieren, Wegschmeißen beschäftigt, doch ihre sturen Bemühungen werden gleich wieder zunichte gemacht, weil ein starker Herbstwind durch die offenstehenden Fenster unaufhaltsam winzige rostbraune Blätter in die Wohnung weht, dazu beliebig viele Käfer und Falter, die von den zerknitterten Blättern kaum zu unterscheiden sind. Ich biete mich als Insektenvertilger an, klaube die in Teppiche und Vorhänge verkrallten Tiere zusammen, trage sie in der linken Faust zum Mülleimer, und bevor ich sie entsorge, zerdrücke ich sie mit einem mehrfachen Knackgeräusch in der geballten Hand. Während ich nun meine Jagd fortsetze, stelle ich fest, dass sich die Insekten – wie auch die hereingewehten Blätter – noch einmal mächtig vermehrt haben, und ich muss mir sagen, dass die Säuberungsaktion ein hoffnungsloses Unterfangen ist. Lieber werde ich nun … lieber will ich mich nun kurz entschlossen habilitieren, die Arbeit ist ja bereits geschrieben und mit summa cum laude angenommen worden, nur das Kolloquium steht noch aus. Im Bundeshaus besuche ich Jean-François Bergier, der das Prüfungsgespräch übernehmen wird und sich nach eigenem Bekunden auch darauf freut, zur Zeit aber leider viele andere Verpflichtungen hat, die es schwierig machen, einen passenden Termin zu finden. In einem dunklen kapellenartigen Raum zeigt er mir sein jüngstes, gerade abgeschlossenes Werk – eine mit schwarz gefärbten Holzreliefs dekorierte Wand, die fast endlos in die Höhe ragt und von sehr tief oben aus einer unsichtbaren Lichtquelle spärlich erhellt wird. Wir verlassen den Kerkerraum, verabschieden uns. Ich muss nun ohnehin erst einmal administrative Abklärungen treffen, mich zum Kolloquium anmelden und dazu meine Seminarscheine und Testatbücher vorlegen. Doch hier hat sich so manches geändert in der Zwischenzeit. Die ETHZ ist um- und ausgebaut worden, ich kenne mich nicht mehr aus, muss mich zur Quästur, zur Bibliothek durchfragen, mich geradezu durchschlagen durch die wogende Menge der Studierenden, von denen die Korridore, Treppenhäuser, Galerien besetzt gehalten werden. Überall gilt es Schlange zu stehen. Überall werde ich abgewiesen, da ich keine Ausweise bei mir habe, nicht einmal die Legitimationskarte. Ich bin schon ziemlich irritiert und ein bisschen verzweifelt über diese administrativen Querelen und muss mich nun auch noch kurzfristig umziehen, da mich draußen am Fuß des mächtigen Albin-Herzog-Denkmals der Verwaltungsdirektor zum Assessment erwartet. Aber natürlich finde ich keine passende Wechselkleidung im Rucksack. Also greife ich mir aus einem Sperrgutstapel, den ich hinter der abgeblühten Rosenhecke entdecke, ein paar große Plexiglasteile heraus und versuche mühsam, ein durchsichtiges Kostüm daraus zu machen, und nun stehe ich, nackt bis auf die Unterhose, in diesem Glasverschlag und überlege, wie ich es anstellen soll, mich darin zu bewegen, ohne dass er gleich in Stücke bricht. Zwei, drei vorsichtige, ganz langsame Versuche, den linken Fuß zu heben, enden mit einem … enden mit meinem krachenden Sturz. – Der Tag – schon wieder Sonntag – bleibt völlig windstill, verharrt in der Grisaille, alles ist im leichten kühlen Dunst eingedampft, abgedämpft, gleichgemacht. Man spürt … ich glaube körperlich die stumpfe passive Gewalt der Schwerkraft zu spüren und mache mir gleichzeitig klar, dass Windstille keineswegs der Normalfall, sondern eine eher seltene Ausnahme ist: Im Normalfall bleibt die Luft bewegt, bewegt sich in Stößen und Schüben und Wirbeln, schafft Bewegung in den Dingen und zwischen den Dingen und durch die Bewegung – reiben, schrammen, schürfen, drücken – bringt sie indirekt auch einen Großteil der alltäglichen Geräuschwelt hervor. – In der Sonntagspresse, wie seit Monaten schon, die Kommentare, Vorschläge, Aufrufe zur Ankurbelung der Wirtschaft, Ankurbelung des öffentlichen Verkehrs, der Elektromobilisierung, der Ingenieurwissenschaften, der Organspendebereitschaft, des Wellnesstourismus, der E-Bookproduktion, der Jugendsportförderung, der Entwicklungshilfe vor Ort, der Maßnahmen gegen Sozialhilfemissbrauch, der Sparbemühungen im Kulturbereich, der Sportfanartikelindustrie usf. All dies und noch viel mehr soll »angekurbelt« werden; so viele Probleme sollen gelöst, Desiderate abgegolten werden durch ein Verfahren, das mit dem Aufkommen neuer Techniken längst obsolet geworden, sprachlich aber weiterhin mit der mechanischen Metapher von Kurbel und Motor bezeichnet wird. Der anachronistische Konservatismus alltagssprachlicher Metaphorik – »Dampf aufsetzen«, »vom Leder ziehen«, »am Schlafittchen packen«, »die Zügel straffen« oder »die Zügel schleifen lassen« usf. – kontrastiert auf geradezu komische Weise mit aktuellen Neologismen und Redewendungen wie »downloaden«, »chatten«, »ordern«, »speeden«, »verlinken«, »uncool«, »getimt«, »der jüngste Hype (oder Hit oder Jest)«. – Am mittleren Nachmittag (ich verfolge am TV – beim Stand von fünf zu vier – das Halbfinale zwischen Andy Murray und Roger Federer) kommt Krys zu einem Kurzbesuch vorbei, erzählt von ihrem Workshop, von ihrem Vorstellungsgespräch an der Kunsthochschule mit drei jungen Frauen – unter ihnen, jünger als sie, ihre mögliche künftige Vorgesetzte. Ich zeige ihr einige Neuerscheinungen von Matthes & Seitz, sie interessiert sich zu meiner Überraschung vor allem für die Romanbiografie von Emmanuel Carrère über Eduard Limonow, der im Klappentext als Exzentriker, Skandalautor, Dandy, Sexmaniak, Tschetnik, Nationalbolschewik vorgestellt und interessant gemacht wird. Ich überlasse Krys den dicken, noch eingeschweißten Band (muss ich nicht gelesen haben) und erinnere mich dabei an meine eigenen Begegnungen mit Limonow in den mittleren 1960er Jahren in Moskau. Der heutige Starliterat, so kann ich Krys berichten, trug damals noch seinen ursprünglichen Namen, Sawenko, gehörte zum literarischen anergraund Moskaus, lebte mit seiner Freundin Jelena Stschapowa – sie wurde mir als die »schönste und geilste Frau der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken« vorgestellt – in einer kleinen, dunklen, orientalisch aromatisierten Wohnung, die mit Sitzkissen ausgelegt, mit Teppichen ausgehängt war, wo er gern seine Freunde, unter ihnen die Dichter Igor Cholin und Genrich Sapgir, aber auch neugierige Ausländer wie mich in schummriger Atmosphäre empfing. Meist hockte er im Schneidersitz auf einem zerknautschten Kissen – Schneider war er von Beruf, die Kreation von Theater- und Fantasiekostümen bezeichnete er als seine Lieblingsbeschäftigung (»das Einzige, was ich wirklich kann«) – und redete ohne erkennbare Adresse vor sich hin, witzig, angriffig, selbstverliebt, manchmal leicht delirierend, dabei ständig mit der Zubereitung und freizügigem Herumreichen von Joints beschäftigt. Als Persönlichkeit war mir Limonow eher suspekt, mich beeindruckte aber seine stupende Belesenheit, auch seine Fähigkeit, russische Poesie endlos auswendig vorzutragen (auch wenn er seinen raunenden Vortrag zu meinem Ärger immer wieder durch meckerndes Lachen oder durch völlig deplatzierte Zwischenbemerkungen unterbrach), und ich fragte mich nicht ohne neidvolle Neugier, wie ein so unansehnlicher schmächtiger Junge eine so starke und anspruchsvolle Frau wie die Stschapowa für sich hat gewinnen können. Und ja! Noch ein Detail, an das ich mich genau erinnere – an der Klotür hatte Limonow eine Sprühdose aus der BRD so montiert, dass sie beim Öffnen und Schließen ein Wölkchen von billiger parfümierter Frischluft abgab. Eine Fresh-Air-Dose aus dem Westen, das hatte in jenen Sowjetzeiten noch Seltenheitscharakter, und mir ist keineswegs entgangen, dass und wie Limonows Moskauer Freunde die ingeniöse Bastelei an der Klotür bestaunten und durchaus ernsthaft über den Zerstäuber als zivilisatorische Errungenschaft debattierten. – Der Traum, das Träumen ist zu einem wesentlichen Teilpensum meines Lebens geworden. Kein Schlaf – auch nicht der kürzeste und oberflächlichste – bleibt ohne Traum; die thematische Variationsbreite nimmt zu; zwar kehren die Prüfungs- und Abschiedsträume immer wieder. Aber häufiger werden nun Jugend-, sogar Kindheitsträume, das heißt solche, in denen ich selbst als Jugendlicher beziehungsweise als Kind zugange bin; manche dieser Träume kann ich nach dem Erwachen rekapitulieren, schreibe sie gelegentlich auch auf, andere wiederum gehen rasch verloren, und jeder derartige Verlust – es bleibt dann vielleicht bloß ein fremdes Gesicht, eine ruinöse Gartenmauer, ein stinkendes Eisenbahnabteil – kommt mir vor wie ein Verlust an Lebenszeit … an künftigem Leben (zu überlegen). – Im Dorf Radwaniya bei Bagdad hat ein US-Soldat einen Koran auf eine brusthohe Mauer gestellt, um ihn wie in einer Schießbude abzuknallen – das Buch soll (nach dem heutigen Bericht von Reuters) »von Schüssen durchsiebt« worden sein und ist »in Fetzen geflogen«; in Stundenfrist sollen sich Hunderte von sunnitischen Muslimen zusammengerottet und gegen die Schändung protestiert haben. Der Angriff auf den Koran gilt – ob mit Schüssen oder mit Argumenten – als ein Angriff auf den Propheten. Das Buch in seiner Materialität ist der Prophet, nicht anders als sein Inhalt, der ihn als Gott, als Autor, als die Wahrheit präsent hält; insofern entspricht der Koran, funktional wie materiell, der russischen Ikone, die ebenfalls nicht darstellen, sondern vergegenwärtigen soll.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00