8. Juni

Gerade eben sehe ich, mit Blick aus der Straßenbahn, auf einem Plakat im Weltformat den Spruch »Gelegenheit macht Liebe« an mir vorbeiziehn. Ein harmloser, eigentlich trivialer Spruch – doch wofür steht er? Wie kommt er in den öffentlichen Raum? Zwar erkennt man gleich, dass es sich um einen auf Paarigkeit beziehungsweise auf paariger Austauschbarkeit beruhenden Kalauer handelt, dessen diskrete Zweideutigkeit auf dem Buchstaben L (in »Liebe«) einerseits, auf dem Wort machen (»macht«) anderseits beruht. Was da im Weltformat zu lesen ist, ist ein Slogan der diesjährigen gesamtschweizerischen Aidskampagne, der auf das Aidsrisiko beim Partnertausch verweist. Dass Gelegenheit Liebe macht, dürfte ebenso allgemein bekannt sein wie die sprichwörtliche andere Gelegenheit, die lästige Diebe auf den Plan ruft. Sieht man sich den Slogan hinsichtlich seiner Sprachgestalt noch etwas genauer an, erschließt sich auf der Wortebene eine weitere Paarigkeit, und zwar in Bezug auf die Verwendung des Verbums »machen«, das hier in einer interessanten Doppelstellung auftritt, da es mit Bezug auf den Subtext »Gelegenheit macht Diebe« konstatiert, dass sich Liebesbeziehungen oft aus einer zufälligen »Gelegenheit« ergeben, und gleichzeitig anklingen lässt, dass damit naturgemäß die »Gelegenheit, Liebe zu machen« gemeint ist. Explizit wäre der Slogan demnach zu lesen als: »Oft macht [bewirkt] die Gelegenheit, dass man [oder Frau] Liebe macht …« – In maximaler Entfernung und in schärfstem Gegensatz zu diesen alltags- und gebrauchssprachlichen Ausdrücken stehen ein paar Verse aus Dantes ›Göttlicher Komödie‹ (Fegefeuer, erster Gesang), die zu den schönsten der gesamten europäischen Dichtung gezählt werden und die, nicht anders als die trivialen Wortpaarungen aus heutigen Werbetexten, durch lautliche Doppelungseffekte ihre besondere Wirkung erhalten, eine Wirkung übrigens, die auch dann eintritt, wenn man die Textbedeutung nicht versteht: dolce color d’oriental zaffiro
aaaaache s’accoglieva nel sereno aspetto
aaaaadel mezzo puro infino al primo g
iro – Die Silbenpaare sind wie folgt über die Verse verteilt: ololloorro
aaaaes
sane se enas
aaaaro
in inriir ro
– Die Lettern- beziehungsweise Lautpaare wirbeln geradezu tänzerisch durcheinander, wobei sie sich vielfach drehen und wenden (ol/lo, sa/as, ri/ir usf.) und letztlich doch in staunenswerter Regelhaftigkeit den Vers realisieren. Die Strenge in der Beschwingtheit – ist es diese Qualität (wir schätzen sie doch auch bei Mozart, bei Schubert!), die uns den Paarlauf der Laute zum reinsten ästhetischen Vergnügen macht? Wie sollte man da noch an den Sinn der Liebe denken? Die Liebe ist, und sie wird immer – so oder anders – paarweise ausgelebt. – Ich sitze unter fahlem Neonlicht im Prüfungszimmer an einem schlichten Holztisch. Mein Stuhl, vermutlich ein Modell aus den 1950er Jahren mit Stahlrohrbeinen und mehrschichtiger wellenförmiger Sperrholzplatte als Sitzfläche, ist noch körperwarm von meiner Vorgängerin. Ich schreibe die Prüfung für Professor Künzli, habe den Stoff mühsam aus italienischen Vorlagen erlernt, Thema ist die Innenpolitik Italiens nach dem Weltkrieg. Ich warte hier auf den Prüfungsbeginn, frage mich, wie ich den nur teilweise bewältigten Stoff darstellen soll und … aber plötzlich fällt mir ein, ich muss vor der Prüfung noch meine Mutter zum Einkaufen treffen. Eigentlich wollte Mutter auf dem großen mit polierten Betonplatten abgedeckten Platz vor dem Kunsthaus auf mich warten. Da stehen nun viele Leute einzeln oder in Gruppen herum, meine Mutter ist nicht dabei. Die Zeit vergeht, wird knapp, doch wie komme ich nun rechtzeitig zum Prüfungslokal. Ich kenne mich in dieser düstern Stadt nicht aus, alles ist hier verrußt, verwahrlost, altmodische Busse verpuffen schwarze Abgaswolken, sie verkehren ohne erkennbare Route, ohne erkennbares Ziel. Keines der Fahrzeuge scheint jemals anzuhalten. Ich muss mich beeilen, werde nun halt die Metro nehmen, steige hinab und erreiche durch einen endlos langen gekachelten Korridor den Kontrollbereich mit den automatischen Sperranlagen. Vier Franken kostet die Fahrkarte, mein Portemonnaie ist voller Münzen, doch es ist fremdes Geld, also unverwendbar. Mir wird klar, dass ich schon zu spät dran bin … dass ich es nicht schaffen werde bis zum Prüfungsbeginn. Also arbeite ich mich durch die langen Korridore erneut ans Tageslicht, der Straßenverkehr hat deutlich nachgelassen, nur hin und wieder scheppert einer von diesen Blechbussen vorbei, keiner hält an, weil es keine Haltestellen gibt. Als ich mich unversehens daran erinnere, dass ich die Prüfung bereits gemacht und schlecht und recht bestanden habe, bin ich erleichtert. Bei der Abdankung für Professor Künzli – er hat sich nach der Korrektur der Prüfungsarbeiten unter einen Metrozug geworfen – halte ich eine kurze Trauerrede und werde dabei von Krys auf der Orgel leise begleitet: Gewesen sein
aaaaaist gut genug. Trug nicht
aaaaaGeschichte zum Gewicht des Beweisstücks bei
aaaaa(das jetzt die Wahrheit stützt) und klassische Physik
aaaaazur Richtigkeit der Wolke dort. Wo
aaaaaimmer wieder die Zukunft
aaaaades Winters beginnt. Wo
aaaaadie Sonne – wie heute – auf den Knien geht bis
aaaaadie hiesige Nacht sie empfängt. Das erste
aaaaaLicht lässt Unverständliches sich selbst
aaaaaverstehn. Wie Golem Lehm und
aaaaawie ich mich. »Wie Golem Lehm« steht in fahriger hebräischer Gravur auf einem wappenartigen Schild, das im Gewölbe über der Orgel angebracht ist.
– Mille Fellmann leiht mir ein umfangreiches Sammelwerk über Gottesbeweise (Geschichte, Argumentationen, Beweise, Falsifizierungen usf.); die ungemein anregende Lektüre führt von Aristoteles bis hin zu Kurt Gödel und macht deutlich, mit welchem intellektuellen Aufwand und mit wie viel Scharfsinn im Verlauf der Jahrhunderte Konzepte wie Unendlichkeit, Allwissenheit, Allpräsenz, Weltschöpfung, Unfehlbarkeit, Allmacht, Nichts usf. zusammengedacht wurden, aber auch, wie man immer wieder versuchte, rationale Erkenntnis und positives Wissen mit dem Gottglauben zu versöhnen. In vielen Gottesbeweisen verbinden sich Wissenschaftlichkeit, Glaubenskraft, Spekulation und Philosophie zu einem poetischen Denken, dessen funktionale und formale Spezifik offenbar noch weitgehend unerforscht ist. Der Poesie am nächsten kommt die theologische Exegetik vor allem dort, wo sie einen festen Gottglauben voraussetzt und ihn gleichzeitig zu begründen hat – da braucht es, fern der Logik und oft ihr entgegengesetzt, ingeniöse Fantasielösungen, die in gedanklichen, rhetorischen, metaphorischen Figurenbildungen von höchster Einbildungskraft ihren Ausdruck finden. Für mich, Agnostiker, ist Gott … ist das Göttliche auch ohne religiöse Zuwendung und ohne sprachliche Offenbarung vorstellbar, also nicht in Begriffen, nicht in Bildern, nicht in Beschwörungsformeln und nicht in quasirationalen Zahlenspielen, sondern konkret als das, was hier und jetzt da ist; was in seiner Vielfalt und Unverwechselbarkeit da ist, obwohl es gar nicht da sein müsste, also auch nicht da sein könnte. Jede Fingerkuppe, jede Iris, jedes Nasenprofil, aber auch jeder Fliegenrüssel, jedes Spinnenbein, jede Fischschuppe, jede Tannennadel ist eins, ist unverwechselbar und gehört als ein Einzelnes einem ebenso einzigartigen größeren Ganzen an, und dieses größere Ganze findet seine Vollendung in dem, was alles ist, was das All ist, dessen Grenzen so weit ausgedehnt sind, dass es ein Anderes nicht geben kann, es sei denn es selbst als das Nichts. Gott, das Göttliche wäre dann konkret das Eine, in dem alles Einzelne begriffen ist, ein Einziges, das alles ist, folglich auch nichts sein könnte, da es, weil es alles ist, auch das Nichts einschließen müsste. Usf. Doch das ist kein Gottesbeweis … ist auch nur ein Glaubenssatz, eine Möglichkeitsform. Statt Gott oder das Göttliche als das Eine zu denken, das zugleich alles je Einzelne wäre, ließe es sich doch auch als das Eine annehmen, das in jedem Einzelnen ganz anwesend, mithin gegeben wäre? Nicht alles umfassend, sondern allem innewohnend. Doch auch dies – wie alles, was sich zu Gott, zum Göttlichen überhaupt sagen lässt, ist wohl längst gesagt. Nur wer aufs Konkrete kommt und darauf zeigt – das da, der da, die hier! –, ist ihm – Gott, dem Göttlichen – auch nah. Da, dieser Kiesel, dieser Dämmerschein, dieses Rauschen im Birkengeäst – das ist’s, dem das Göttliche (oder auch bloß etwas Göttliches) innewohnt und wo es sich verbirgt. Aber wissen kann man es dann doch wieder nicht, schon gar nicht beweisen. Mir genügt die Vorstellung, dass dieser Kiesel, dessen Rundung, dessen Gewicht, dessen Wärme ich in meiner Hand fühlen kann, eine von beliebig vielen realisierten Möglichkeiten Gottes oder des Göttlichen ist. Stein, Holz, Eisen waren die Grundmaterialien für die gotische Kathedralarchitektur, und die technische und ästhetische Verschränkung dieser Materialien sollte dazu beitragen, die Präsenz des Göttlichen im Gotteshaus fühlbar zu mach … sichtbar werden zu lassen, sie zu konkretisieren in der formlos fluktuierenden Gestalt des erfüllenden Lichts. Doch Vergleichbares begegnet mir täglich im Wald … begegnet mir, wenn ich unterwegs bin auf dem steinigen Weg, über dem sich das Rauschen des Laubs, das Knacken der Äste, das Piepsen und Singen der Vögel, das Säuseln des Winds, das Plätschern der Bäche und Quellen, dazu die zahllosen Formen und Farben, die Licht- und Schattenfiguren zu einem natürlichen Gewölbe zusammenfinden, in dem alles – auch das Widerständige, Abweichende, Gegensätzliche, Hässliche, Lächerliche, Abstruse, Triviale und Grandiose – seine Richtigkeit und seinen gemeinsamen Ort hat.

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