8. November

»Auf dem glatten, glänzenden Asphalt schimmerten verschwommene rötliche und violette Reflexe, hier und da von Regenpfützen unterbrochen, in denen sich die wirklichen, lebendigen Farben spiegelten – eine himbeerfarbene Diagonale, ein blaues Segment, einzelne Lichter einer umgestürzten Welt in verwirrend bunten geometrischen Figuren. Die Perspektiven änderten sich beständig, als würde die Straße geschüttelt, wobei die unzähligen Farbensplitter in der schwarzen Tiefe ihre Lage wechselten. Lichtkegel glitten vorüber und zeigten die Bahn jedes Autos. Die Schaufenster, platzend vor Lichterfülle, träufelten, spritzten, ergossen sich in die Finsternis. Und an jeder Ecke stand wie ein Zeichen unerhörten Glücks eine hellbeinige Dirne, und hinter ihr eine zweite, eine dritte … Jede Laterne, die wie ein Stern im Dunkeln aufquoll, jeder rote Reflex, jedes Flimmern der rotierenden, schreienden Reklamelichter, die schwarzen Gestalten, die in den Nischen der Hauseingänge flüsterten, irgendwelche halbgeöffnete Lippen, die vorüberschwebten, und der schwarze, feuchte, spiegelnde Asphalt, alles erhielt eine Bedeutung, floss zusammen, bekam einen Namen …« Nichts geschieht in dieser rein deskriptiven Szene, doch alles wird zum Ereignis, das Beschriebene ebenso wie das Schreiben, und zuletzt dann – jetzt! – das Lesen. – Auch die russischen Straflager sind nicht mehr das, was sie einst zu Sowjetzeiten waren. Damals waren sie Megamaschinen des Staatsterrors, die millionenfach menschliche Arbeitskraft unter mörderischen Bedingungen ausbeutete und gleichzeitig – unter rücksichtslosem Verschleiß höchster Talente – millionenfache Opfer in Kauf nahm. Heute beschränkt sich der Lagerzwang nach dem Zeugnis entlassener Häftlinge auf mediokre Schikanen und Entwürdigungen. Der Anwalt einer aus politischen Gründen zu Deportation und Zwangsarbeit verurteilten Journalistin hat heute dem Korrespondenten der ARD in Moskau berichtet, seine sechsundzwanzigjährige Mandantin müsse, erstens, täglich während vierzehn Stunden Armeeuniformen nähen und es sei ihr, wie allen weiblichen Lagerinsassen, zweitens strikt verboten, sich »unten herum« zu waschen – nach dem Gang aufs Klo, während der Menstruation: Das Verbot ersetzt die Folter. Die angebliche Verbrecherin soll stinken. Damit gibt man ihr auf glimpflich-brutale Weise zu verstehen, wie man ihre Würde einschätzt. Auch in verhältnismäßig geringen Dosen halten hier menschliche Niedertracht und menschliche Erniedrigung die Tyrannei einer ruchlosen, perfekt krawattierten Führungsclique aufrecht, die dank global durchgesetzter politischer »Korrektheit« keinerlei Einspruch zu gewärtigen hat. Mit Gerechtigkeit ist verbrieftes Recht weder in Diktaturen noch in Demokratien kompatibel. Sei’s drum? – »Den Berg hab ich selbst gebaut. Bergbau, man weiß es, geht ja…ach! in die Tiefe. Da sich mein Berg also nicht versetzen lässt, suche ich ihn hin und wieder auf, besuche die Stollen und Nischen und Reservoire und drin meine Untertanen und Tanten. Alles selbst erdacht und so gewollt, und weil es so ist, wartet natürlich keiner auf mich. Dennoch komme ich gern auf mein Werk zurück, zwei-, dreimal jährlich steige ich zu den Meinen hinab. Neues ist dabei nicht zu entdecken, der gesamte Bau und all seine Bewohner – man hält sie für Gefangene, sie sind aber nur einfach meine Gäste, einige von ihnen gehören zur nähern Verwandtschaft, die meisten sehn mir zum Verwechseln ähnlich. Wieso zieht es mich trotzdem zu ihnen hinab? Wieso hab ich überhaupt den Berg zu meinem Werk gemacht? Vielleicht in der uneingestandnen Hoffnung, mich drin zu verirren! Jeder, nicht wahr, baut sich sein eignes Labyrinth, es muss ja nicht gleich ein abgründiger Berg sein, manche ziehn einen Turmbau vor, andre wiederum begnügen sich mit einem Schrebergarten, einer Rennstrecke, einem Zweifel, einer Weltkarte, einem Stammbaum, einer Modelleisenbahn, einem Familienalbum, einer Illusion. Soll mir aber keiner mit Minos kommen, oder mit Tauros; erstens sind beide eins, zweitens bin beide ich. Jedenfalls dann, wenn ich wieder mal unterwegs zum Bau bin. Nicht nur aus Kontrastgründen, auch aus Reue und Respekt vor meinen Gästen geh ich nie nicht mit einem bunten Schock von Schnittblumen in den Berg. Schon beim Einfahren fang ich mit dem Ausstreuen an, achte erst noch auf die Farben – Violett, Blassrosa, Mauve, Karmin –, doch bald wird’s dann zu dunkel, und ich werfe die Blumen unterschiedslos in die nächtlichen Gesichter. Es gibt keinen Dank dafür, auch keinen Protest. Lautlos schließt sich das Dunkel über mir, vom Eingang dringt kaum noch Licht herunter, ich taste mich an den wärmer werdenden Wänden entlang, streife wohl manchmal einen der Verblichnen, knipse die Stirnlampe an, und gleich sind die Schatten gelöscht. Das eigentliche Ungeheuer sitzt tiefer. Ich habe … ich hätte bis zum Eintreffen dort noch einen langen Abstieg zu bewältigen, bin aber jedes Mal davor zurückgeschreckt, schreiend herumgefahren, als hätte ich mir selbst eine Hand auf die Schulter gelegt. Es ist ein Horror. Es ist zum Lachen. So frei bin ich also auch wieder nicht. Um ehrlich zu sein, manchmal denke ich … manchmal kommt’s mir vor, als wär ich bloß ein Mitgefangner meiner Leute im Berg«, meint kleinlaut der sonst so selbstbewusste Bergbaukönig: »Das eigentliche Ungeheuer bin ich, und doch sitze ich noch immer nicht tief genug.«

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