9. April

Um sechs Uhr aufgestanden und gleich los ins Gelände. Der Morgen graut tatsächlich nach einer stürmischen Nacht mit Regenschauern. Doch mein Weg ist bereits wieder trocken, weithin bestreut mit Zweigen und Astwerk, die der Wind herabgeprügelt hat. Der Wald sieht aus wie eine leergefegte gothische Kathedrale – nur die hohen schlanken Säulen stehen noch, am obern Ende verbunden durch gekreuzte Bögen. Nicht auszumachen, woher das Licht, woher der Tag kommt. Bin ohne Frühstück ausgegangen – nach einer halben Stunde beginne ich den Zuckermangel zu spüren, das Zittern in den Knien, die Malaise im Bauch. Sitzbänke gibt’s auf dieser Strecke nicht. Ich muss den Gang verlangsamen, die Schwäche wird akut. Erschöpft und ausgehungert komme ich zu Hause an. – In einer weitschweifigen, von ihm selbst als »zweideutig, wenn nicht widersprüchlich« bezeichneten Fußnote zur zweiten Auflage seiner Hegelexegese (1962) prognostiziert Alexandre Kojève, dass mit dem absehbaren Verschwinden des »Menschen im eigentlichen Sinn« und damit auch der »menschlichen Rede (logos) im eigentlichen Sinn« eine Natürlichkeit zurückgewonnen werde, von der nicht zuletzt die Künste betroffen wären. »Man müsste also annehmen«, liest man bei Kojève unterm Strich, »dass nach dem Ende der Geschichte die Menschen ihre Bau- und Kunstwerke so schüfen, wie die Vögel ihre Nester bauen oder wie die Spinnen ihre Netze weben«, und dass sie, zur Animalität zurückgekehrt, »durch bedingte Reflexe auf stimmliche oder mimische Signale reagieren«, mithin eine Ausdrucksweise »ähnlich der angeblichen ›Sprache‹ der Bienen« entwickeln würden: »Das heißt, der posthistorische Mensch muss, obgleich er nunmehr von allem Seienden in adäquater Weise spricht, fortfahren, die ›Formen‹ von ihren ›Inhalten‹ zu lösen, nicht mehr um letztere aktiv zu trans-formieren, sondern um sich selbst als reine ›Form‹ sich und den anderen als beliebige ›Inhalte‹ entgegenzusetzen.« Die beim ersten Lesen kaum verständliche, beim zweiten Durchgang aber geradezu prophetisch sich verdichtende Aussage spricht dem posthistorischen Menschen nichts weniger als die Menschlichkeit ab, indem sie den homo von der sapientia trennt: »Was also verschwinden würde, wäre nicht nur die Philosophie oder die Suche nach (diskursiver) Weisheit, sondern darüber hinaus diese Weisheit selbst. Denn es gäbe bei diesen post-historischen Tieren keine (diskursive) ›Welterkenntnis und Selbsterkenntnis‹ mehr.« Dem wäre beizufügen, dass die »Kunst des Schreibens« dann weder »zwischen den Zeilen« (als Subversion) noch an der Textoberfläche (als Simulation) zu praktizieren wäre, weil sie nämlich ganz und gar überflüssig würde, abgelöst und ersetzt durch elementare Verlautbarungen wie Schreie, Seufzer, Gelalle, Gestotter. So weit – so weit zurück – sind wir noch nicht. Bevor wir, »die Menschen«, die diskursive Rede gänzlich aufgeben, um uns (bestenfalls) in orphischen Urworten zu artikulieren, werden wir laut Kojève als »unbedarfte Strolche« noch eine Weile im glückhaften »Alltagstrott des banalen Lebens« überdauern und den »Sonntag des Lebens« genießen, »der alles gleichmacht und alle Schlechtigkeit entfernt«. Positive Utopie?! – Ingomar von Kieseritzky fährt mich in seinem Ro 80 – mit Wankelmotor! – durch Charlottenburg zu sich nach Hause. Auf der Sitzbank hinten liegt mit angezogenen Knien eine große Frau, die wohl zu mir gehört, obschon sie nach eigenem Bekunden Hinsberg oder Ginzburg heißt. An der Bleibtreustraße betreten wir, angeführt von einem aufgeräumten Ingomar, eine altmodisch eingerichtete Wohnung, Stil 1960er Jahre, alles in Hellgrün und Spermagrau gehalten. Es herrscht schwerfällige amerikanische Eleganz vor; es gibt keine Fenster, keinerlei Öffnung nach außen … außer der Schießscharte, zu der einzig Kieseritzkys Makaroff passt. Ich fühle mich eingeengt … fühle mich wie ein Gefangener, vermute dass mich Kieseritzky hierher entführt hat, um meine Geistesgegenwart und meine Treue zu Katharina zu testen. Als er den Salon kurz verlässt, um einen Drink zu holen, setze ich mich durch den Notausgang ab, bin jedoch, wie ich erst unten in der Straße feststelle, ohne Hose, ohne Schuhe, ohne Geld. Wie weiter? Und wohin? Kein Taxifahrer wird mich aufnehmen, keiner wird die Adresse kennen. In die S-Bahn einzusteigen, ist mir … wäre peinlich, und ich will nun unbedingt zurück in die Wohnung, um meine Klamotten zu holen, sehe in diesem Augenblick, wie Kieseritzky in seinem schweren Wagen vorbeigleitet, Katharina, mit der Stirn auf dem Armaturenbrett, kauert auf dem Beifahrersitz. Also kann ich’s versuchen, arbeite mich mühsam nach oben und finde Kieseritzkys Wohnung verlassen vor – kein Möbelstück, kein Spiegel, alle Bücher weg und … was suche ich eigentlich hier? – Das Wetter ist bald mit »Frühling«, bald mit »Herbst« angeschrieben, das ständige Geplänkel zwischen Hoch- und Tiefdruck, Frische und Wärme, Regenfall und Lichtfülle macht mich auf befreiende Weise gleichgültig. So oder anders … es läuft aufs Gleiche hinaus. Ob Revolution, Reform oder bloße Wende – alles tendiert zum Rücklauf … zum Rückfall ins überwunden Geglaubte. Fünfundzwanzig Jahre nach dem »historischen« Umbau im Osten herrscht in Russland unter dem Emblem des alten Doppeladlers – gestützt von der Orthodoxie und einem Clan von Oligarchen – eine neostalinistische Machtvertikale, die zwar ohne Kommunisten, aber auch ohne bürgerliche Tugenden und demokratische Kriterien auskommt. Was ist seither aus Rumänien, Bulgarien, Serbien geworden? Aus Moldawien, der Ukraine, Kasachstan? Was hat der Macht- und Richtungswechsel im Irak gebracht? Der »arabische Frühling«? Fast überall sind die Reformen demokratisch legitimiert, doch die Mehrheiten tendieren genauso zum Despotismus wie einst die Despoten. Die starke Hand, der starke Führer, das starke Zentrum – das sind die neuen, dabei uralten Optionen, und diese werden machtvoll animiert durch religiöse und ideologische Vorurteile. Man mag das bedauern, doch es ist menschlich … es entspricht der allgemeinmenschlichen Gravitation zur einfachsten Lösung, zur geringsten Verantwortung. – Im Gespräch vergleicht Krys die gewissenlose Tyrannis der Mehrheiten mit dem aktuellen hiesigen Kunstbetrieb: Auch hier verlagere sich die Autorität mehr und mehr auf das Publikum, das durch rein quantitative Kundgaben wie Einschaltquoten, Nachfrage, Likes, Kundenkommentare usf. die Produktion der Autoren konditioniert. Dadurch wäre auch erklärt, weshalb Personalstile sich zusehends verlieren zugunsten eines international geförderten und geforderten Allerweltstils, wie er global an Kunstinstituten und in Workshops eingeübt, an Kunstmessen lanciert wird. Betrachtet man diese Entwicklung nicht nur kunstkritisch, sondern auch kunsthistorisch, so wird deutlich, wie weit die zeitgenössische künstlerische Kultur hinter den Errungenschaften der klassischen Moderne zurückliegt. – Meine ›Gegengabe‹ (Vorausexemplar) ist da – schön, das Buch in der Hand zu haben als ein fremdes, als eine Gegengabe eben, die nicht mehr mir, sondern allen andern gehört. Verlust? Gewinn? – Mit zunehmenden Schwierigkeiten schreibe ich weiter an ›Alias‹. Heute beim Zurückblättern und Vorausdenken stellt sich plötzlich … stellt sich bedrohlich schon wieder der Zweifel ein, ob ich das schaffe … ob das überhaupt geht … ob ich diese Sache retten kann. Aber – retten! – für wen? – Furchterregender … furchterregend plötzlicher Wetterumbruch, sintflutartige Störungen, dröhnender Kopf seit Stunden. Ich verbringe den Tag im Bett, schlafe unter der wärmenden Leselampe ein, wache wieder auf mit noch mehr Weh im Kopf, nehme eine möglichst kalte Dusche, versuche im Kamin ein Feuer zu entfachen, was aber misslingt, da der schräg fallende Regen durch den Abzug herab aufs Brennholz tropft. Dass vorübergehend auch noch die Elektrizität ausfällt, erstaunt mich nicht, es hat seine Richtigkeit. Ich brauche in dieser … ich brauche in einer solchen Situation weder Buch noch Frau, meine Opiumtinktur und ein Codeinpräparat verhelfen mir zu zwanzig Stunden Schlaf – leider traumlos, wie immer, wenn ich entschlafen bin.

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