9. Februar

Ich notiere mal (ins Heft neben dem Teller) ein paar Überschriften und Untertitel aus der heutigen Presse: »Neue Allianz im Fluglärmstreit«, »Mobilisierung gegen Frankreichs Abstieg«, »666 Millionen sollen konfisziert werden«, »Die chinesische Flohfolter«, »Die Deutschen reisen nicht mehr ins Tessin«, »Frankfurter Rundschau insolvent«, »Anglikanischer Bischof festgenommen«, »Hymne zur Einheit spaltet die Geister«, Genfs Staatskanzlerin demissioniert«, »Jagd auf Dissidenten«, »Giftiger Ölschlamm«, »Zwangsehen in Kirgistan«, »Missglückter Start der neuen Koalition«, »Argentinien will Ghana anklagen«, »Der Kohlekonzern, der sich selber kaufte«, »Hauruckverfahren als Ärgernis taxiert«, »Schon länger in Nöten«, »Frei praktizierende Hebammen im Warnstreik«, »Höhere Rechnungen wegen Netzkosten«, »Parlamentsdach aus roten Ziegeln«, »Warum Bewährtes aufgeben?«, »Fluglärmgegner sind uneins«, »Polenmuseum muss auf Vertrag warten«, »E-Government wird forciert«, »Wer zu spät kommt …«, »Neue Zentrale für Notrufe«, »Rücktritt von Piergiuseppe Snozzi als Chorleiter«, »Die Rückkehr der Untreuen«, »Die Tiergesundheit nicht gefährden«, »Eine heilsame Krise für die BBC«, »Blühendes Geschäft mit gefälschten Esswaren«, »Zigaretten in Särgen geschmuggelt«, »New York braucht Geld«, »Axtmörder zu Haft verurteilt«, »Pferdefleisch in Tiefkühlprodukten«, »Hilfe für Athen entzweit Helfer«, »Generalstreik in Spanien«, »Hartes deutsches Pflaster«, »Fatale Folgen der Erdbebenhilfe an Haiti«, »Jugend ohne Arbeit in Portugal«, »Europa als Klumpenrisiko«, »Das Geschäft mit den Selbstanzeigen«, »Geld für Osteuropa wird knapp«, »Verhandlungen über EU-Haushalt geplatzt«, »Zum Hinschied von Dr. Dieter Bohlen«, »E.On buchstabiert zurück«, »Blasenkunde für den Immobilienmarkt«, »Russlands Wirtschaft ausgebremst«, »Eine Generation vor der Perspektivlosigkeit«, »Weatherford von der Rolle«, »Vodafone mit hohen Abschreibungen«, »Die Rückkehr der Angst«, »Renditen weiter auf Tiefststand «, »Europa und die USA belasten Asiens Börsen«, »Spielverderber EV Zug«, »Im Windschatten von Djokovic«, »Martina Schild nicht an den US-Skirennen«, »Nasenstüber für das Rechtsempfinden«, »Freipass für Wettbetrügereien«, »Die Melancholie des Harlekins«, »Die Fatalität des Bösen«, »Religiöse Konvertiten«, »Hochspannungsleben«, »Zweierlei Maß«, »Keine Resonanz«, »Der alte Mo«, »Eine Tropennacht im Herbst«, »Selbstheilung beim Zebrafisch«, »Unsteter Wärmestrom in der Atlantikzirkulation«, »Ein Totenheer im jütländischen Moor« usf. – Die Fließschrift des Tages! Ob’s noch Fragen gibt? – Abends mit Krys in der Tonhalle beim Rezital von Mikhail Pletnev, Sonaten und Rondos von Carl Philipp Emanuel Bach. Wir sitzen auch diesmal auf der Empore hinter und über dem Podium, können also dem Pianisten direkt auf die Hände sehn. Mir fällt auf – bei Pletnev wie bei andern starken Pianisten auch –, dass die Geste des Anschlagens … die Geste des In-die-Tasten-Greifens sich hier scheinbar in ihr Gegenteil verkehrt – was aussieht, als würden die Töne aus der Tastatur gezogen, wie Fäden … wie unterschiedlich lange Fäden, die sich unsichtbar in die Luft verlängern, sich in der Schwebe halten, dann sich auflösen. Den Druck als Zug ausüben! Ob sich das mit dem Schriftzug vergleichen ließe? – Nachts mit Lukrez bis um halb zwei. Ob ›Von der Natur der Dinge‹ oder ›Vom Wesen des Weltalls‹ – hier wird durchweg im Interesse der Sache gesprochen, nein, der Autor singt in beschwingten Versen … besingt das heitere Elend, die trostreichen Ängste, die freundliche Niedertracht, die triumphale Beschränktheit des Menschen im Arrest der Endlichkeit von Körper und Seele. Wo sonst … bei wem sonst verbindet sich souveräner Unglaube mit soviel Lebensmut und Freude, Illusionslosigkeit mit Fantasie, Sinnleere mit höchstem Formbewusstsein. Und so weiter und so fort. Ein Buch von unerschöpflichem … ja, was? von unerschöpflichem Interesse, unerschöpflich allemal, in jeder Hinsicht, und deshalb auch nie auszulesen. Ich lese Lukrez in immer wieder andern Übersetzungen, andern Sprachen, also immer wieder neu – seine Gesänge sind ein hohes Lied auf unsre wundersame Wenigkeit, sie sind ein Evangelium der hochgemuten Resignation, sie beseitigen Vorurteile und Zweifel, stärken die Souveränität der Verzweiflung: »… gleich bleibt sich auf ewig doch alles.« Der heute verbreitete Wahn von anhaltender Jugendlichkeit und – gleichzeitig – das Streben nach immer noch höherem Alter, wenn nicht nach Unsterblichkeit, findet bei Lukrez ein halbes Jahrhundert vor Christus eine ebenso dezidierte Absage wie die globale Zockermentalität unsrer Zeit; etwa so (im dritten Gesang): »außerdem treten wir stets auf der Stelle, behaupten sie durchweg; | längeres Leben verheißt uns keinerlei weitere Freuden. | Aber stets gieren wir weiter, das jeweils Begehrte behauptet | nie nicht den Vorrang, und haben wir dieses, erstreben wir jenes, | pausenlos lässt uns der Durst nach dem Leben gleichbleibend lechzen.« Jedoch: »Durch das Verlängern des Lebens verkürzen die Frist wir des Todes | nicht im geringsten …« So bleibt denn auch für den Schlaf nicht mehr allzu viel Zeit, ich bin schon um sechs wieder wach, doch die Splitter so vieler Träume bringe ich nicht wieder zusammen. Bei Lukrez dagegen kann ich jederzeit nachlesen, was es mit Tag und Traum auf sich hat. – Fehler! ein fehler ist jedem schon (paaiert) passiert
aaaaaauch wenn er sich nicht geirrt hat.
aaaaader fehler ist nämlich kein irrtum,
aaaaasondern eine falsche. daraus
aaaaawird leicht eine flasche. daß sie zerbricht
aaaaaist ein fehler, kein irrtum.
– Wenn Ernst Jandl dieses kleine Gedicht – es ist ein Gelegenheitsgedicht vom 11. November 1978 und findet sich erstmals abgedruckt im Band ›der gelbe hund‹ von 1980 – knapp und dezidiert mit »ein fehler« betitelt, kann dies … könnte dies zweierlei bedeuten. Es könnte bedeuten, dass in dem Gedicht von einem vorgefallenen oder begangenen Fehler die Rede ist, dass mithin ein erkannter Fehler Gegenstand des Gedichts ist; es könnte aber auch, einfacher und radikaler, bedeuten, dass eben dieses Gedicht beziehungsweise dessen Niederschrift ein Fehler war. Die Vergangenheitsform ist hier unabdingbar. Denn ein Fehler, ob er ungewollt vorgefallen ist oder gewollt begangen wurde, lässt sich erfahrungsgemäß immer erst im Nachhinein als solcher erkennen. Von daher ist auch anzunehmen, dass Jandl den Gedichttitel erst nach der Niederschrift des Texts gewählt und gesetzt hat. Tatsächlich kommen in diesem Text manche Regelverstöße vor, die man für Fehler halten müsste, wenn sie nicht gleichzeitig als solche thematisiert und kommentiert würden. Es handelt sich also um gewollte, vielleicht auch bloß um bewusst zugelassne Fehler. Sind aber bewusste, gar gewollte Fehler als »Fehler« zu bezeichnen? Und … oder was ist denn überhaupt ein Fehler? Jandl selbst beantwortet diese Grundsatzfrage in den beiden zentralen Versen des Gedichts, und er beantwortet sie ex negativo, dadurch nämlich, dass er sagt, was ein Fehler nicht ist beziehungsweise was kein Fehler ist: der fehler ist nämlich kein irrtum, sondern eine falsche. Das nimmt sich aus wie eine Definition, ist aber, wie man aus dem philosophischen Propädeutikum weiß, eine falsche, jedenfalls unzureichende Definition: Eine Flasche, wer auf solche Weise definieren wollte, was ein Fehler ist! Doch Jandl definiert den Fehler als etwas, das kein Irrtum sei, sondern – was denn? – »eine falsche«. Der Unterschied oder Gegensatz zwischen »Fehler« und »Irrtum« besteht darin, dass der Irrtum ungewollt und unbewusst unterläuft, mithin zufallsbedingt ist, wohingegen der Fehler – als Fehlleistung oder auch als Fehlentwicklung – stets in Bezug auf ein vorgegebenes, als richtig geltendes Schema zu denken ist (als Norm, Muster, Modell, Regulativ, Gesetz), von dem er abweicht oder dem er zuwiderläuft. In solch elementarem Verständnis wäre schon der Gedichttitel ein fehler ein Fehler, da für Substantive noch immer die Großschreibung gilt. Fehler beziehen sich demnach auf Aktivitäten, die man fälschlicherweise ausübt oder unterlässt, zudem auf Haltungen, Überzeugungen, auch Formbildungen, die als verfehlt zu gelten haben im Abgleich mit akzeptierten Normen. Irrtümer wiederum gehören zur Dimension des Möglichen und finden demzufolge ihre Referenz in Vermutungen, Erwartungen, Hoffnungen, kurz – im Raum des Konditionalen. Es gibt, um das vielleicht klarer zu machen, angeborne Fehler, nicht jedoch angeborne Irrtümer, und es gibt, um nun erneut bei Jandl einzukehren, intendierte Fehler, aber keine intendierten Irrtümer. Ernst Jandls Interesse gilt, wie der Gedichttitel ankündigt und der Gedichttext bestätigt, dem »Fehler« beziehungsweise – nach Duden fehlerhaft orthografiert – dem »fehler«. Gleich in den beiden Eingangszeilen wird der Fehler explizit vom Irrtum abgesetzt: ein fehler ist jedem schon (paaiert) passiert auch wenn er sich nicht geirrt hat.

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