9. Mai

Der Eurovision Song Award geht in diesem Jahr erstmals an Russland; Regierung wie Private haben Millionen in die Vorbereitung des Events investiert, und dies nicht primär mit dem Ziel, den Award zu gewinnen, sondern vor allem im Hinblick darauf, dass der nachfolgende Wettbewerb im Land, in der Stadt des Siegers durchgeführt wird – wiederum ein Millionenunternehmen. Der preisgekrönte Song wurde nach Vorgaben eines bekannten US-amerikanischen Produzenten vom russischen Popidol Dima Bilan auf Englisch vorgetragen – an seiner Stelle hätte ebenso gut ein Brasilianer oder eine Lettin stehen und singen können. Die Erwartungen und Anforderungen sind in diesem Geschäft längst global instrumentalisiert, Individualität, Eigenständigkeit haben bei solch weitgehender Standardisierung keinerlei Chance mehr, was zählt, ist die Anpassungs- und Konsensfähigkeit. (Um die Korruption für einmal aus dem Spiel zu lassen.) Ein Gleiches gilt für den internationalen Literaturbetrieb. Nach- und Mitschreiben ist wichtiger, vor allem erfolgsträchtiger als Selbstschreiben. Doch die meisten Literaten halten weiterhin, im Widerspruch dazu, an ihrem Anspruch auf individuelle Erkennbarkeit und künstlerische Originalität fest. Entsprechend fällt ihre Selbstdarstellung aus – Pressefotos, Homestories, TV-Auftritte, Lesungen. Der Autor von einst ist zum Image verdampft, Autorschaft unterliegt vor allem institutionellen und marktwirtschaftlichen Vorgaben, tendiert deutlich zur Publizistik, zur Reportage, zum Selbsterlebensbericht; doch mehr als eine von vielen gleichartigen Stimmen aus dem globalen Literatenchor ist kaum noch zu vernehmen, seitdem die Qualitätskriterien weitgehend durch Literaturinstitute, Schreibwerkstätten, öffentliche Lesekonkurrenzen und Publikumsjurys bestimmt werden. Der Tod des Autors! Der Tod der Literatur! Das waren um 1970 provokante Slogans, und mehr als das – es war der Höhepunkt strukturalistischer Theoriebildung. Damals überwog bei der zünftigen Kritik das Kopfschütteln; heute kann man dazu – mit Blick auf den Mainstream einerseits, auf die künstlerische Ausnahmeliteratur anderseits – nur nicken. – Heute früh vorm Wald ein Moment vollkommener Schönheit: Ich höre von fern ein rhythmisches Stampfen und Hallen, das gleichzeitig aus der Erde und von oben zu kommen scheint; ich geh weiter in Richtung der Forellenteiche, kann jetzt ein Stapfen zwischen Trab und Galopp unterscheiden, sehe über mir im steilen Hang ein junges schmales Pferd mit perfekter Silhouette hin und her sprengen an der Einzäunung entlang, den Hals drehend, den herrlichen Kopf hochwerfend, leise schnaubend, plötzlich einhaltend, auf mich herabsehend so, dass unmissverständlich klar wird, wer oben, wer unten ist. – Immer wieder komme ich ins Staunen vor der militanten Hässlichkeit heutiger Automobil-, Möbel-, Spielzeug- und Gerätegestaltung, aber auch im Design von TV-Studios oder PC-Spielen. Klar ist, dass sich diese formschwache Ästhetik machtvoll durchsetzen kann, weil eine Mehrheit von Verbrauchern sie genau so haben will und sich zu eigen machen kann. Staunenswert auch, dass die zumeist schwellenden, gleichsam organisch konzipierten Formen ihre Berechtigung tatsächlich aus ergonomischen oder bionischen Prämissen gewinnen können. Dass sie, außer »nützlich« und »funktional« zu sein, auch der Bequemlichkeit entgegenkommen, ist vermutlich der Hauptgrund ihrer generellen Akzeptanz. Solcherart gestaltete Armaturen, Geräte, Schuhe, Baukörper, Wohnräume, Arbeitsplätze entlasten von scheinbar unnötigen Bewegungen, also Anstrengungen, entlasten überdies von der Notwendigkeit, sich ihnen anzupassen – sie sind menschlicher Wellness vorab schon angepasst, sie liegen gut in der Hand, können leicht und ohne Aufmerksamkeitsaufwand bedient werden, passen sich dem weit verbreiteten Bequemlichkeitsbedürfnis an oder provozieren es sogar – ich denke an teigig verformte PC-Tastaturen, an rundliche Autokarosserien, Lavabos und Badewannen, an Sessel, Bürostühle und Betten, Putzgeräte und Gadgets aller Art, auch die Kleidung, deren einzig anerkannter Stil die multioptionale Stillosigkeit zu sein scheint, wogegen alles, was nach »Schale« und »Uniform« welcher Art auch immer aussieht, nur noch in abgehobenen Gesellschafts- und Berufskreisen sich halten kann (weißes Hemd, Hose mit Bügelfalten, Schlips, Jacke mit Gilet, Deuxpièces usf.), es sei denn, sie werden – etwa als Naziuniform oder als Priestersoutane – in parodistischer beziehungsweise in provozierender Absicht getragen. Von daher sind die großen ästhetischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts – Innovationen wie der architektonische Funktionalismus, die Bauhausprogrammatik, der niederländische Stijl, die sogenannte gute Form nach dem Zweiten Weltkrieg, die »Konkreten« in der Bildkunst usf. – längst von gestern und weit davon entfernt, reaktiviert zu werden. Man hat jene strengen Vorgaben und Ausprägungen der klassischen Moderne immer wieder, bevor sie dann in Vergessenheit gerieten, als »weltfremd«, »unpraktisch«, sogar »menschenfeindlich« gerügt. Tatsächlich ist – um dieses eine Beispiel zu nennen – das Sitzen im Würfelstuhl von Le Corbusier, auf dem Holzgestell von Rietveld oder den Klubstühlen von Rodtschenko eher eine Anstrengung denn ein Vergnügen. Auf solchen Sitzmöbeln kann man sich nicht räkeln, man erholt sich nicht, man wird niemals zwischen den rechtwinklig gefügten Elementen einschlafen. Wozu zwei Fragen oder Überlegungen sich aufdrängen. Einmal die Frage, ob und weshalb Bequemlichkeit (verstanden als die Möglichkeit, »sich gehen zu lassen«, »es auf sich beruhen zu lassen«) prinzipiell Vorrang haben sollte vor andern Qualitäten wie zum Beispiel Reinheit der Form, Material- und Verarbeitungsqualität, Schnörkellosigkeit, Künstlichkeit (versus Natürlichkeit). Außerdem bleibt zu überlegen, wie gerade die rigidesten Designideen mit dem Anspruch verbunden wurden, »funktional« zu sein, obwohl doch gerade der Mangel an Funktionalität und Nützlichkeit bei einem Bauwerk von Ginzburg oder Neutra oder Mies van der Rohe eklatant ist. Und letztlich die Frage nach dem Zusammenhang von Funktionalität und Schönheit beziehungsweise, aus heutiger Sicht, von Funktionalität und Hässlichkeit. Ich vermute nämlich, dass die in heutigem Design realisierte anthropomorphe Gestaltung (die ich hässlich finde, weil sie bloß funktional ist) so etwas wie einen Kuscheleffekt erzeugt (Autos oder elektronische Haushaltgeräte gleichsam als Haustiere) und deshalb ästhetisch befriedigend sein kann, wohingegen ästhetisch unbefriedigend all das bleibt, was auf eigener, selbstgenügsamer Formgebung beruht und keine Ähnlichkeit zu menschlichen Körperformen oder Organen aufweist. Dass selbst das Design von Hightec-Robotern am Körperschema des Menschen ausgerichtet wird, macht deutlich, wie stark der Maschinismus bis heute anthropomorph geprägt ist. Hier tut sich, unter ästhetischem Gesichtspunkt, der Konfliktbezug zwischen Natur und Kultur auf. Der emanzipierte »wissende Mensch«, die sich emanzipierenden, aufgeklärten Epochen tendieren zur Naturbeherrschung, zur Begradigung und Domestizierung naturgegebener, etwa topografischer Fakten, sie stellen den Menschen der Natur nicht nur gegenüber, sondern stellen ihn ihr entgegen, so wie – noch ein Beispiel – Peter der Große im Sumpfgelände der Newamündung die Metropole Sankt Petersburg hat errichten lassen als geometrisierte, die dortige Landschaft konterkarierende Stadtanlage, die wie ein Raster über die vielfach gewundenen Flüsschen, die stehenden Gewässer, die Inseln gelegt wurde ohne jede Berücksichtigung sowohl der Naturgegebenheiten als auch der menschlichen Bedürfnisse. Beides, Natur wie Mensch, wird heute großgeschrieben, die Kultur aus der Gegnerschaft von Natur befreit und überhaupt als zweitrangig (Unterhaltung, Affirmation) betrachtet. In dem Maß, wie der Mensch sich der Natur, vor allem seiner eigenen Natur annähert, fällt er in seine animalischen Anlagen zurück, fordert (gewissermaßen) Tierrechte als Menschenrechte, überlässt sich der Gravitation der Bequemlichkeit und Bekömmlichkeit (Freizeit haben, Spaß haben, Sex haben, Urlaub haben usf.), regrediert zu einem generellen Infantilismus. Dazu passt das inzwischen globalisierte Spielzeugdesign, das innerhalb weniger Jahrzehnte vom scharf geschnittenen Bauklotz und von der rechtwinkligen Seifenkiste zu organischen Formen zurückgefunden hat. Auch Autos sehen heute in manchen Fällen wie Tiere aus, wie überlebensgroße Tierspielzeuge mit gemütlichem Innenleben, sie haben eine Schnauze, einen Hintern, man kriecht in sie hinein, benutzt sie als eine Ganzkörpermaske, die trotz technologischer Hochrüstung viel mehr tierischen als apparativen Charakter hat. Waren noch zu meinen Militärdienstzeiten die Armeefahrzeuge – Jeeps, Lastwagen, Truppentransporter, auch Fahrräder – der Natur einerseits, der jeweiligen Funktion anderseits völlig entgegengesetzt durch ihre kantigen Formen, ihr Gewicht und, z. B., durch die Senkrechtstellung von Kühlerfront und Windschutzscheibe, so hat sich das Design inzwischen weitgehend verflüssigt, die Offroader mit Allradantrieb, die entgegen ihrer eigentlichen Funktion meist nur im städtischen Raum oder auf Autobahnen als Luxuskarossen gefahren werden, sehen aus wie gigantische Bullen, sind an allen Enden abgerundet, haben bedrohliche »Augen«, zeigen »Zähne« und »Muskeln«. Keine Frage, dass solches Design funktional ist, dass es Luftwiderstand und andere Widrigkeiten berücksichtigt, doch die Anpassung an die Natur beziehungsweise deren Imitation lässt die Kultur als das Andere der Natur verkümmern, wertet sie ab. Denn all diese Passformen hat ja nicht der Mensch erfunden als etwas ihm Eigenes, seinem Geist Entsprechendes, vielmehr hat die Natur sie hervorgebracht, die Schlüpfform von Fischen und Vögeln, die wundersame Körperarbeit gewisser Insekten, das Verhalten von Viren usf.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00