Dagrun Hintze: Einvernehmlicher Sex

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Dagrun Hintze: Einvernehmlicher Sex

Hintze-Einvernehmlicher Sex

NACHTS

Wer abends auf Vernissagen rumsteht
zu dem kommt morgens kein Gedicht
Auch nicht wenn er vom Sofa aus
späte Fernsehserien schaut
Nicht mal wenn er Abendessen kocht für Freunde
die reden müssen
Schon gar nicht wenn er vorm Schlafengehen den
aaaaaKontostand checkt
obwohl für Rotwein und Zigaretten seltsamerweise
immer noch irgendwo Geld ist
Doch Trinken und Rauchen wird eh überschätzt
als zwingende Einladung an ein Gedicht
und Liebe nun ja
Ließe er sich ficken des Nachts
vielleicht käme am nächsten Morgen
ein Gedicht vorbei oder immerhin ein Fußnoten-Vers
Aber nicht so
Die Liebe vergibt keinem der auch
nur ein Wort für sie sucht

 

Dagrun Hintze – Einvernehmlicher Sex (Gedichtband).

 

 

Dagrun Hintze

haut einem ihre Poesie um die Ohren, dass die Welt aus dem Takt gerät, mitten hinein in die schönste Schieflage, in eine zarte Schlagseite, ins heftigste Wetter, in bunte Himmel, und man möchte mit ihr und ihren Piratenfreunden durch diese Nächte und Tage tanzen, von denen sie schreibt. Durch die Bars und Restaurants, durch die Straßen und bis tief in die Haustüren und Zimmer und Herzen und Schmerzen, am Meer entlang und quer über alle Inseln.
Man kann wirklich nur sehr schlecht aufhören, das zu lesen, und hin und wieder lacht man sich auch fast tot, aber dann ist Frau Hintze da und hakt sich unter. Und Brian Ferry kommt auch vor!

Simone Buchholz, Minimal Trash Art, Klappentext, 2018

Über das Buch

Den tschechischen Geliebten kennt die Erzählerin von früher aus der Zukunft. Der Sohn des Müslifabrikanten schießt nach dem Sex wortlos drei Mal mit dem Luftgewehr in die Wand. Handtellergroße Kakerlaken werden mit der Machete getötet. Und ein Typ schnitzt bei der Ergotherapie aus Specksteinen eine Kettensäge.
In 38 lakonischen und wilden Prosagedichten erzählt Dagrun Hintze vom Reisen, vom Feiern, vom Lieben und vom Älterwerden. Dabei ist es nicht die formale Strenge, die begeistert, sondern der Ton einer ihrer selbst durch und durch bewussten Frau, die der Welt immer und überall auf Augenhöhe begegnet: an der Bar, nachts am Meer, in der Psychiatrie, im Bett. Männer sind dabei eine Selbstverständlichkeit. Man begleitet die Erzählerin durch Höhen und Tiefen und merkt irgendwann, dass man sich zwischen den Zeilen befreundet hat.

Minimal Trash Art, Ankündigung

 

Am Puls des Erlebens

Es war nur eine Verabredung zum Abendessen
aber bei der letzten Begegnung hatten wir uns zum Abschied
schon beinah geküsst
danach änderte sich der Ton unserer E-Mails
[…]
Obwohl wir beide aussahen als wären wir zu einer Hochzeit geladen
hüpften wir nebeneinander her wie junge Hunde
die sich freuen weil ihr liebster Spielgefährte da ist

Es ist schwer Zitate zu finden, die ausreichend wiedergeben, was an Energie, Laune, Humor und Schönheit in den Gedichten von Dagrun Hintze steckt, oder vielmehr: einem daraus entgegenschlägt. Denn diese Gedichte winken einen nicht verhalten heran – sie wandern, stürmen und tanzen in einen hinein, übermütig, heftig, zärtlich.
Es sind zumeist einfache Gedichte, die narrative Bögen schlagen und deren Fokus nicht auf einer ausgeklügelten Sprache, sondern auf der Nähe zum Geschehen liegt. Ich habe mich an die Gedichte Charles Bukowskis erinnert gefühlt, aber auch an jene von Nicolas Born. Hintzes Lyrik hat oft einen bukowski-ähnlichen Drive und Borns ähnelt sie vor allem in den sanften Momenten der Selbstschau.

Einer ließ ein Modellauto den Tresen entlang fahren
Am Steuer saß eine Pinguinfigur
die nahm er manchmal heraus
küsste sie
behauptend es sei seine Frau

Kneipenabende, Reisen, kleine Abenteuer und zahlreiche Begegnungen verschiedenster Art reihen sich im Verlauf des Bandes aneinander; Erlebnisse werden zu Trägern eines kurzen Glücks, einer kleinen Wahrheit, einer (pointierten) Überlegung.
Weiter hinten im Band gibt es auch Gedichte, die eher eine klassische „Verdichtung“ anstreben, aber obgleich sie ebenfalls lesenswert sind, erreichen sie meist nicht die Kraft, das Geballte und Nachhaltige, das in den erzählerischen Gedichten zum Vorschein kommt.

Das Unglück ist überall groß

Aber würdet ihr sehen
wie sie Feste feiern
würdet ihr staunen

So heißt es am Ende eines Gedichtes, in dem Hintze einige unerfüllte Hoffnungen und Träume, Schicksalsschläge, Narben und Belastungen in ihrem Bekanntenkreis aufzählt. Ihr Fazit: „das Unglück ist überall groß“ ist kein Eingeständnis, sondern schlicht eine Feststellung. Und diese Direktheit, Schnörkellosigkeit, macht Hintzes Lyrik aus: sie begegnet dem Leben auf Augenhöhe, versucht selten ihm mit Abstraktionen beizukommen. Sie gibt Geschehnisse und Erlebtes wieder und lässt sie in großen Teilen für sich selbst sprechen.
Nach Ballbesitz ist dies mein zweites Buch von Dagrun Hintze und wieder mal bin ich, vor allem, beglückt. Hier werden nicht einfach schöne Schwenke aufgebaut – hier teilt sich jemand mit, in vielen Facetten, versucht immer wieder den Puls, die schlagende Kraft des Lebens aufzunehmen, abzuspielen, in all seiner Profanität und seiner tiefen Faszination und Anziehung.
Kurzum: Einvernehmlicher Sex ist kein Lyrikbuch, das am Saum des Daseins nestelnde Verdichtungen bietet, sondern eines, das ruft: Hey, Leute, das Leben findet statt! Und ich, ich war (und bin) dabei und mittendrin. Trotzdem ist es ein Gedichtband, der einen dazu bringt, vieles ins Herz zu schließen; nicht zuletzt die eigenen Erinnerungen und die Möglichkeit, etwas zu erleben.

Timo Brandt, amazon.de, 18.10.2018

„Lyrik macht die Welt kostbarer“

– Dagrun Hintze über Verdichtung. Mit Einvernehmlicher Sex hat Dagrun Hintze einen fulminanten Gedichtband geschrieben. Ein Gespräch über das Altern und Schäden an der Sprache. –

Frank Keil: Frau Hintze, wie schafft man es, einen so wunderbaren Lyrik-Band zu schreiben?

Dagrun Hintze: Oha, was sage ich jetzt dazu! Also: Ich denke, dass die meisten Menschen, wenn sie anfangen zu schreiben, mit Lyrik beginnen. Die meisten von uns haben vermutlich irgendwelche schlimmen Pubertätsgedichte, wo sie sich das Herz herausgerissen haben, im Giftschrank liegen. Lyrik ist die ursprünglichste Form, über die Menschen sich schriftlich äußern, wenn sie eine literarische Form suchen – und das war bei mir auch so. Es gibt eine lange Geschichte mit mir und der Lyrik und wenn ich mein Selbstverständnis beschreiben sollte, dann ist es das einer Lyrikerin, wahrscheinlich sogar mehr als das einer Theatermacherin, die ich ja auch bin. Insofern bin ich da ganz bei mir selbst – wenn man so eine schreckliche Formulierung wählen möchte.

Keil: Was kann Lyrik?

Hintze: Sie kann den Moment festhalten, und sie kann ein Gefühl festhalten, das in diesem Moment das Absolute und auch das Überwältigende ist. Darin ist Lyrik unschlagbar. Sie geht manchmal auch sehr geniale Verbindungen mit der Musik ein – in Form eines Textes für einen Song. Und sie kann das Alltagsleben erhöhen; Lyrik macht die Welt ein bisschen kostbarer.

Keil: Für Ihre Gedichte muss man nicht Goethe gelesen haben oder mindestens Ingeborg Bachmann. Man denkt: Hey, was da beschrieben wird, das kenne ich…

Hintze: Das war auch die Idee. Als ich mit Lyrik anfing, habe ich schon an diesem hohen Ton herumprobiert – das finde ich auch legitim. Ich habe nur irgendwann gemerkt, dass mir persönlich diese Lyriklesungen auf die Nerven gehen, wo alle anderthalb Minuten abgesetzt und umgeblättert und ein Schluck Wasser getrunken wird. Ich suche eine gewisse Selbstverständlichkeit in der Literatur. Lyriker wie Charles Bukowski haben mich immer sehr fasziniert, die auch mal aus dem dreckigen Alltag kommen. Wobei die Alltagssituation überhöht werden muss, sie muss zur Metapher werden. Auf dem Weg dahin produziert man eine Menge Ausschuss, weil nicht alles, was man gerade fühlt oder erlebt, auf dem Papier am Ende standhält.

Keil: Beim Titel Ihres Buches – Einvernehmlicher Sex – musste ich sofort an die #MeToo-Debatte denken…

Hintze: Ich hatte eigentlich einen feuilletoneskeren Titel im Kopf, aber dann hat einer meiner Verleger den Titel mal in die Runde geworfen, weil eines der Gedichte so heißt. Wir haben uns erst mal erschrocken, und ich sagte: „Auf gar keinen Fall!“ Das war mir viel zu knallig, viel zu kaperig. Aber dann hat sich der Titel irgendwie verhakt – bei uns allen. Der Gedichtband ist nicht im Zusammenhang mit der #MeToo-Debatte entstanden, aber wir erleben da schon eine weibliche Erzählerin, die sich sehr klar in jeder Situation behauptet und souverän bleibt. Von daher finde ich es gar nicht so verkehrt, die Texte auch in diesem Kontext zu denken.

Keil: Ihre Heldin ist knapp unter der Lebensmitte. Das Leben war bisher gut – aber die Frage ist: Was kommt? Liege ich mit der Lesart richtig?

Hintze: Es wird in der Tat eine Art Resümee gezogen: Die erste Hälfte hat sie mit Anstand und Würde bewältigt. Aber wie jetzt Älter-werden geht, ob am Ende das Anlachen gegen den Tod funktioniert, was ich tatsächlich als einziges Mittel sehe, das uns zur Verfügung steht? Wird es noch mal lustig? Oder eher nicht?

Keil: Sie schreiben „Auf der Mitte des Lebens kann Liebe / verdammt beunruhigend sein.“ Liebe ist schon ein Thema, oder?

Hintze: Was Lyrik angeht, ist das jetzt nicht so überraschend, würde ich sagen. In meinen Gedichten geht um verschiedene Formen von Liebe, um tiefe Freundschaft, Verbundenheit, Verbindlichkeit. Und um die Kollision einer Lebensform, die man gefunden hat und die gut ist, mit den Angriffen von außen, vom Leben selbst. Das Tolle an meiner Erzählerin ist, dass sie das zulässt. Ich glaube, in jedem von uns steckt der Wunsch nach Sicherheit und Verlässlichkeit, aber auch die Sehnsucht nach Abenteuer, nach Neuem, nach: alles Umkrempeln.

Keil: Wie privat sind Ihre Gedichte?

Hintze: Sagen wir es so: Ich breite mein Leben nicht in Form von Gedichten aus; das ist auch nicht das, was mich interessiert. Aber die Erfahrungen, von denen ich schreibe, sind echt – ob sie von mir stammen oder ob ich sie irgendwo aufgeschnappt habe, ist unwichtig. Was gilt: Ich kann mir sehr schlecht Sachen ausdenken. Und hege eine große Skepsis gegenüber der Fiktion. Deswegen könnte ich nicht über etwas schreiben, das mir nicht in irgendeiner Form ins Leben gepoltert wäre.

Keil: Noch mal ein Zitat: „Wer tagsüber Servicetexte fürs Internet schreibt / zu dem kommt abends kein Gedicht.“…

Hintze: Ja – das ist so. Ich mag diese Zeilen sehr, weil sie geradezu manifesthaft etwas über künstlerische Produktion aussagen. Ich zum Beispiel bin jetzt seit 20 Jahren in Hamburg und seit 20 Jahren selbstständig. Es wäre eine romantische Vorstellung, man käme 20 Jahre durch so einen Beruf, ohne für Geld auch irgendwelchen Mist machen zu müssen. Ich habe alles Mögliche gemacht, für Werbeagenturen getextet, unter Pseudonym für die Yellow Press geschrieben – einfach um mein Leben zu bestreiten. Trotzdem bleibt immer die Frage: Wie sehr beschädigt man seine eigene Sprache, wie hält man es mit der Unkorrumpierbarkeit, die man haben muss als Künstlerin? Ich finde es grundsätzlich gut, wenn KünstlerInnen Realitätskontakt haben, wenn sie wissen, wie eine Werbeagentur von innen aussieht und wie sie funktioniert – gleichzeitig hat das seinen Preis. Worauf lässt man sich da ein? Wo verbiegt man sich? Und was hat das für eine Rückwirkung auf das eigene Schreiben?

Keil: Sie sind auf vielen Feldern unterwegs: Lyrik und Theater, Sie schreiben über bildende Kunst und über Fußball. Gibt es etwas, was der Kern ihres Interesses an der Welt ist?

Hintze: Ich bin schon sehr Neugier-getrieben. Da kommt mir das dokumentarische Theater, für das ich meistens arbeite, natürlich sehr entgegen. Weil es mich bei der Recherche immer wieder in Welten führt, die ich sonst nie betreten hätte. Außerdem schätze ich die Arbeit im Kollektiv, im ständigen künstlerischen Austausch mit Leuten, die einem zwischendrin natürlich auch wahnsinnig auf die Nerven gehen. Die Existenz der Lyrikerin ist eine völlig andere. Die sitzt allein am Schreibtisch und versucht, Erfahrungen, die sie draußen in der Welt gemacht hat, zu verdichten. Ich glaube, ich brauche beide Zustände. Gerade habe ich eine Phase, wo ich bis Mai nur am Schreibtisch sitzen kann, wahnsinnig angenehm. Andererseits: Ich bin schnell anfixbar. Es muss nur eine Handballweltmeisterschaft laufen – und ich fange an, mich dafür zu interessieren.

Keil: Lassen Sie uns über Lübeck reden; diese entschleunigte, angenehme, kleine Stadt…

Hintze: Ach…

Keil: Ich merke schon…

Hintze: Das Hinwenden zu einer kleineren Stadt kenne ich natürlich, weil einem das Großstadtgetöse immer mehr die Luft nimmt. Also: Ich bin gerne in Lübeck aufgewachsen, ziemlich bürgerlich, war auf einem der Altstadt-Gymnasien, mein Schulweg führte jeden Tag an der Marien-Kirche vorbei. Ich habe das immer als Privileg empfunden, jeden Tag mit Schönheit und Tradition konfrontiert zu sein. Das war schon alles okay: Theater-Abo, Klavierunterricht, Thomas Mann lesen. Aber gleichzeitig habe ich mir sehr hart erarbeiten müssen, was Gegenwartskultur ist. Dafür habe ich eigentlich das ganze Studium gebraucht. Und das laste ich auch dieser Stadt ein bisschen an.

Keil: Aber nach dem Studium sind Sie zurück ans Lübecker Theater gegangen. Wie war das?

Hintze: Da lebte man raumschiffartig. Wir waren alle jung und wollten ganz viel vom Theater, da hat man die Stadt drumherum gar nicht so wahrgenommen. Wenn ich heute dort bin, rührt mich das schon an, diese wahnsinnig schönen Kirchen, die Altstadt-Insel. Gleichzeitig wirkt die Stadt auf mich ganz schön marzipanisiert, übersaniert, zu sehr als Kulisse für Touristen gedacht wie so viele Städte. Da kann einem dann auch mal eng ums Herz werden. Trotzdem verstehe ich die Kleinstadtsehnsucht, die gerade grassiert, gut: Ich war jetzt schon zwei Mal in Aalen auf der Schwäbischen Alb, um da Theater zu machen, eine wirklich kleine Stadt; wahrscheinlich würde man es dort keine zwei Monate aushalten und die Flucht ergreifen, wenn man dort wohnen müsste. Aber diese Kultur, Samstag ist Markt und dann geht man einen Kaffee trinken und trifft alle Leute, die man kennt, das hat schon was; das sind wichtige Rituale für eine Stadtgesellschaft, das hält den Laden zusammen.

taz, 12.2.2019

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Birgit Böllinger: Dagrun Hintze: „Einvernehmlicher Sex“
saetzeundschaetze.com

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00