Dane Zajc: Hinter den Übergängen

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Dane Zajc: Hinter den Übergängen

Zajc-Hinter den Übergängen

DER RABE

verschlingt
frühmorgens Sternenaugen.
Den köstlichsten Teil des
auf hohen Kissen erkaltenden Gesichts der Nacht.
Darauf läßt er sich nieder, auf die nächtliche Bettstatt,
und hackt und hackt.

Und wenn er fliegt, fliegt er durch Einsamkeit.
Wie durch eine Höhle in einer Höhle,
die ihn begleitet und sich erneuert in einem fort.

Und fliegt er tief, äffen seine Schwingen
die Stimme des Windes nach. Die Sensen.
Als ob der Wind vom Berg schnellte.
Als ob eine Sense Luft mähte.

Von Zeit zu Zeit fliegt er zu zweit.
Doch selbst dann ist sein Flug
ein Stürzen in einsame Kreise.
Seine Begleiterin hält
stillen Abstand.
Ihre Schwingen berühren sich nicht.
In Räumen aus zwei Ringen
fliegen sie.

Er singt auf drei Arten.
In dreierlei Sprachen.
Eine jede sich selbst zugedacht.
Dem eignen Ohr, dem Austausch mit sich.
Er äfft nicht nach, der Vogel Hack.
Und wenn er nachäfft, dann sich selbst,
dann seine eigenen Stimmen, die verwickelte
Rede verschlungener Rufe.

Im Tiefflug
flirren seine Flügel
vom schwarzen Trotz des Reichs
Geheimnis.

 

 

 

An Dane Zajc

LANGE TRÄGST DU FEUER IM MUND
LANGE HÄLTST DU ES VERBORGEN

Der Dual, mit dem sich die kaum zwei Millionen Sprecher Deiner Sprache vor Fremden, die es in diese Gegenden verschlägt, gerne rühmen, diese Eigenart, daß zwei Dinge weder Singular noch Plural sind, sondern eben Dual, dient keiner Lobeshymne auf die slowenische Intimität. Bei Dir ist es nicht der Dual eines Liebesdialogs. Auch wenn Du es in Deinen Gedichten ansprichst. Anrufst. Schwüre schwörst. Die Gefangenschaft im Duat ist für den Slowenen voller Tücken. Inzest und Exzess irren durch diese Gegenden verdeckt, Hand in Hand. Ein leises Stammeln niemals bekanntgewordener Größen und selbsternannter Genies dringt aus den verrauchten Räumen der tiefen Provinz. Die es ringsum überall gibt. Du aber sprichst scharf und schroff deine Sprache, die eine der wohlklingendsten unter den slawischen Sprachen ist. Das sagt man wenigstens immer wieder. Deine Gedichte zerfleischen die slowenische Sprache. In Stücke zerhackt, den Wölfen und Hunden vorgeworfen, das ist Deine Sprache. Gefangen im Sack des Schlangenbeschwörers (Wir wissen wenig von der geheimnisvollen Macht der Schlangenaugen). Gefangen mit dem Stock, gespalten wie das Ende einer Schlangenzunge. Zischend. Voll klebrig verklumpter Wörter, die wie Lehm an der weißen Wand des Gedichtes hängen bleiben. Als ob sie ein Herr vom Rosengrund mit einem Fluch an die verbotene Wand geschleudert hätte. Deine Sprache ist nicht Deine Freundin und nicht Deine Feindin. Eine Fremde ist sie dir. Wenn Ihr Euch trefft, dann schaut Ihr Euch lange in die Augen, Ihr mustert Euch, stumm. Das verleiht den seltenen Worten, die Ihr aussprecht, einen besonderen Strahlenkranz. Sie sind voller Speichel, den Ihr lange in Euren stummen Mündern habt kreisen lassen. Du und Deine Sprache. Dann packt Ihr euch. An der Gurgel wie zwei ermattete Ringer. Wie zwei Tiere. Wer stürzt als Erster? Wer bleibt mit dem Genick auf den Boden geheftet liegen? In welchem Rhythmus zuckt der gefangene Körper? Und ist nicht bei all diesen Bildern ein besonderer Fanatismus am Werk, ein besonderes Starren ins Dunkle, das sie Dir so viele Male vorgeworfen haben? O ja. Diese herausgenommenen Freiheiten. Dieser Neoexpressionismus, Existentialismus, dieser private Nihilismus, die Neo-Gotik, der Hang zum Absurden, die leeren Bezeichnungen, die in den blutarmen Ergüssen Deiner lokalen Kritiker herumgeisterten. Denn man kann sich doch alles, die Stunden, die Worte von Anbeginn an beliebig heraussuchen. O ja. Diese herausgenommenen Freiheiten.

 

HINTER DEM KNÖCHERNEN ZAUN ZÄHNE
GEPRESST IM WEISSEN BANNKREIS DEINER LIPPEN

Die Biographie des Dichters und seine Gedichte. Natürlich sind Wunden noch kein Garant für den Tiefgang der Verse. Natürlich gilt als einzige Regel, daß es keine Regeln gibt. Je mehr Du in die Waagschale wirfst, desto leichter wird sie. Noch ein wenig, und sie wird sich vom Boden lösen und davonfliegen. Hier helfen keine Verse der slowenischen (slawonischen?, slowakischen?, sumerischen?) Poesie. Die es damals, als Deine Bücher erschienen, damals, 1958, 1961, 1968, 1975, 1979, 1985, 1998 zu verdammen und zu verbannen, zu Boden zu werfen galt. Die es in ihrem Kern und bis zu den Nervenendigungen ihrer Sinne aufzuspüren galt. Die es in die Gegenüberstellung mit sich selbst gezwungen hatte. Denn die Poesie, in einer Sprache ohne Staat, wird den Konsumenten im Inneren gerne billig verkauft. Sie verschenkt sich. Das verschafft die Illusion der Prostitution. Es beschönigt. Und so bedeutet das Kleingeld – ein paar wertlose Münzen – niemandem, auch dem Armen, irgendetwas. Kann der rheinische Karpfen, der in Schwärmen von hundert Millionen das ganze Leben überschwemmte, die Phobien der Marmorata verstehen, dieser zeitweise so stark gefährdeten Art (Fischmenschen sind unbrauchbar, sagst Du in einem Deiner Gedichte)?

 

DU WEISST DASS NIEMAND RAUCH
AUS DEINEM MUND WITTERN DARF

Der Blick in die Angst. Der Blick in das Grauen. Der Blick in die Schizophrenie. Dunkle Gefühle. In Deinem Beisein, in der Anwesenheit Deines Körpers springen dunkle Funken auf die Menschen über. Wie oft habe ich es schon erlebt, daß das Gemurmel verstummte, weil Du in der Nähe schwiegst? Ein Wort oder zwei aussprachst. Und wieder schwiegst. Und wie oft unterbrachen sie ihre Alltäglichkeiten, weil die schweigende Seite Deiner Gedichte sie ertappte. Die Wirkung war immer dieselbe. Die Wirkung war immer dieselbe, unabhängig von Kultur, Sprache, Kontinent. Eine stille Präsenz. Als ob es dem Vers, als ob es der Stimme gelungen wäre, eine Anwesenheit, eine Abwesenheit jenseits der sprachlichen Fesseln einzufangen. Du bist kein Händler. Ein Schweiger bist Du, der abwägt.

 

DU ERINNERST DICH DASS DIE RABEN
WEISSE RABEN ERSCHLAGEN

Die slowenische Sprache, zwei Millionen Sprecher, derzeit 4.000 Buchneuerscheinungen im Jahr, davon etwa 8,5% originale Lyrikbände. Die ersten erhaltenen Schriftzeugnisse aus dem 9. Jahrhundert werden in der Bayerischen Staatsbibliothek aufbewahrt. Die literarisch und national sehr bedeutende Epoche der Romantik. Der Nationaldichter France Prešeren, der Nationalschriftsteller Ivan Cankar. Klima und Nahrung gut verträglich. Die Stimmung selten euphorisch, häufig klaustrophob. Die Landschaft zeichnet sich durch eine aufeinander abgestimmte Balance von Feuerwehrhäusern – Plattenbauten des sozialistischen Realismus – und barocken Kirchen aus. Eine defensive Geburtenrate und ein stabil hoher Prozentsatz von Selbstmorden, in der Mehrzahl noch immer durch den Strick. Oder geht es um die Deplazierung der Poesie, von der die Rede sein soll?

 

DESHALB VERSPERRST DU DEINEN MUND
UND VERSTECKST DEINEN SCHLÜSSEL

Noch einmal, im Jahr 1958, dem Erscheinungsjahr Deiner zweiten Sammlung. Die Provinzialität der Vororte, die man zu spät mit dem alten Ljubljana verbunden hat, um der Hauptstadt des nördlichsten Sechstels der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien den Zuschnitt einer Großstadt zu geben. Graue Fassaden in engen Gassen, der Nebel zieht aus den nahen Sümpfen des Barje herüber, undurchdringlich verschließt er sie einige Monate lang. Die Gassen verbergen die Angst vor dem großen sowjetischen Vetter auf der Rechten und vor den kapitalistischen Nachbarn zur Linken. Und noch mehr: die Angst vor den inneren Feinden, vor der politischen Emigration, vor der eigenen Vergangenheit, vor der eigenen Schuld. Es gilt, das Volk vor all diesen Problemen zu bewahren, es mit Hilfe unkomplizierter Nachkriegspoesie abzulenken. Der große slowenische Barde Edvard Kocbek, der im Mai 1945 zur Linken von Marschall Tito stand, als dieser vom Balkon der Universität die Einwohner Ljubljanas begrüßte, ist schon mehr als ein Jahr zum Aussätzigen erklärt worden und hat Hausarrest. Božo Vodušek, ein Dichter von der Gedankenschärfe Gottfried Benns, schweigt schon lange, in seine sichere wissenschaftliche Karriere versenkt. Gregor Strniša, ein Dichter Deiner Generation, hat Schwierigkeiten mit dem Händeschütteln. Grund dafür ist eine Verletzung aus dem Arbeitslager nach dem Krieg, eine Kleinigkeit, der Erwähnung kaum wert. Die Avantgarde ist tot. Der Professor, der die noch unveröffentlichten Gedichte des schon vor langer Zeit verstorbenen Srečko Kosovel aufbewahrt, ist der Meinung, daß der Augenblick noch nicht gekommen ist, in dem man den Schock einer Publikation ertragen könnte. An die Zeiten, als man in der Zeitschrift Der Sturm slowenische Poesie abdruckte, erinnert sich niemand mehr. Die Magnetnadel blieb dreißig Jahre wie an einer Stelle fixiert, aber jemand hat heimlich an dem Kompaß gedreht. Es ist die Zeit der Literaturzeitschriften. Wenn Du publizierst, bist du kulturell bedeutsam und politisch suspekt. Trotz allem ist das Spiel sanfter, vergleicht man es mit dem sowjetischen Gulag. (Aber wer will sich schon mit dem Gulag vergleichen?) Von der Zeitschrift Revija erscheinen ein paar Nummern, dann wird sie verboten. Bald danach die Gründung einer neuen, es ist dieselbe Geschichte. Die Zeitschriften Beseda, Revija 57, Perspektive. Hinter einigen schließen sich Zellentüren. Anderen werden Türen vor der Nase verschlossen. Türen von Institutionen, des sozialen Fortkommens, der Ausbildung. Die Repression ist sanft, hinterhältig, slowenisch. Dich, der Du im Krieg zwei Brüder verloren hast und dem man das Vaterhaus anzündete, Dich wirft man wegen ein paar Sätzen, die gegen die politische Nomenklatura gerichtet waren, nur aus dem Gymnasium. Man verbietet Dir nur die Immatrikulation an der Universität. Du arbeitest in einer Bibliothek für Kinder. Du setzt Dich ans Pult, katalogisierst die ausgewählten Werke von Marx, Lenin, Gorki, die kosmetisch korrigierten Ausgaben von Lorca, Rilke und Majakowski, berechnest die Kosten bei Überschreitung der Leihfrist. Du trägst einen schwarzen Kittel, einen, der Tomaž Šalamun, den fluiden Wortzauberer, einige Jahre später zum Schreiben motivierte. Du hast die ersten Angebote, das erste Manuskript zu veröffentlichen. Natürlich mit Korrekturen. Es war aberwitzig, wenn man im großen schwarzen Stier einen hohen Parteifunktionär zu erkennen glaubte. Es war unklug, von den jungen weißen Zähnen zu sprechen, die man fruchtlos im Krieg ausgesät hatte. Und doch bleibst Du standhaft. Das Buch erscheint im Selbstverlag. Es erscheint.

 

DOCH EINMAL SPÜRST DU IM MUND EIN WORT
DIE HÖHLE DEINES KOPFES HALLT DIR WIDER DAVON

Dein zweites Buch, Deine Zunge aus Erde. Du bist das Spiel noch nicht müde, mit dem Du so scharf in das idyllische Verschweigen der slowenischen Nachkriegspoesie eingeschnitten hast. Der Rhythmus der Knochen in den Gedichten des ersten Buches. Nur Dein Blick hat sich verschoben. Noch immer sieht er das Böse, das nicht an Dir vorbeigehen wollte. Noch immer sieht er die roten Bäume, umkreist von den Raben, die Brandstätten, das schwarze Brüllen von Wölfen und Stieren, noch immer siehst du, was du im ersten Buch sahst. Doch eher im Hintergrund. Eher wie ein stumpfer, ermattender Schmerz. Er ist aus dem Land der bedrohten Vögel und gefällten Bäume in das Land bedrohter Vögel und gefällter Bäume in Deinem Kopf übersiedelt. Darin kannst Du durch die Zeit reisen, Du bist zugleich in mehreren Zeiten. Die Bilder öffnen sich wie gotische Fenster, hoch, im Halbdunkel. Die Stimmen zischeln hinein in Deinen Schädel. Stimmen der Qualen und Stimmen des Genießens. Deine Gedichte werden immer mehr zum Gefängnis Deines Körpers. Eines Körpers, in dem Du Dich verlierst. Wer ist sein Besitzer? Wer führt? Du kämpfst mit Dir selbst. Du hast schon von vornherein verloren. Tief im Räderwerk der Worte erkennt man die Mechanik, die sie antreibt. Befreit und unerbittlich. Und einen Menschen, der nicht die Möglichkeit hat, Berufung einzulegen.

 

DA BEGINNST DU DEN SCHLÜSSEL DEINES MUNDES ZU SUCHEN
LANGE SUCHST DU NACH IHM

Unverwechselbar ist Dein Rhythmus. Seit Deinen ersten Erinnerungen gibt es die Erinnerungen an Stimmen, an Bilder. Der unveränderliche Rhythmus der Wortbohrungen im Kopf, ihres Verschwindens und ihrer Wiederkehr, das Schürfen nach Lauten in mentalen Abgründen, Kaskaden von Selbstanklagen, Selbstzerstörungen von Schuld und Revolte. Die eindeutige Bestimmtheit des Rhythmus von Volksliedern, die Magie des Rhythmus der Poesie primitiver Völker, die Du unaufhörlich liest, und die Freiheit des Rhythmus im Jazz haben Dich geprägt. Wie im Jazz sind Deine Gedichte Geflechte von Tönen, Polyphonien von Bildern, scheinbar freie Improvisationen, die am Ende ein Schlaglicht auf die vollkommen durchdachte, einzig mögliche Architektur des Gedichtes werfen. Wenn Du versuchst, ihn festzulegen, wenn Du versuchst, ihm Deine Regeln aufzuzwingen, dann stockt der Rhythmus. Beim Schreiben muß Deinen Händen alles entgleiten. Verunglücken. Ein Verfolger des Nichtzuendesagbaren bist Du, Vasall und Blutrichter Deiner Verse. Deines Rhythmus, Deiner Bilder. Unvollständigkeit ist für Dich die Wesensart der Welt und ihre einzige Rettung. Mit dem Schweigen, welches das alltägliche Gesicht der Welt trägt, werdet ihr immer mehr zu Bekannten. Aber nicht zu Freunden. Noch nicht.

 

ALS DU IHN FINDEST SPERRST DU DIE FLECHTEN DEINER LIPPEN AUF
SPERRST DEN ROST DEINER ZÄHNE AUF

Das Gedicht schreibt sich zuerst in Deinem Mund. So lange wälzt Du es in den Winkeln Deines Schädels herum, bis es dicht ist wie Siegellack. Um den zu versiegeln, der es hört. Das Gesprochene. Wenn Du es rezitierst, dann sprichst Du es auf Deine unverwechselbare Art. Eine abgründige, geizige Kürze, das ist Deine Art. Der Hörer bangt um jedes Wort: Wird es gelingen? Wird das Wort einigermaßen erweckt herauskommen? Es wird, trotz allem Schweigen, ausweglos in Deinem Mund einnisten. In den Raum hinein flanieren. Als ob der Zuhörer in der Unbestimmtheit Deiner Reden den Schaffensprozeß nachvollziehen und in die Stille hineinreichen könnte, gemeinsam mit Dir am grob geflochtenen Seil auf rostiger Rolle einzelne Wörter aus dem versiegenden Brunnen ziehen würde. Mit Harmonikabegleitung. Mit einem abgetragenen Hut auf dem Kopf. Wie ein Dorfmusikant. Ein Vagabund. Ein Bräutigam. So sind sie über die Jahre ineinander gewachsen, Deine Stimme und die der Harmonika. jenseits bekannter Klänge, im tiefen Rhythmus, dem Rhythmus des Ritus. Im Rhythmus der Prophezeiung. Im Rhythmus des Pulsschlags der Kapillaren und im Kreis der Krähen und Jahreszeiten.

 

DANN SUCHST DU DEINE ZUNGE DOCH DA IST KEINE ZUNGE

Nein, Du magst Die Schlangentöter nicht, Dein drittes Buch magst Du nicht. Obwohl es Gedichte enthält, ohne die es Dich nicht gäbe. Ohne die es Dane Zajc nicht gäbe. Du bist nicht. Die Schlangentöter. Der Garten. Weil es Dir beim Buch so vorkommt, Du seist gebunden, gefangen in der Ecke eines leeren Raumes, in einer Falle inmitten der Wegelosigkeit. Daß Du dich retten mußt. Weil es Dir so vorkommt, daß Du dich von Dir selbst entziehen wolltest, von Deiner Art. Durch einen noch komplizierteren Satz. Durch neue, langzeilige Formen. Mit allzu rationalem Zugang. Sagst Du. Daß Du das Tier in Dir zähmen, es auf seinem von vornherein vorbestimmten Weg durch das Gedicht führen wolltest. Obwohl es Dir nicht gelungen ist. Obwohl das Tier in Dir stärker war. Der Schrapper stiller als Du. Sie war schlauer, Deine Schlange.

 

DANN WILLST DU EIN WORT AUSSPRECHEN

Der Herr vom Rosengrund. Wenn der Schiffbruch der Sprache im Schweigen gelingt. Wenn sich alle Teile des Gedichts ineinanderfügen, untereinander im Gleichgewicht, im Einverständnis, aber nicht befriedet, nicht ruhend, nicht stumpf. Wenn sie lebendig sind. Wenn die Poesie das Gefühl eines ganzen Körpers mitteilt. Wenn sich im Hirn Gesang- und Redezentrum vereinen. Verzaubern. Beschreien. Verfluchen. Im Kreise drehen. Der Herr vom Rosengrund. Nur ein Sinnbild für den Wahnsinn, mit dem wir uns herumschlagen, dem wir unterliegen, aus dessen Klauen wir uns losreißen? Aber ist denn nicht die Sprache, Sprache, die aus dem Schweigen herausgerissen, herausgekratzt und herausgebohrt wurde, die größte aller Narrheiten? Gefährlich für den, der sich ihrer bedient, sich ihr ausliefert, der mit ihr spielt, kämpft und tötet? Entfremdet ihn die Sprache nicht fortwährend von der nullten Position, Gast zu sein im eigenen Leben, entbindet ihn der Alltagseffizienz, zermürbt ihn, macht ihn ungeduldig, destabilisiert ihn, verbiegt ihn, gefährdet und bedroht ihn? Die Rückkehr auf den eigenen Boden, auf seinen Rosengrund. Ein tückisches Unterfangen.

 

DOCH DEIN MUND IST VOLL ASCHE UND STATT EINES WORTES
KOLLERT EIN KLUMPEN ASCHE ZUM RUSS IN DEINE KEHLE

Vor dem Gedicht ist die Welt verdunkelt. Ein Tier bist Du, in der Dunkelheit, bewegst Dich instinktiv, die Entscheidungen bestimmen Deine Nervenendungen, Deine Sinnesorgane, Deine Ahnungen, Deinen Instinkt. Dann öffnet sich tief im Herumirren etwas. Nur einen Augenblick. Du hast es gesehen, Du sagst es. Manchmal schreist Du es heraus, zumeist murmelst Du ergeben. Die Bilder sind zerrissen, traumhaft, halluzinogen, spukhaft, tief auseinandergezogen. Sahst Du den blauen Menschen? Sahst Du ihn, und wie verwundert die Kinder waren? Hörtest Du den Ton? O ja, Du hast es. Wie war er? Welche Bilder, welche Farben? In Deiner düsteren Welt sind der Tod und die Liebe weiß. Nicht nur in „weiß“, dem Zyklus, den Du ein halbes Jahrzehnt nach „Sahst Du“ erblickt hast. Weiß ist das weiße Wiesel, weiß sind die beiden Leoparden, Erotik und Sex laufen ins Weiße. Das Weiße hält Dich gefangen, so wie der Maler Gabrijel Stupica in seinen späten Bildern von ihm besessen war. Als ob er sich in der Weiße auflösen würde. Du liebst die Malerei, die Gleichzeitigkeit aller Zeiten im Gemälde, die im Gedicht in drei Stücke zerschlagen wird. Dein Weiß ist Dein jetzt; geschenkt nicht von der Syntax, sondern vom Bild.

 

DESHALB VERWIRFST DU DEN ROSTIGEN SCHLÜSSEL
DANN FORMST DU AUS ERDREICH EINE NEUE ZUNGE

Erfolglos fliehst Du vor Deinen Beschwörungen. Sie legen Dich zu sehr fest. Schließen Dich in Schablonen ein. Denen Du nachjagst, Du Tier im Käfig, Sucher in der kurzen Spanne momentaner Befreiung. In Deinen Beschwörungen bist Du zweimal gefangen. Erstens bist Du in der Geschichte gefangen, deren Ende Du schon kennst, von der Dir aber noch nicht alle Stationen und Waghalsigkeiten auf dem Weg zum bekannten Ende klar sind. Zweitens geht Deine Einsamkeit ins Netz einer weiblichen Einsamkeit. Zwei Einsamkeiten von Flammen umarmt. Unfähig eins zu werden. Im besten Falle ist die andere Einsamkeit der Gesang, den Du singst. In der Umarmung. Das Aufstöhnen der Frau mit doppelter Stimme, eine singt, die andere weint. Eine Stimme in zwei singenden Unendlichkeiten. Immer in stillem Abstand. Sagst Du. Auch jetzt, wo der Körper verschenkt ist, wo er sich ganz ausgeliefert hat. Obwohl das Ganze gar nicht existiert. Die Liebe ist nur ein flackerndes Licht in der Schwärze der Gedanken. Ihr fahler Schein fällt auf sie. In einem besonderen, hellblauen erotischen Licht überzieht sie Deine „Beschwörungen“. Und die späteren Gedichte, nach den „Beschwörungen“. In ihnen werden die Todesszenen, die Szenen der Verlorenheit, die Szenen der düsteren Unausweichlichkeit neu geschrieben. Das Feuer, in dem im Gedicht, hinter Deinen Augen, vor dreißig Jahren die Mauern Deines elterlichen Hauses zerbarsten, überzieht jetzt die sterblichen, unvereinbaren und endlichen Körper der Liebenden, verleiht ihnen abgründige Dimensionen. So fällst Du, ohne aufzubegehren gegen Deinen Fall. Ohne zu verkrampfen. In Haß zu verfallen. Zu kämpfen. Und doch dauert Deine Auseinandersetzung mit dem Schweigen, mit der Stille weiter an. Aber ohne Trauer. Und ohne Freude. Und ohne Lüge muß man wohl gehen. Hinab? Hinab.

EINE ZUNGE DIE WORTE AUS ERDE SPRICHT

Aleš Šteger
(Aus dem Slowenischen von Peter Scherber)

 

„Dane Zajc schaffte den Spagat zwischen

dem Urzeitlichen und dem Gebildeten“

– Der Übersetzer Fabjan Hafner hat den Slowenen Dane Zajc als einen großen Dichter gewürdigt. Hafner sagte im Deutschlandfunk, Zajc habe gerade die leisen Töne beherrscht. „Er hat durch Leisesein die Leute zum Zuhören gezwungen.“ Er habe in Live-Auftritten seine Texte nicht vorgelesen, sondern auswendig gesprochen, als seien sie ihm gerade eingefallen. –

Stefan Koldehoff: Als er 12 war begann der Krieg, als er 15 war, starben zwei seiner Brüder, die bei den Partisanen kämpften und auch seinen Vater und seinen Großvater ermordeten die Deutschen, den Hof der Familie steckten sie in Brand. Den Krieg als Kind zu erleben, sagte Dane Zajc später einmal, das sei eine Erfahrung, die man nie vergisst. Im Nachkriegsjugoslawien erging es ihm nicht viel besser: vom Gymnasium wurde er ausgeschlossen, ins Zentralgefängnis des Geheimdienstes gesteckt, ein Studium verbot man ihm. Und trotzdem oder vielleicht deshalb wurde Dane Zajc zu einem der – manche sagen sogar zu dem – wichtigsten zeitgenössischen Autor Sloweniens. Wer eine seiner Gedichtlesungen miterlebte, der sprach hinterher nicht von einem Dichter, sondern von einem Magier. Nun ist Dane Zajc kurz vor seinem 76. Geburtstag in Ljubljana gestorben. Ich habe seinen Übersetzer Fabjan Hafner gefragt, ob auch er einem Zauberer begegnet ist.

Fabjan Hafner: Oh ja. Er hat sehr sehr leise gesprochen, aber es war ein unglaublich intensives Raunen. Er hat das Leisesprechen, das Flüstern beherrscht und hat einfach die Leute auch zum Zuhören gezwungen durch ganz stillen, ganz intensiven Vortrag und er hat ja seine Texte nicht vorgelesen, sondern tatsächlich auswendig gesprochen, fast so als wäre es ihm gerade erst eingefallen.

Koldehoff:
Und Texte, die ja nun gar keine leisen Texte waren, wenn man sie liest zumindest nicht, sondern sehr gewalttätige, fast rohe Texte gewesen sind. Wie passte das zusammen?

Hafner: Ich bin einmal in Hamburg rüde zurechtgewiesen worden, weil ich all die Alliterationen, die auch im Slowenischen stehen im Deutschen nachgebildet habe und sie haben gesagt, das höre sich an wie Wagner. Durch die Art des Vortrages von Dane Zajc wurde das ausbalanciert. Er hat eine sehr von Gewalt früh durchsetzte Biographie erlebt, war aber trotzdem glaube ich ein sehr sanfter und offenbar sehr sensibler Mensch trotz all dieser frühen Erfahrungen. Er musste eben ansehen, dass seine Brüder im Krieg zu Tode kamen im Widerstand, dass sein Vater im Krieg starb, dann auch die Nachkriegsgeschichte hat er doch als sehr schmerzhaft erlitten. Es wurde ihm der Zugang zu einer höheren Bildung verwehrt, weil er sich politisch exponiert hatte und er musste dann als Bibliothekar weit unter seinen intellektuellen Fähigkeiten sein Leben fristen. Alles das hat aber seine Sensibilität erhöht und er hat eben sich nicht abgeschottet und es ist ihm keine Hornhaut über diese Wunden gewachsen.

Koldehoff: Hat er in seine Heimat publizieren können, war ihm das möglich?

Hafner: Das erste Buch erschien im Selbstverlag, aber da sind für slowenische Verhältnisse doch unglaubliche 2.000 Stück davon abgesetzt worden. Das heißt, es war ein großer Hunger da für diese Art von Dichtung, die ja durchaus auch eine Situation beschreibt, die eine politische ist ohne das in den Vordergrund zu rücken. Also er hat die Politik nicht direkt angesprochen, aber umso tiefer und umso nachhaltiger getroffen.

Koldehoff: Wie ist er wahrgenommen worden in Slowenien?

Hafner: Als jemand, der einerseits dieses urzeitliche Raunen, wie man sich den Dichter vor der Erfindung der Schrift vorstellt verkörpert hat auf der einen Seite, auf der anderen Seite war er ein sehr urbaner, sehr gebildeter, sehr belesener Mensch und er hat diesen Spagat eigentlich scheinbar mühelos geschafft. Das heißt, er hat die Bildung, die er in sich aufgesogen hat nun tatsächlich wieder in diese fast urzeitliche Form einfließen lassen, die sein Ausdruck war und die vor allem sein mündlicher Ausdruck war und es gibt ja Aufzeichnungen seiner Auftritte und es bedarf eigentlich keiner Erklärung, das ist ziemlich unmittelbar, was er sagen wollte und der Ton ist oft wichtiger als die einzelnen Wörter.

Koldehoff: In einem biographischen Text über ihn habe ich den eigentlich ganz schrecklichen Satz gefunden, er lebte in der Erwartung, dass das Böse nicht an ihm vorüberziehen wird, also eine eigentlich grundnegative Lebenserfahrung, die dann auch zu einer grundnegativen Lebenseinstellung führen könnte. Haben Sie jemals einen fröhlichen Text von ihm zu lesen bekommen?

Hafner: Die Texte, die glaube ich gegen das Negative und gegen die Dunkelheit geschrieben sind, die durchaus auch gegen diese erlebte Negativität sich zu Wort melden und die ja doch zumindest in der Schlusssendung immer einen Lichtblick offen lassen. Ich glaube nicht, jemand, der wie Dane Zajc so gerne gelebt, so gerne getrunken hat, so gerne in die Berge gegangen ist, der tatsächlich noch in seinen späten Jahren ohne Berge nicht sein konnte, also sich auch dieser körperlichen Anstrengung sich eigentlich sehr genussvoll unterzogen hat, war nicht jemand, der das Leben abgelehnt hat oder der keine Hoffnung gehabt hätte. Er hat Kinder in verschiedensten Altern aus verschiedensten Verbindungen, also er war durchaus jemand, der zum Leben ja gesagt hat. Einmal hat er allerdings gesagt, früher waren die Zeiten besser, da konnten wir wenigstens noch Gott verfluchen. Also sein Himmel scheint ein leerer Himmel gewesen zu sein, das wird er vielleicht bedauert haben. Er hat mit seinem abwesenden Gott gehadert, wenn Sie so wollen.

Deutschlandfunk, 24.10.2005

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Hans-Peter Kunisch: Die Dichtung brennt
Die Zeit, 18.12.2003

 

Dane Zajc gedenken

am 30.1.2006 in der Literaturwerkstatt Berlin1

Dane Zajc’ Gedicht ist ein Gedicht in Bewegung. Es stellt nicht fest. Einmal in unserem Buch von ihm steht etwas Feststehendes vor Augen:

Sahst du die Kathedrale
Sahst du sie in der Bergferne
Sahst du die Orgel auf der die Sonne spielt
Sahst du sie in farbigen Schleiern
Sahst du die Kathedrale in der Bergeinsamkeit

Sahst du die Kathedrale
aaaaawie hoch sie war unter dem Himmel
aaaaawie schwer sie war auf der Erde
aaaaawie die Sonnenfluten sie überströmten

Wurde dir dunstig vor Augen
Wurde dir schwindlig im Kopf
Wurde dir weich in den Knien
Wurde dir von der Kathedrale in der Ferne

Hörtest du das Knistern des Nachmittags
aaaaadas Dampfen der blauen Luft
aaaaadie schuppige Zunge des Winds auf dem Felsen
Hörtest du das Tosen im Kopf
Hörtest du es hohl

Das Gedicht erreicht einen knappen Sieg über die Majestät des Bauwerks, aber nicht einen Sieg, der es abwertet. „Hörtest du es hohl“ vermindert die Kathedrale nicht, sondern stellt sie, im Gegenteil, erst recht hin.
Ohnehin sind die Außenweltgrößen ambivalent aufzufassen bei ihm, als Innenwelt-Subjekte auch, Subjekte im eigenen Ich.
Das eigene Ich kann auf dem Scheiterhaufen stehen:

Warst du denn je allein auf dem Scheiterhaufen?
Allein und absichtslos, im Frühling, wenn die weißen
Krokusse durch den Schnee sprießen, als wären sie selbst Schnee?
Oder im Sommer, wenn die Zeit zur Ruhe kommt. Wenn der Vollmond schneeweiß scheint,
so daß sein dürres Licht in deiner Hand raschelt?
Warst du je im Herbst da, wenn die Schatten lang sind
und der Himmel so nah, daß man seine blaue
Weichheit mit der Zunge kosten kann?
Du warst nie im Winter auf dem Scheiterhaufen, wenn die Bora
die Himmelsrichtungen durcheinanderwirbelt, deine Augen durchlöchert,
deinen Blick verwirrt, in deiner Seele Angst aufscheucht,
wenn es unter deinen Füßen weiß ist, weiß am Himmel,
der nicht da ist, weiß auf allen Seiten,
ohne Unterschied Warst du je da?
Kennst du den Scheiterhaufen?

Für alles wirst du bezahlen, beginnt ein kleines Gedicht:
Für alles wirst du bezahlen.
Am meisten für deine Geburt.
Ein Schwarm höhnischer Vögel verfolgt dich dein Leben lang.
In der Stunde Ruhe
und in der Stunde Ruhelos
senkt er sich auf deine Brust.
Und fordert Lohn.
Und du wirst zahlen und zahlen.
Doch die Erlösung bleibt aus.
Deine Vergebung ist nirgends.
Nirgends Erlösung.
In dir birgst du keinen Wert,
um damit zu bezahlen.
Und bist selbst Entgelt für alles.

„Du bist auch alles selbst,“ habe ich unter das Gedicht geschrieben, und, mit Ausrufezeichen, hinzugesetzt:

illusionslos! und diese Verhältnisse, diesen Sachverhalt, liest jemand, er, er klagt nicht, er nimmt wahr.

Er klagt nicht: keine Beschwerde ergeht, kein Klagehorizont entsteht, für den etwas außen zu antworten hat, bei aller Strenge nicht: Du bist es und / oder Du bist nicht.
Diese Strenge seines Wortlauts erinnert mich an etwas Bäurisches, so habe ich es gehört, wenn auch wohl nicht von Bauern selbst, vielmehr, vermute ich, von anderen, aus denen etwas Bäurisches dann sprach, ein illusionsloses „Das ist so“, ein aus elementarer Erfahrung geschlossenes „Das ist.“
Aber mit einer solchen Feststellung wird in Zajc’ Gedicht Bewegung eingelöst, von einem Vers zum andern, das Wort zahlen finde ich gelöst in ein Erzählen, ein Aufzählen, fortgehend von einem zum andern, und was da benannt wird, gilt, gilt gleich, es erhält und behält die Freiheit der Selbständigkeit. Es ist authentisch, es kommt ins Wort, weil es gesehen wird, während des Sprechens; nicht einmal nur, fortwährend, dies ist die vornehmlichste Eigenschaft in Dane Zajc’ Gedichten, die ihn von anderen unterscheidet, die seine Verse so erstaunen läßt, ich erkenne in ihr den Grund des Erstaunlichen, des Unvergleichlichen; die ihn so sprechen läßt, daß man meint, nie dergleichen gehört zu haben:

„An den schönen weißen Zähnen / würde ich seinen Schädel erkennen, meinte die Mutter“, beginnt das Gedicht „Fruchtlose Saat“. – Was für ein Beginn! Als ich das Gedicht hörte, wurde dazu gesagt: Zwei seiner Brüder sind als Partisanen gefallen.

Noch schwerer fällt es,
seine schönen braunen Augen auszusäen,
die noch keine Frau nackt gesehen haben,
die noch nie von Lippen geküßt wurden…

Im Kampf ließen sie ihr junges Leben, heißt die gewohnte pathetische Formel. Wenn wir das Unglück mit einer solchen Formel wegstecken, lebt es nicht mehr, sie tötet noch einmal, klagt an, eine Klage, die wir gewohnt sind. Dane Zajc befreit uns von ihr, streicht sie uns aus der Stirn. Gibt uns das Unheil ins Leben, in sein Gedicht.
Eine Strenge, eine „Kurzangebundenheit“ kennzeichnet diese Sprache. Wenn man nur liest oder hört, teilt sich das Gedicht seine Gegenwart mit einer unsichtbaren Gegenwart, mit der unsichtbaren Gegenwart jenes, der spricht, der hinzulauschen scheint, die Worte noch prüft, abwägt und wiederholt, so bekommen sie ihre lichte Anschaulichkeit, eine beschwingte, schwingende Körperlichkeit.
Als wollte er, während er das Gedicht errichtet, nicht stören, als wollte er die unsichtbare Gegenwart des im Gedicht Sprechenden vielmehr bezeugen, sprach er es reglos und aus dem Kopf geradeaus vor sich hin. Da ist ein Halt, ein behutsames Gehaltenwerden in der Bewegung, im Vortrag, in Lettern oder Lauten, man könnte auch sagen: Stille.
So wird er gegenwärtig bleiben, der, der er in den Gedichten ist, in ihrer unerhörten, unvergleichlichen, überraschenden Bewegung.
Unter ein Gedicht habe ich, die Zeugin, geschrieben am Schluß: „Es ist wie die Besinnung verlieren – und unglaublich gehalten!“

Noch Schritte des Fortgehens
Im dunklen Schacht Zeit
Noch schlittern sie in Ketten durch den Schlaf
Noch in unerträglicher Nähe
Im dunklen Schacht Zeit
Noch tastend noch suchend
Noch zurück wollend ans Tor das eiserne
Noch Zylinderhall
Im dunklen Schacht Zeit
Noch der ohne Kehlen mit Kehlen Hall
Noch der ohne Gehör rauh noch langer Jahre Hall
Im dunklen Schacht Zeit
Noch Hoffnung noch Arbeit noch Staksen noch durch die Welt
Durch die unfruchtbare durch die räuberische durch die entvölkerte durch die verhökerte
Noch in der Sandmure schuld
Noch sandig noch tschilpend
Noch mit dem puren Gold Irrsinn
Noch nietfest in Vogelköpfen
Im dunklen Schacht Zeit
Noch geht die Seele noch weißbeinig noch Wild
Noch im Hang noch ausgesprochen noch Beine noch schneeig wie Knochen
Noch zerbrechlich wie Porzellan
Noch im Hang
Im dunklen Schacht Zeit
Noch füllen wir ihn noch in den fernen
Noch in den der sich nicht füllt noch in den wimmelnden Schacht
Noch Lippen noch Haut noch Nägel noch Wirbel Wirbel Wirbel
Noch Schweigen noch wortige Worte
Noch ein Zahn Zahn noch eine Zunge noch zünglerisch
Noch Rückenmark noch Kosen noch Erde Erde Erde
Noch der blinde Korsar noch an der Kette noch dumpfer Singsang
Im dunklen Schacht Zeit

Aus den Bemerkungen zur Biographie, die auf Aleš Štegers schöne Nachwort-Ansprache „An Dane Zajc“ folgen, erfahren wir:
Er ist 1929 als viertes von sechs Kindern in Zgornja Javorščica, einem kleinen Dorf vierzig Kilometer östlich von Ljubljana geboren. Dort verlebt er seine Kindheit. Und beim Jahr 1944 steht:

Innerhalb weniger Monate fallen zwei seiner Brüder bei den Partisanen. Im selben Jahr sterben sein Vater und sein Großvater. Die Nazis stecken den Hof der Zajc in Brand.

Vielleicht war dieses Jahr seine Taufe. Eine Taufe befreit nach ihrem christlichen Verständnis von den Sünden. Vielleicht war es diese Taufe, die seine Seele erschaffen hat. Ich möchte zuletzt, meine vielen Beifallsausrufe für die Übersetzung Fabjan Hafners neben dem Text zusammenfassend, hinzufügen, daß auch diese Übersetzung ein unübliches Glück ist.

*

(Reflex auf JANEZ ŠKOF:

Aus sieben Jahrhunderten, nicht weniger!
kommt er herauf, herunter – ruft –
aus den felsigen – blickt er, spielt
diese Knopfharmonika)

Elke Erb, Ostragehege, Heft 42, 2006

 

Chris Eckman: The Last Side of the Mountain

 

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Nachrufe auf Fabjan Hafner: Übersetzen ✝︎ Manuskripte

 

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Nachrufe auf Dane Zajc: Tagesspiegel ✝︎ NZZ

 

Dane Zajc spricht sein Gedicht „Für alles wirst du bezahlen…“

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