Denise Dumschat: Zu Nora Gomringers Gedicht „Erdbebenstimmung“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Nora Gomringers Gedicht „Erdbebenstimmung“ aus Nora Gomringer: Silbentrennung. –

 

 

 

 

NORA GOMRINGER

Erdbebenstimmung

So bin ich
Dein Seismograph

Fange dein Zittern
In meinen Nerven

Baue mir ein Haus
Daraus und wohne

Zu lange darin

 

 

„Ich binz“

– Zur Problematik der Identität in der Lyrik Nora-Eugenie Gomringers. –

1. Wer ist Nora-Eugenie Gomringer?
In Relation zu Rang und Etabliertheit anderer in diesem Band vertretener Autoren muss Nora-Eugenie Gomringer, die – der Name verrät es, und mehr sei darüber nicht gesagt – die Tochter von Eugen Gomringer ist, als (noch) wenig bekannt eingestuft werden. Diesem Umstand Rechnung tragend, werden der näheren interpretatorischen Betrachtung eines ausgewählten Textes einige biografische Informationen vorausgeschickt und Blicke auf die literaturkritische Rezeption geworfen.
In einem Autorenlexikon könnten unter dem Stichwort „Gomringer, Nora-Eugenie“ derzeit folgende Angaben stehen: Geboren 1980 in Neunkirchen/Saar, wuchs G. im oberfränkischen Wurlitz auf. Sie lebte mehrfach längere Zeit im Ausland, besuchte u.a. für ein Jahr eine Schule in Pennsylvania und absolvierte Praktika in Los Angeles und New York. Seit 2000 studiert sie Germanistik und Anglistik in Bamberg. Sie ist Mitorganisatorin verschiedener literarischer Projekte, etwa des Bamberger Poetry Slam. G. tritt als Rezitatorin von Texten Frida Kahlos, Mascha Kalekos, Dorothy Parkers und Heinrich Heines auf und performt eigene Texte auf Poetry Slams. Sie war u.a. Gewinnerin des Spoken Word Berlin im April 2004. Ihren ersten Gedichtband veröffentlichte sie 2000 im Selbstverlag, den zweiten, mit dem Titel Silbentrennung, 2002 bei Grupello. Daneben finden sich Texte G.s im Internet und in Anthologien. 2003 erhielt sie den Hattinger Förderpreis für junge Literatur.
Aufmerksame, literaturinteressierte Leser von Zeitungen besonders im Raum Franken hätten das vielleicht gewusst. Dort nämlich zählt Nora-Eugenie Gomringer längst zu den etablierten, nicht mehr zu ignorierenden jungen Autoren. Von regionalen Literaturkritikern und Kulturjournalisten wird sie viel beachtet und geschätzt – wegen ihrer Veröffentlichungen und wegen ihrer expressiven Präsentationen fremder und eigener Texte. Kunst und Kraft ihres Vortrags sind in Bamberg und darüber hinaus bekannt und werden in Zeitungsartikeln und im Internet gelobt. Von einem „Geheimtip der deutschsprachigen Slammergemeinde aus Bamberg“ oder vom „Image einer mit Hippness und Spektakel kalkulierenden Autorin“ ist die Rede. Kaum ein Artikel über Nora-Eugenie Gomringer lässt ihre Beteiligungen an Poetry Slams unerwähnt; und auch unter den knappen biografischen Angaben auf der Klappe des Gedichtbandes Silbentrennung wird erwähnt, dass sie den Bamberger Poetry Slam mitorganisiert.
Der – nicht unproblematische, da implikationenreiche – Begriff Poetry Slam kontextualisiert die Autorin und ihre Texte. Er assoziiert Vorstellungen etwa von Events, Happenings, Performance, Improvisation und Unkonventionalität, knüpft sich an Schlagworte wie Spoken Word, Underground, Social Beat oder Pop, steht auch für die Alltagsnähe und Authentizität von Texten, für Spontaneität, Sprachwitz und Rhythmus. Im Sinne eines sozialen Systems impliziert Poetry Slam zudem eine Art allgemeiner Partizipation, einen Graswurzelcharakter: Prinzipiell darf jeder vortragen und bewerten; sämtliche neben dem Autor Beteiligte (Publikum, Jury, Moderator) können aufgrund der Unmittelbarkeit der Interaktion, die sich beispielsweise in spontanen Reaktionen des Publikums während eines Vortrags, auf die wiederum der Vortragende reagiert, äußern kann, an der Textproduktion teilhaben, die so zu einer kollektiven wird. Als wesentlich gelten überdies solidarische Kooperationen von Autoren innerhalb von Netzwerken und das Internet als typisches Verbreitungsmedium und Vernetzungsinstrument.
Der Poetry Slam an sich stellt für Nora-Eugenie Gomringer eine Umgebung (neben anderen) dar, in der sie sich als Autorin bewegt, verbunden mit wesentlichen Vorteilen: Sie kann eigene Texte schnell einem Publikum präsentieren und so ihre Wirkung testen; es ergeben sich Möglichkeiten der Kooperation mit anderen Autoren, was Veranstaltungen, literarische Projekte und Veröffentlichungen in kleineren Zeitschriften oder im Internet anbelangt. In Artikeln oder in Texten im Internet über Nora-Eugenie Gomringer wird gelegentlich zwischen der Slammerin und Lyrikerin, zwischen der Meisterin der spektakulären Inszenierung und der sensiblen, feinsinnigen Dichterin auf dem Sprung in den Literaturbetrieb getrennt. Da das Poetry Slam-Umfeld allerdings einen wichtigen Faktor für die Präsenz und Bekanntheit von Nora-Eugenie Gomringer und für die Multiplikation ihrer Texte darstellt, sie auch bei Lesungen in anderem Umfeld, einem Literaturhaus beispielsweise, eindrucksvolle Inszenierungen zeigt und sich in der Lyrik in Silbentrennung durchaus Einflüsse einer von Mündlichkeit geprägten Literatur erkennen lassen (etwa in einer gelegentlich sprach- und lautspielerischen Oberfläche), ist eine solche Unterscheidung nicht unbedingt zutreffend. Natürlich sind die Texte in ihrem Gedichtband dem Wesen nach etwas anders als solche, die sie bei Slams vorträgt. Die Gedichte in Silbentrennung sind komprimierter, sperren sich auch häufig etwas gegen einen unmittelbaren Zugang im Gegensatz zu den meist längeren, etwas mehr inhaltliche Oberfläche bietenden, für Slams geeigneten Sprechtexten, die allerdings ebenfalls große Komplexität aufweisen und nicht nur in der Performance leben. Einige solcher Texte sind – eine herzliche Empfehlung! – sehr leicht im Internet zu finden.
Im Weiteren soll es allerdings, ohne den Wert der anderen schmälern zu wollen, um solche Texte gehen, die im Medium Buch veröffentlicht worden sind. Vielfältiges Lob hat Nora-Eugenie Gomringer für ihren Gedichtband Silbentrennung erhalten. Musikalität und Rhythmus ihrer Texte werden gelobt, die Außergewöhnlichkeit der Metaphern wird betont. Breite Beachtung findet die intensive Auseinandersetzung mit der Sprache – als Sich-Abarbeiten am Sprachmaterial und als Selbstreflexivität der Sprache. Die Autorin begebe sich auf die Spur ihres Wortmaterials, spüre, dies in Beziehung zu alltäglichen Erfahrungen und Themen wie Liebe und Emotionalität setzend, dem Geheimnis der Sprache nach. Von einem „beachtenswerte[n] Sprechzeugnis“ geht da die Rede, von einem „lyrischen Mikrokosmos“, von „großer Souveränität“ im Umgang mit der Sprache. Lyrische Traditionen und Vorbilder gebe sie nicht durch Epigonalität zu erkennen, sondern reibe sich an ihnen, entwickle unter ihrem Einfluss eine eigene Sprache oder habe diese bereits entwickelt. Wo sie dem einen erst als „versiertes Talent“ gilt, das bald schon überregionale Bekanntheit erlangen könne, das sich allerdings noch in vielen Stilen versuchen möge, um zu einem eigenen zu finden, plädiert ein anderer bereits dafür, dass man die Qualität ihrer Texte „nicht mehr mit dem zweischneidigen Attribut ,Nachwuchsdichterin‘ relativieren“ müsse. Eine Rezensentin der Zeit konstatiert, dass Nora-Eugenie Gomringers Lyrik, die von kompromissloser Lakonie zeuge, „jedenfalls nicht Ungelesenes sein“ dürfe.

2. Zur Frage des Sinns und der Legitimation
Nicht alle Rezensenten können sich für Nora-Eugenie Gomringers Texte begeistern. In einer Besprechung des Gedichtbandes Silbentrennung auf der Internetseite literaturkritik.de wird ihre Lyrik gesehen als eine „Bestandsaufnahme des status quo, [eine weitere] ,Rettung der Sprache‘, die letztlich nur auf die Reproduktion ihrer Fragmentierung und Instrumentalisierung im ästhetischen Medium hinausläuft“. Nach dem Beitrag zur Entwicklung einer besseren Gesellschaft und der literaturgeschichtlichen Bedeutsamkeit wird gefragt und gemutmaßt, es ginge eher um originelle Bildlichkeit als um Tiefgang. Überdies, so wird kritisch bemerkt, bediene sich Nora-Eugenie Gomringer ihres „gymnasiale[n] Bildungsgut[es)“ und – studiert sie doch Germanistik – ihrer sprachwissenschaftlichen Kenntnisse im Bestreben um die Hervorbringung intelligenter, niveauvoller Texte: „eifrig werden Neologismen gebildet und Fremdwörter oder Fachausdrücke bemüht“. Man stört sich überhaupt an der Form – am „nur noch in ironischer Brechung“ gebrauchten Reim, an den „reichlich eingebrachten[,] aber irgendwie beliebig wirkenden Zeilenumbrüchen“, am Fehlen der Satzzeichen und an der Knappheit der Texte. Es handele sich um „ein sehr bemühtes und darum eher peinliches Formzitat aus besseren Tagen“. „[S]olche ,Lyrik‘“ biete „nicht die Antwort auf die brennenden Fragen unserer Zeit“, mangele es ihr doch an „Kraft zur Vision“.
Im Folgenden soll nicht diskutiert werden, inwiefern die Lyrik Nora-Eugenie Gomringers oder Literatur an sich aktuelle gesellschaftliche Fragen beantworten oder Zukunftsvisionen entwerfen muss und kann oder ob sie nicht vielmehr auf gegenwärtige und historische Ereignisse, Entwicklungen und Tendenzen reagiert, diese sprachlich konserviert und erfahrbar macht. Ebenso wenig sei über die literaturgeschichtliche Bedeutsamkeit von Nora-Eugenie Gomringers Texten spekuliert oder die Frage der Legitimität intertextueller Bezüge einerseits und der Epigonalität andererseits verhandelt.
Im Vordergrund soll besonders ein aus Nora-Eugenie Gomringers Gedichtband Silbentrennung ausgewählter Text stehen. Es sollen seine Struktur und deren Funktionieren untersucht und einzelne Themen – Beziehung, Identität, Schreiben, Rolle des Dichters – sowie deren Darstellung und Verknüpfung herausgearbeitet werden. In einer umfassenden analytischen und interpretatorischen Auseinandersetzung mit dem Text soll Fragen nachgegangen werden wie der, ob und wie der oft gepriesene Rhythmus der Texte Nora-Eugenie Gomringers in Verbindung zu den Inhalten gesetzt werden kann und also mehr ist als nur ein hübsches klangliches Merkmal; welche Dimensionen die in den Besprechungen als reich, innovativ, präzise oder auch einmal kritisch als selbstgenügsam und ohne Tiefe originell beschriebene Metaphorik aufweist; welche ,Aussagen‘ zu einzelnen Themen sich aus einem Text eruieren lassen. Darüber hinaus sollen Sinnkonstitution und Sinnzerfall beziehungsweise die Auflösung von Sinn nachvollzogen werden.

3. Eine kurze Vorstellung von Nora-Eugenie Gomringers Gedichtband Silbentrennung
Von der Autorin weg richtet sich der Blick nun zunächst auf den Gedichtband Silbentrennung insgesamt, um den Rahmen, in dem sich das später detaillierter untersuchte Gedicht befindet, kennen zu lernen. Es lassen sich grob folgende markante Themenkreise abstecken: Sprache, Schreibprozess, Kommunikation und Wege der Kommunikation, Mythen, Liebe und Beziehung. Diese Themen treten in den Texten in der Regel nicht singulär, sondern in Kombinationen auf. Die genannten Themen finden sich in jedem der vier Teile des Bandes – „Erdbebenstimmung“, „Verbivor“, „Wortgut“ und „Silbentrennung“. Vier Texte des Gedichtbandes („Entzwei“, „Wie erkläre ich“, „Ende“ und „Jakob Lügner Toter Mann“) thematisieren dezidiert den Holocaust.
Der Titel des Gedichtbandes deutet auf die besondere Relevanz von Sprache und Schreiben als Gegenstände der Lyrik Nora-Eugenie Gomringers hin; sie begegnen in allen vier Teilen verschiedenen Bildwelten. In nahezu allen Texten, die unter Erdbebenstimmung zusammengefasst sind, wird insbesondere der Schreibprozess thematisiert und – geschichts-, mythen- und erdzeitalterschwer – als Erfassung und Aufzeichnung von Welt nach Art der Geographie, Geologie, Kartographie dargestellt. Sprache wird zur Landschaft, zur Umwelt, zu etwas Gewaltigem, gekoppelt an Archaisches. Einen guten Eindruck hiervon kann der Text „Titan“ vermitteln:

TITAN

Berge gesammelt
In Flechtkörben
Das Strickzeug

Übergebreitet
Landkartengleich
Am Arm seitlich
Schwingend

Schnell ein Meer
Überspringen
Und sich

Einen Mythos
Schreiben
Dann ewig schlafen

Und weiße Tempel
Bauen lassen

Sonnenuntergang
Schablonen

Hier wird der Schreibende, der Dichter zum Titanen deifiziert, in einem Mythos, den er sich selbst schreibt. Er wird zum gewaltigen Schöpfer, für den die Welt Material bietet, das er zu einem Mythos verflicht, der ihn selbst erfasst und mit ihm als Geschriebenes, als Schatten auf Weiß (Papier) Ewigkeit erlangt.
In zahlreichen Texten im mit Verbivor überschriebenen Teil wird Sprache als Organismus gezeichnet oder in physischen Artikulationsabläufen nachvollzogen; Sprechen und Schreiben werden zudem auf organische Funktionsweisen – Atmung, Durchblutung, Verdauung – , auf Sinne – Hören, Schmecken, Fühlen – und auf Sinnliches – Essen, Hungern, Sexualität – projiziert. Offen poetologisch ist der Text „Gedichte“. Er thematisiert die Selbstreflexivität der Sprache als Merkmal von Gedichten in dem Sinne, dass Gedichte nicht nur nach Dichtungsprinzipien – Verdichtung/Bündelung von Bedeutungen, Auslassungen, Verknappung – entstehen, sondern diese auch vorführen, und verweist auf das Spiel von vielfacher Sinnstiftung und Sinnverlust bzw. Sinnzerfall.

GEDICHTE

Gedichte sind Gefechte
Auf weißen Seiten
Oder Tierhäuten
Ausgetragen

Die von Verdichtung
Und Ausdünnung
Sprechzeugnis ablegen
In aller Kürze

Die meisten Texte des Abschnitts „Wortgut“ eint abstrakt die Thematisierung der Mitteilung, der Kommunikation im weiteren Sinne und der Mitteilungs- bzw. Kommunikationswege (Brief, Film, Hinterlassenschaft, Überlieferung oder Erinnerung). Der hier exemplarisch gewählte Text „Narzisse“ bietet eine unspektakuläre Oberfläche in Form einer zunächst ebenso unspektakulären Aussage und Bewertung, er ist in seiner Schlichtheit reizend und komisch.

NARZISSE

Da wächst
Was

Schön

Das Gedicht spielt mit Bestimmtheit („Narzisse“ als eine bestimmte Blume, „Da“) und Beliebigkeit („Was“); ob Narzisse oder irgendetwas anderes, es wächst und ist schön, oder: dass es wächst, ist schön. Man weiß es nicht.
Dieser Text ist schön, dessen sei man gewiss, er soll nicht narzisstisch gekränkt sein.
Uneinheitlicher präsentieren sich die Texte des vierten, wie der Gedichtband mit „Silbentrennung“ betitelten Teils. Der Themenkomplex Schreiben, Sprache und Sprechen kehrt in der Bildlichkeit des Mythischen und des menschlichen Körpers wieder. Verstärkt begegnet die Thematik Liebe und Beziehung, die allerdings auch in den drei vorangehenden Teilen immer einmal wieder zu finden ist. Im für diesen Teil des Bandes titelgebenden Gedicht „Silbentrennung“ werden Sprache, Schreiben und Beziehung miteinander verknüpft.

SILBENTRENNUNG

Am Zeilenende
Wie nach Jahren
Abschied nehmen
Den Hut ziehen

Dich sehen lassen
Wie schütter das Haar
Geworden wie
Fadenscheinig
Die Kleidung vom
Aneinandervorbeireiben
In der engen Wohnung
Wie ahnend die Härchen
Die sich auf den Armen
Aufstellen
Beim Flüsterton

Und ordentlich
Ohne verbindlichen Strich
Das Wort trennen

In dem im mittleren Zeilenblock entworfenen Bild des menschlichen Miteinanders – der Verwandlungen hin zur Auflösung in der geteilten Enge, des Reagierens aufeinander, des Antizipierens des anderen – spiegelt sich die geordnete Unverbundenheit und spielerische Unverbindlichkeit von Zeichen, Worten, Silben, ihr unaufhaltsames Auseinanderdriften, das an ihre Verdichtung geknüpft ist.

4. Vom Schreiben und Selbstsein. Zu Nora-Eugenie Gomringers Gedicht „Erdbebenstimmung“

ERDBEBENSTIMMUNG

So bin ich
Dein Seismograph

Fange dein Zittern
In meinen Nerven

Baue mir ein Haus
Daraus und wohne

Zu lange darin

1. Erste Zugänge
Von Unruhe kündet das den Band eröffnende und für den ersten Teil titelgebende Gedicht. Es herrscht Erdbebenstimmung. Vom Zittern und von Nerven ist da die Rede, von einem Haus, das unter solchen Umständen gebaut wird und in dem ein Ich zu lange wohnt. Die Worte und Syntagmen, aus denen dieser Text besteht, sind spontan nicht schwer zu verstehen. Der Leser kennt jedes Wort und wird syntaktisch nicht irritiert. Der Inhalt lässt sich erst einmal leicht paraphrasieren: Das lyrische Ich zeichnet als Seismograph das Zittern eines Du in den eigenen Nerven auf und baut sich aus dem gefangenen Zittern ein Haus, das es über Gebühr lang bewohnt, also nicht rechtzeitig für irgendetwas verlässt. Aber worauf deutet das? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, sollen zunächst einzelne Zeichen und Zeichengruppen auf ihre Strukturen und auf Deutungsmöglichkeiten und deren Validierbarkeit hin untersucht werden.
Bereits beim Paraphrasieren des Textes setzt die Deutung ein; die oben benutzte Formulierung aufzeichnen markiert schon einen ersten Deutungsschritt. Das lyrische Ich fungiert also als Aufzeichnungsinstrument für das Zittern – abstrahiert: die Bewegungen – des Du. Ist das Du also ein Erdbeben und bedeutet somit eine Gefährdung für das Ich? Des Weiteren lässt sich fragen, welche Rolle die Nerven spielen; um welche Art Haus es sich handelt, woraus und wie es gebaut wird; warum lange darin zu wohnen als „zu lange“ [Hervorhebung durch d. Verf.] negativ bewertet wird; was hier bei wem oder zwischen Ich und Du oder innerhalb des Vorgangs nicht stimmt und was überhaupt vorgeht.
Halten wir, weiter ansatzweise deutend und abstrahierend, fest: Es gibt ein Ich und ein Du, die in einem Verhältnis zueinander stehen, das auf der Aufzeichnung von Bewegungen des Du durch das Ich basiert. Das Ich schafft sich aus den aufgezeichneten Bewegungen für sich („mir“) etwas es Umgebendes, einen Wohnraum, in dem es sich zu lange aufhält, und zwar allein. Das Du spielt am Ende keine Rolle mehr. Es liefert dem Ich lediglich das Ausgangsmaterial („dein Zittern“) für das im Akt des Fixierens entstehende Material (in den Nerven gefangenes Zittern) zur Errichtung des Hauses. Damit erfährt das Instrumentalisierungsverhältnis eine interessante Wendung. Die unspezifische Angabe „So“, die die Funktion des Ich als die Bewegung des Du Mitschreibendes modal bestimmt, wird in den Zeilen 3 bis 7 nämlich folgendermaßen spezifiziert: das Du ist letztlich dem Ich nützlich, das in der Funktion des aufzeichnenden Instruments für sich – und für sich allein – etwas schafft. In das aus der transformierten Bewegung des Du Geschaffene begibt sich das Ich ganz hinein und bleibt darin – ohne das Du, bis zum Äußersten.
Was macht diese Situation so beunruhigend, was macht die Erdbebenstimmung aus? Bis zur vierten Zeile erscheint die im Titel des Gedichtes eingeführte Bildlichkeit noch kohärent: Passend zur Erdbebenstimmung, gibt es einen Seismographen (das Ich), der die vom Du ausgehenden Erschütterungen („dein Zittern“) einfängt, mitschreibt, und zwar in seinen Nerven. Dass das Ich sich nun allerdings aus den gefangenen Bewegungen ein Haus baut, bringt das Bild in eine Schieflage. Ein Haus gilt gemeinhin als etwas Festes, Stabiles und besteht nicht aus Zittern. Dieses Problem aber ließe sich vielleicht lösen, wenn man annähme, dass das Einfangen das Zittern verändert, es – um im Bild des Seismographen zu bleiben – im Aufschreiben fixiert. Aber wie sieht ein Haus aus, das aus Schrift, also aus etwas Zweidimensionalem besteht? Bemerkenswert wirkt auch, dass der Ort, an dem sich das gefangene Zittern befindet, die Nerven des Ich sind; das Haus, in dem das Ich schließlich wohnt, befände sich so, streng logisch, im Inneren des Ich.
Die Bildlichkeit erscheint über den Text hinweg in sich brüchig. Sie bewegt sich im Textverlauf weg vom semantischen Feld des Erdbebens. In den ersten beiden Zeilen wird das Bild des Erdbebens über die Rolle des Ich als Seismograph aufgenommen, in der dritten Zeile mit „Zittern“, das sich als Ausdruck von Erschütterung/Beben assoziieren lässt, nur noch bedingt fortgesetzt und spielt in der Folge in den Bereich körperlicher oder abstrakt menschlicher Regung hinüber, da im Zusammenhang mit „Nerven“ das semantische Feld ,menschlicher Körper‘ evoziert wird. In den Zeilen 5 bis 7 tritt der Komplex ,Wohn-/Lebensraum‘ hinzu, der sich semantisch nicht oder nur als Widerspruch (Erdbeben vs. Wohnen; Brüchigkeit vs. Stabilität eines Hauses) in die Bildfolge fügt, syntaktisch aber mit dem Vorhergehenden verbunden wird – über die prädikatmodifizierende, anaphorische Angabe „Daraus“, die sich auf das gefangene Zittern rückbezieht und entsprechend die Handlung des seismographischen Ich, sich ein Haus zu bauen, näher bestimmt.
Mit Abstraktion oder strengem Nachvollzug der Bildlichkeit kommen wir hier nicht mehr weiter. Die Bildlichkeit muss augenscheinlich semantisch anders gefüllt werden, um das Kohärenzproblem zu lösen.

2. Zur Beziehung zwischen Ich und Du
Folgen wir der Spur, dass ein Ich und ein Du in einem Verhältnis zueinander stehen, und gehen wir von einer zwischenmenschlichen Beziehung aus, so könnten wir feststellen: Das Ich nimmt (physische oder emotionale) Regungen, Empfindungen und Stimmungen des Du in sich auf, und zwar sämtliche, denn das „Zittern“ lässt sich als Index für Verschiedenes denken: es kann Anzeichen von Angst, Aufregung, Freude, Wut oder Kälte sein. All das (in der Verdichtung) oder etwas davon (je nach Kontextualisierung) eignet und verwandelt das Ich sich an: Es verarbeitet das Aufgenommene, nutzt es als Material, um sich ein Haus, einen Lebensraum beziehungsweise, den Baumaterialien entsprechend, eine Gefühls- und Empfindungswelt zu schaffen, mit der es sich umgibt und aus der es vielleicht nicht mehr entkommt.
Die Beziehung zwischen Ich und Du ist unausgeglichen: Dem Du wird etwas genommen, das Ich nimmt und akkumuliert das Genommene bei sich und für sich allein; hierein fügt sich die negative Konnotation, die dem Verb ,fangen‘ anhängen kann. Auch das Ungleichgewicht der Beziehung macht die Erdbebenstimmung aus.
Auf der formalen Ebene spiegelt sich diese unheilvolle Konstellation auf verschiedene Weise wider. So entstehen Spannungen etwa aus der Zeilenstruktur und dem Rhythmus. Schon rein äußerlich wirkt der Text unruhig: nach drei Zeilenpaaren steht am Schluss eine vereinzelte Zeile. Bezieht man den einzeiligen Titel mit ein, ergibt sich visuell ein Ausgleich, wirkt der ganze Text im Druckbild in sich geschlossen, geklammert durch Titel- und Schlusszeile. In dieser Sichtweise der Zeilenstruktur wird die rhythmische Gestaltung dieser beiden Zeilen interessant; denn die Abfolge von Hebungen und Senkungen in der Titelzeile erscheint in der Schlusszeile gespiegelt: „Erdbebenstimmung“ – X x x X x, „Zu lange darin“ – x X x x X. Die Spiegelstruktur lässt sich in Verbindung bringen mit der Widersprüchlichkeit, die in der Kombination von Gefährdung und (darin) Wohnen besteht. Dieser Gegensatz ist wiederum aufzulösen über die negative Bestimmung „Zu lange“: Die Situation verheißt Gefahr (es herrscht Erdbebenstimmung), das Ich begibt sich in die Situation, nimmt sie an und hält sich in ihr auf, zu lange – bis die Gefahr unmittelbar ist, die Erdbebenstimmung zur zwar nicht ausgesprochenen, aber angedeuteten Tatsache eines Bebens wird.
Neben der Titel- und Schlusszeile des Gedichtes zeigen auch die übrigen Zeilen Auffälligkeiten im Rhythmus. Es sei eingewandt, dass hier kein festes Metrum zu finden ist. Allerdings wird eine annähernd regelmäßig alternierende Abfolge von Hebungen und Senkungen erkennbar, wenn man das Gedicht nicht zeilenweise, sondern satzweise liest: (X x x X x /) X x X / x X x X // X x x X x / x X x X x / X x X x X / x X x X x / x X x x X
Die markante und in diesem Text einzige Aufeinanderfolge zweier betonter Silben am Ende der 2. und am Beginn der 3. Zeile markiert eine Zäsur und gliedert so den Text rhythmisch in – sieht man hier von der Titelzeile einmal ab – zwei Abschnitte: in 1. die durch die kataphorische, weil noch unspezifische, modale Angabe „So“ das Folgende ankündigende Bestimmung des lyrischen Ich in seinem Sein („So bin ich“) überhaupt bzw. seines Seismograph-Seins im ersten Zeilenpaar; und 2. den Entwurf eben dieses Seismograph-Seins in den Zeilen 3 bis 7. Auch die Drei- bzw. Viersilbigkeit der Zeilen 1 und 2 unterscheidet diese von den nachstehenden, die jeweils fünf Silben aufweisen. Zudem wiederholt sich in der 3. Zeile die rhythmische Struktur der Titelzeile, was zusätzlich das erste Zeilenpaar gegen den übrigen Text abhebt und als Einschub erscheinen lässt.
Weiterhin wird im obigen Schema sichtbar, dass der Wechsel von Hebungen und Senkungen von der 3. bis zur 7. Zeile in sich gespiegelt ist: Das Pronomen „mir“, die 13. Silbe von 25, bildet die Spiegelachse und besetzt so die zentrale Hebung in dem Textabschnitt, in dem die Erdbebenstimmung evoziert wird. Das Ich wird (in seiner Dativform) rhythmisch in den Mittelpunkt gestellt. Im übrigen deutet bereits die 1. Zeile an, dass es vordergründig um das Ich geht und nicht um die Beziehung zwischen Ich und Du: Mit der Ansage „So bin ich“ beginnt das Gedicht; der Rhythmus betont zwar den syntaktischen Zusammenhang mit der 2. Zeile, der das Ich über die das Prädikat erweiternde Nomenphrase „Dein Seismograph“ in Beziehung zum Du setzt; die Strukturierung des Satzes in Zeilen und die Differenz der Silbenzahl innerhalb dieses ersten Zeilenpaars (zunächst drei, dann vier Silben) unterminieren allerdings diesen syntaktischen Bezug, wodurch inhaltlich die Beziehung von Ich und Du als in Frage gestellt gesehen werden kann.
Überhaupt steht dem Ich kein ,ernst zu nehmendes‘ Du gegenüber. Das Du ist grammatisch nicht als solches, i.e. als Personalpronomen im Nominativ, präsent, sondern nur über das Possessivpronomen: „Dein Seismograph“, „dein Zittern“ [Hervorhebungen durch d. Verf.]. Seine Rolle beschränkt sich darauf zu zittern, was im Allgemeinen schon keine bewusste Tätigkeit ist und hier innerhalb der Syntax nicht als Handlung, also in Form eines Verbs, sondern substantiviert und als Objekt begegnet und auf der semantischen Ebene Material ist. Das allein macht das Du dieses Textes und dieser Beziehung aus.
Das Ich dagegen wird in Zeile 1 ,namentlich‘ benannt („ich“), ist syntaktisch handelndes Subjekt und vollzieht auch inhaltlich Handlungen: Es fängt das Zittern, baut sich ein Haus und bewohnt dieses. Allerdings sind diese Handlungen der Funktion, Seismograph zu sein, untergeordnet: „So bin ich / Dein Seismograph“. Und in dieser Funktion geht das Ich scheinbar ganz auf: „So bin ich“.
Nun könnte man behaupten, diese Seinsweise des Ich sei ja aber immerhin auf das Du hin ausgerichtet, heißt es doch „Dein Seismograph“ [Hervorhebung durch d. Verf.]. Freilich sagt der Satz dies aus. Allerdings wird die Relevanz des Du – wie oben gezeigt – syntaktisch relativiert und darüber hinaus rhythmisch untergraben: Das Possessivpronomen „dein“ besetzt nach Silben die zentrale Position des ersten Zeilenpaars, ist aber im Unterschied zur zentralen Silbe „mir“ im zweiten Abschnitt des Gedichts unbetont. Die es umgebenden Betonungen heben dagegen das Ich und sein Seismograph-Sein hervor. In der dritten Zeile tritt „dein“, ebenfalls unbetont, vor „Fange“, also dem Handeln des Ich, und „Zittern“, dem vom Ich benötigten Material, zurück, bevor es völlig verschwindet.
In diesen Zusammenhang kann auch die Lautstruktur des Gedichts gestellt werden; besonders auffällig sind dabei die Diphthonge /ai/ und /au/. Lautlich entstehen die Ketten [Dein – Seismograph – dein (Zittern) – meinen (Nerven) – ein (Haus)] und [Baue – Haus – Daraus]. Der Diphthong /ai/ setzt das Du („Dein“) mit dem Ich („Seismograph“) in eine Beziehung, die sich im Weiteren semantisch als Gegensatz von Du („dein“) und Ich („meinen“) darstellt und schließlich im unbetonten, unbestimmten Artikel „ein“ verklingt. Hier wird eine Bewegung vom Bestimmten zum Unbestimmten, Beliebigen angezeigt: Jemand Bestimmtes („Dein Seismograph“) schafft aus etwas Bestimmtem („dein Zittern“) an einem bestimmten Ort („In meinen Nerven“) etwas Unbestimmtes („ein Haus“, nicht etwa „mein Haus“!) – allerdings für jemand Bestimmten: „mir“. Die Dativergänzung wird sowohl durch „die zentrale Hebung als auch durch den hohen Langvokal /i/ hervorgehoben. Das „mir“ erfüllt die Kriterien eines Dativ commodi, das Ich kann so als Benefaktiv, als Nutznießer seiner eigenen Handlung gesehen werden. Das Du ist bis hier hin längst verschwunden; das „mir“, in dem die über den Diphthong /ai/ gebildete lautliche Kette unterbrochen wird, erinnert nur noch an den Gegensatz zwischen Ich und Du und hebt die vorrangige Rolle des Ich hervor; der unbestimmte Artikel „ein“, mit dem die Kette unbetont endet, nachdem sie bereits auf einer Senkung („Dein“ in Zeile 2) begonnen hat, deutet auf den völligen Beziehungsverlust.
An die Stelle einer Beziehung von Ich und Du tritt das alleinige Handeln und Sein des Ich. Dies markiert auf lautlicher Ebene die auffallende Konzentration des Diphthongs /au/ im dritten Zeilenpaar. Das Handeln des Ich wird vordergrundiert über die lautliche Verknüpfung von „Baue“, „Haus“ und „Daraus“. Das Ich schafft sich irgendein beliebiges Haus, in dem es nichts tut, was über den Inhalt des Zeichens ,Haus‘ hinausgeht: Es wohn darin. Außerordentlich an dieser Erfüllung des allgemeinen Sinns eines Hauses ist, dass sie „Zu lange“ währt.
Wofür zu lange? Was durch das Überschreiten der zeitlichen Grenze verhindert wird oder was folgt, bleibt – wie das Haus – unbestimmt. In der Wiederaufnahme des Bildes der Erdbebenstimmung lässt sich diese Leerstelle füllen: Wenn die Erdbebenstimmung als Ahnung von einem Beben verstanden wird, bedeutet „Zu lange“ das nicht rechtzeitige Verlassen des Hauses, bevor das Beben beginnt. Allerdings, so wurde oben bereits festgestellt, fehlt es der Bildlichkeit als solcher an Kohärenz und ist sie lediglich Chiffre für Anderes. Und bevor nun der Text vor unseren Augen zerfällt bei dem Versuch, seine Struktur noch weiter aufzulösen, sei im Folgenden solchem Anderen nachgegangen.

3. Die Verfehlung der Identität
Abstrakt ausgedrückt, befindet sich das Ich am Ende in einer Umgebung, von der aus es auf Vorgänge außerhalb dieser klar begrenzten Umgebung nicht mehr adäquat reagieren kann. Um welche Vorgänge es sich genau handelt, registriert das lch nicht, da es zurückgezogen (in einem Haus) existiert; entsprechend bleibt unbestimmt, worauf sich das „Zu lange“ negativ auswirkt. Einen äußeren Bezugspunkt gibt es für das Ich nicht. Die Orientierung auf das Du („Dein Seismograph“) tritt – die vorangegangenen Untersuchungen des Textes auf mehreren Ebenen versuchten dies zu zeigen – als reiner Selbstbezug zu Tage. Die zunächst behauptete Funktion für das Du schlägt sich als Akt subjektiver Aneignung und Distanzierung vom Du bzw. von der Außenwelt nieder. Das Ich baut sich ein Haus aus etwas in seinem Inneren („In meinen Nerven“). Es zieht sich auf sich selbst, ja in sich selbst zurück. Das Aufgenommene wird zwar verarbeitet, aber nicht nach außen bzw. an das Du weitergegeben. So verfehlt das Ich die mediale Funktion gegenüber dem Du, die es sich zur Identität bestimmt.
Es verweigert sich der Instrumentalisierung für das Du, so könnte man sagen, widersetzt sich seinem funktionalen Wesen als ,Seismograph‘ des Anderen. Ein Seismograph zeichnet Erdbebenwellen auf und teilt Informationen über das Wesen dieser Bewegungen mit. Entsprechend bestünde die Funktion des Ich darin, dem Du, das zittert, das bebt, Auskunft über sich, also über das Du selbst, zu geben durch eine sichtbare Verarbeitung des Aufgenommenen oder eine Reaktion darauf. Es kehrt sein Verhältnis zum Du jedoch um, indem es dieses für sich instrumentalisiert, allerdings nicht mit dem Ergebnis, dass es über die eigene Identität etwas erfährt. Es konstatiert, „So bin ich“, nämlich „Dein Seismograph“, und bestimmt danach seine Identität über sein Handeln. Und dieses Handeln steht im Widerspruch zu der Funktion, die zu Beginn identitätsstiftend gesetzt wird. Das Ich ist nicht das, als das es sich identifiziert; sein Handeln entspricht nicht seinem Identitätspostulat. Es erfüllt weder die Funktion bezogen auf das Du noch überhaupt die Funktion an sich, da es nur etwas aufzeichnet, dies aber nicht vermittelt, nicht einmal an sich selbst. Weder bringt es Informationen über das Du/die Außenwelt noch über sich hervor.
Den Umschlagpunkt, an dem Funktion und selbst gesetzte Identität des Ich sich verkehren, markiert die betonte Silbe „mir“. Zuvor besteht noch eine Beziehung von Ich und Du – wenn auch als Gegensatz (dein/mein) und rhythmisch nicht gleichberechtigt; danach herrschen Stagnation und Unbestimmtheit. Das Du ist völlig verschwunden. Seine Bewegung („dein Zittern“) ist in etwas Statisches („ein Haus“) überführt; die Funktion des Ich für das Du geht zunächst im Akt einer Aneignung („Fange dein Zittern / In meinen Nerven“), der sich prinzipiell noch unter die ursprüngliche auf das Du gerichtete Funktion subsumieren ließe, in eine auf das Ich selbst gerichtete Funktion („Baue mir ein Haus“ [Hervorhebungen durch d. Verf.]) über und endet in einem Zustand, in dem das Ich in sich selbst gekehrt, von Unbestimmtem umgeben („ein Haus“) und außer auf sich selbst auf nichts Bestimmtes orientiert („ZU lange“ für irgendetwas) ist. Das Ich existiert am Ende in einer von der Außenwelt abgelösten Innenwelt („darin“). Dass das Du/die Außenwelt für die Welt, in der das Ich schließlich ,wohnt‘, konstitutiv ist, drückt sich aus im Reim von „Haus“ und „Daraus“. Dieser Zusammenhang – wie überhaupt die Beziehung von Ich und Du – wird permanent durch die Vordergrundierung des Ich untergraben: syntaktisch und rhythmisch, wie oben gezeigt, und letztlich auch inhaltlich, denn das Ich agiert, und zwar nur für sich („mir“), in Abgrenzung gegen das Du, und stagniert schließlich in der Abgelöstheit vom Du bzw. von allem, was außerhalb seiner selbst liegt. So reißt das Ich sich los von seiner als Funktion und dabei als Beziehung bestimmten Identität („Dein Seismograph“) und verliert sich im Versuch, sein Selbst zu bestimmen bzw. es selbst zu sein (Zeile 3 bis 7), in Unbestimmheit und Orientierungslosigkeit.

4. Das Ich als narzisstische Persönlichkeit
Im Anschluss an das soeben über die Identität des Ich Entworfene lässt sich unter Zuhilfenahme von Kohuts psychoanalytischem Modell zum Phänomen des Narzissmus das Ich in seinem Wesen als eine narzisstische Persönlichkeit vorstellen. So werden nicht, wie zunächst zu erwarten wäre, Energien des Ich für das Du verwandt, sondern Energien von diesem dem Ich zugeführt; die Funktion des Ich für das Du verkehrt sich in eine Funktion des Du für das Ich.
Von Beginn an wird nicht zugelassen, dass dem Ich ein Du als Subjekt gegenübersteht. Die vom Du eingebrachten Energien („dein Zittern“) werden dem Prinzip der Nützlichkeit unterworfen und gehen auf das Ich über. Alles, was nicht das Ich oder nicht Teil seiner selbst ist, verschwindet oder wird angeeignet bzw. auf das Ich bezogen („mir“), also integriert. Das Ich zieht sich von der Außenwelt und ihrer Realität in seine, eine von ihm selbst geschaffene Welt zurück, in der es nichts zu ihm im Gegensatz Stehendes und nichts vom Ich Unterschiedenes mehr gibt. Das Ich vollzieht eine totale Integration und damit die Auslöschung des von ihm zuvor Unterschiedenen zur Herstellung einer Einheit von Ich und Welt. Dieses Vorgehen kann als regressiv angesehen werden, führt es doch zu einem Zustand wie dem der archaischen, ursprünglichen Einheit eines Kindes mit der Mutter. In diesen Zusammenhang fügt sich das Zeichen ,Haus‘ als Symbol für Mütterlichkeit.
Das Zeichen ,Haus‘ kann ferner auf einen Größenwahn des Ich hin gedeutet werden: Das Ich baut sich ein Haus. Im Kontext der Erdbeben-Bildlichkeit vollzieht es eine Handlung, die eine gewisse Allmachtsvorstellung voraussetzt: Es baut sich ein Haus in einem Erdbebengebiet. Semantisiert man ,Haus‘ im Sinne von Gotteshaus, so ist eine Selbstdeifikation des Ich zu diagnostizieren.
Diese wie sämtliche vorherigen Überlegungen, Systematisierungen und Deutungsansätze werden nun in konkrete Kontexte gesetzt.

5. Die Beziehungsunfähigkeit des Ich
Für die nahe liegende Lesart, in diesem Gedicht gehe es um eine Liebesbeziehung, bedeuten die bisherigen Befunde, dass es sich hier um das Scheitern einer solchen Beziehung handelt. Diesen Interpretationsansatz gilt es nun nachzuvollziehen und dabei zu überprüfen, ob sämtliche Zeichen dieser Lesart entsprechend kohärent semantisiert werden können.
Beginnen wir einmal mehr mit der Feststellung, dass ein Ich in Beziehung zu einem Du gesetzt wird. Es gibt eine Person Ich, die eine Rolle für eine andere spielt („Dein Seismograph“); diese Person nimmt seismographisch feinsinnig sämtliche Regungen des Du („dein Zittern“) – den Ausdruck seiner Ängste, seiner Freude, Wut, Erregtheit usf. – körperlich wahr und in sich auf („in meinen Nerven“). Diese Situation zeugt von Nähe und Vertrautheit. Allerdings reagiert das Ich gegenüber dem Du nicht auf die empfangenen Regungen, Emotionen oder Signale, sondern macht sich diese nur zu Eigen und umgibt sich mit ihnen, hüllt sich in sie ein. Es wendet sich vom Du bzw. dessen Emotionen oder Befindlichkeiten ab, nachdem ihm dieses einen Impuls bzw. Energien zur Zuwendung zu sich selbst gegeben hat.
Das Ich schmarotzt Emotionalität von jemand anderem, um für sich selbst empfinden zu können, und lebt schließlich zu lange im Kosmos des Selbstbezugs, so dass es eine Verbindung zum anderen nicht wieder herstellen kann – sei es zum Zwecke der Neubelebung der Emotionen oder um doch noch zu reagieren.
Die Situation erscheint banal: Das Ich ist beziehungsunfähig. Es benutzt emotionale Energien eines Anderen für sich zur Konstituierung einer eigenen Gefühlswelt, eines Empfindens (für sich), ohne etwas Adäquates zurückzugeben, ohne Nähe des Anderen zu ihm selbst zuzulassen und ohne den anderen als solchen überhaupt anzuerkennen. Es staut die Energien als eigene bei sich. Deutet man Zittern als Anzeichen von negativen Empfindungen wie Angst oder Wut, lebt das Ich am Ende in einem selbstzerstörerischen Gebäude aus Hilflosigkeit, Selbsthass o.ä. Nimmt man an, dass das Zittern Freude oder positive Erregtheit indiziert und daher mit Zuwendung bzw. Liebe in Verbindung zu bringen ist oder dass die Übertragung dieses Zitterns auf das Ich auf Nähe und Vertrautheit schließen lässt, führt sich das Ich diese Energien selbst zu und existiert schließlich in Liebe zu sich und für sich allein. Vorsichtiger ausgedrückt, nutzt es diese und jegliche Energie zur Stabilisierung des eigenen Selbst.
Lösen wir uns allerdings doch nun einmal von der Mehrdeutigkeit des Zeichens ,Zittern‘ und deuten es rein als Ausdruck einer physischen Reaktion auf Kälte. Dann friert das Du also; es mangelt ihm an Wärme. Es produziert daher Wärme, rein organisch geschieht solches durch erhöhte Muskeltätigkeit, die sich u.a. in Zittern äußert. Das Ich fängt dieses Zittern, d.h., es nimmt dem Du die benötigte Wärme. Ein solcher ,Wärmeraub‘ kann mit Blick auf die unausgeglichene, rein auf Nutzen für das Ich ausgerichtete Beziehung zwischen Ich und Du, wie sie bisher auf verschiedene Weise festgestellt worden ist, auch als ursächlich für das Zittern, also das Wärmedefizit des Du angenommen werden. Das Ich braucht die Wärme des Du, menschliche Wärme bzw. – im Rahmen dieser Lesart – Liebe, die es sich aneignet und sich von innen heraus zuführt; das Ich kann in dieser Sichtweise als von sich aus kalt begriffen werden, gefühllos. Als narzisstische Persönlichkeit, wie sie oben bestimmt worden ist, benötigt es die Wärme und Emotionalität oder – abstrakter gefasst – Energie, um den Zusammenhalt seines Selbst bzw. seiner Persönlichkeit – wie in einem stabilen Haus zu gewährleisten. Das Ich anerkennt nicht die ursprüngliche Quelle dieser Energien, zieht sich, scheinbar autark, zurück und wendet sich dem Du nicht zu. In seiner selbst gesetzten Identität als in Beziehung Seiendes, das ich dem Wesen nach einem Du zuwendet, ist es also gescheitert. Die Rückkehr in eine Beziehung mit dem Du ist nicht mehr möglich. Zudem ist die selbstbezügliche, vermeintlich selbstgenügsame Existenz des Ich gefährdet, da benötigte Energien nicht weiter nachkommen, die Zuwendung des Ich zu sich selbst infolgedessen in Stagnation gerät und der Zusammenhalt der Persönlichkeit nicht mehr möglich ist; das Haus, das Gebäude illusorischen Selbstseins für sich, stürzt ein. Das Ich kann sich nur sich selbst zuwenden, nur sich lieben; die Begegnung mit dem anderen, mit dem Du (mit der Welt überhaupt) geriert sich als Akt der Integration, die zur Auslöschung des anderen in der Identifizierung von Ich und Welt führt, deren Ergebnis der Stillstand ist, das Ende der Integrationsbewegung, die innere Starre des Ich.
Zu dieser Deutung des Textes muss eingewandt werden, dass sie den Anspruch auf weitgehende und einleuchtende Kohärenz noch nicht gänzlich befriedigt. Das Zeichen ,Seismograph‘ beispielsweise lässt sich hier nicht in seiner vorrangigen Bedeutung von etwas, das aufzeichnet, das schreibt, integrieren. In jedem Fall legen allerdings einzelne Zeichen, die auf Vertrautheit, Intimität oder auch Sinnlichkeit (Zittern etwa als Ausdruck von Erregung) und damit auf eine Liebesbeziehung hin semantisiert werden können, die Lesart nahe, hier werde das Scheitern einer Liebe bzw. die tragische Unfähigkeit zur Liebe beweint. Ungeachtet dessen, dass in diese Deutung nicht alle Zeichen integriert werden können, kann sicherlich davon ausgegangen werden, dass eine Leserezeption diese melodramatische Vorstellung nicht ohne Berechtigung häufig zum Ergebnis haben wird.
Die hier nochmals aufgeworfene Identitäts- bzw. Beziehungsproblematik des Ich soll auch in der Fortführung des Versuchs, zu einer kohärenten, integrativen Lesart zu gelangen, maßgeblich sein.

6. Dichterbild
Blicken wir zurück auf den Anfang dieser Untersuchung, das Paraphrasieren des Gedichtes: Als ein erster Deutungsschritt wurde mit dem Seismographen der Vorgang des Aufzeichnens verbunden. Diese Spur führt uns zu einer Lesart des Textes, in der das Ich erst einmal nichts anderes ist als ein ,-graph‘, ein Schreibender, der, so zunächst sein Selbstbild, die Bewegungen eines Du festhält. Dieses Du kann man sich als Außenwelt, Welt allgemein oder Gesellschaft vorstellen, die dem Schreibenden Quelle von Stoffen/Materialien („Zittern“) ist, die zu einem Text („Haus“) verarbeitet („Baue“) werden. Das in der Begegnung mit der Welt Aufgenommene durchläuft die Nerven des Schreibenden; Nerven übernehmen in einem Organismus eine Mittlerfunktion und können hier, entsprechend abstrahiert, als Medium Sprache semantisiert werden. In der Welt Vorgehendes überführt der Schreibende in sein Sprachsystem und verdichtet es als sprachliches Material zu einem Text. In diesem Text wohnt er schließlich, so die Bildlichkeit; wie diese Seinsart in die poetologische Lesart zu integrieren ist, bleibt noch zu klären.
Mit Blick auf die Ergebnisse der Strukturanalyse des Textes ergeben sich folgende Verbindungen: Über den gemeinsamen Diphthong werden „Baue“, „Haus“ und „Daraus“, also der Schreibvorgang, der entstehende Text und sein Stoff miteinander verknüpft – kulminierend in einem Satz und das durch den langen, hohen Vokal hervorgehobene „mir“ lautlich flankierend. Eine nähere Bestimmung des Hauses/Textes bleibt aus. Im Mittelpunkt steht das „mir“ beziehungsweise das Ich, das schreibend das Wahrgenommene, ungeachtet dessen Heterogenität oder wesensmäßiger Spezifität („ein Haus“ [Hervorhebung durch d. Verf.]), auf sich zurichtet. Die Rückvermittlung der verarbeiteten Informationen an die Welt/Gesellschaft bleibt aus. Eine Kommunikation zwischen ihr und dem Schreibenden kommt nicht zustande. Der Schreibende ist so – entgegen seiner Selbstbestimmung zu Beginn – nicht seismographisches Beobachtungsinstrument für die Welt/Gesellschaft, kein „Seher“ oder „Prophet“, der vielleicht auch eine „Antwort auf die brennenden Fragen unserer Zeit“ geben könnte. Er schreibt sich selbst einen Text, schreibt sich eine Welt. Seine Sprache ist das Medium für den Monolog, in dem alle Bewegtheit, alles sichtbare Chaos, alle Eindrücke von der möglichen Brüchigkeit der Außenwelt in Festigkeit, architektonische Ordnung, in Statisches gebannt ist. Das Ich zentriert sich darin und findet Halt. Sein Haus, seine Welt ist der Text, sind Mauern aus Worten, in denen alles außen Vorgehende gefangen und zum Stillstand gekommen ist. Im Text gibt es keine Erschütterungen mehr, sie sind gebannt, alles ist festgeschrieben – auf den Schreibenden im Zentrum hin.
In diesem Gedicht werden so zunächst zwei Dichterbilder erkennbar: Der Text beginnt beim Bild des Dichters als Poeta vates, also jemandem, durch den die Welt/Gesellschaft etwas über sich und möglicherweise über ihre zukünftige Entwicklung mitgeteilt bekommt; dies jedenfalls ergäbe sich aus dem Bild des Seismographen, der – rein technisch gesehen – Bewegungen im Erdinneren graphisch sichtbar macht und eventuell Prognosen über die dortige Entwicklung ermöglicht. Dieses Bild wendet sich zu dem des nach Ganzheit und Ordnung strebenden narzisstischen Künstlertyps, der in der Kunst, hier entsprechend im Schreiben, sein gegen die Fragmentierung, gegen Brüchigkeit gerichtetes Ordnungsbedürfnis bis zum Äußersten umsetzt, der durch Integration eine Textwelt schafft, in der nichts mehr vor sich geht, die entpersonalisiert (nach „dein“ und „mein“ folgt schließlich ein unbestimmtes „ein“), entmenscht, abgekoppelt vom Leben ,draußen‘, etwas Totes ist und in der der Künstler in seinem Schaffen weg vom Selbstzerfall hin zur Ganzheit zu einem Ende kommt.
Der Weg zurück zur Außenwelt, zur Gesellschaft, ins Leben scheint ihm versperrt, die Isolierung hinter der „narzisstischen Mauer“ endgültig. Das schreibende Ich will, das behaupten die ersten beiden Zeilen, prinzipiell zur Welt gelangen beziehungsweise mit ihr dergestalt verbunden sein, dass es das in ihr Vorgehende – wie der Seismograph – in seine Sprache aufnimmt und permanent aufschreibt, so also immerfort schreibend die Welt bestimmt und sich in diesem Welt-Begreifen in die Welt ausweitet, sich im Ästhetischen entgrenzt und eins ist mit der Welt. Der Schreibende als Seismograph wäre, so verstanden, auch nur eine Variante des narzisstischen Künstlertyps – freilich die psychisch angenehmere.
Das Ich allerdings geht nicht den Weg der Entgrenzung, sondern wählt die maximale Integration, seinen Rückzug und seine Einmauerung wider die Desintegration. Es beginnt in der Einlassung auf die Welt, integriert und strukturiert das aus ihr Aufgenommene nach seinem Willen und vollzieht schließlich die eigene Individuation, die es von der Welt isoliert und vor ihr nichtig macht. Für das Ich ist die Welt als Text erstarrt, als dessen Inhalt/Bedeutung das Ich sich setzt als dem Text Innewohnendes. Aus dem Mitschreiben des ,Weltgeschehens‘ ist Stillstand der Welt und im Reflex Stillstand des Ich geworden – ein nunc stans. Dieses bedeutet gleichzeitig das Zerbrechen des im Text sich (ab)bildenden Selbst; das Wesen des Textes gründet in seiner Unbestimmtheit („ein Haus“ [Hervorhebung durch d. Verf.]) beziehungsweise darin, dass er nicht mehr ist als ein Text, eine Struktur, eine feste Ordnung – und dies als Äußeres; das Ich hat sich eine feste Gestalt erschrieben und existiert fortan in dieser sprachlichen Gestalt als deren unbestimmter, unbestimmbarer Inhalt, welcher der Welt nichts sagt.

7. Der Stillstand
Die Problematik der Bestimmtheit und Unbestimmtheit manifestiert sich schon im an sich unscheinbaren ersten Wort des Gedichtes: „So“. Es bestimmt das Seismograph-Sein des Ich modal und ist dabei selbst semantisch völlig unbestimmt. Es verweist lediglich kataphorisch auf die nähere Bestimmung dieses Seismograph-Seins (in den Zeilen 3 bis 7) und stellt die Eindeutigkeit dessen, was es bedeutet, ein Seismograph zu sein, in Frage. Die nachträgliche Ausgestaltung des unbestimmt bestimmenden „So“ und damit der Art und Weise des Seismograph-Seins zersetzt die Bestimmung des Ich als Seismograph und untergräbt die Konsistenz der spontan anzunehmenden Bedeutung des Zeichens ,Seismograph‘. Dies äußert sich in den Verschiebungen, die innerhalb des Textes vollzogen werden: von Bestimmtheit („So“, „Dein“, „dein“, „meinen“) zu Unbestimmtheit („ein“); von Lebendigem („Zittern“, „Nerven“) zu Totem („Haus“); von Beziehung zu Beziehungslosigkeit; von Bewegung („Zittern“) zu Stillstand („wohne / Zu lange darin“); vom aktiven Handeln in Bezug auf den anderen („Fange“) zur Handlungsunfähigkeit und Isolation.
Bringt man nun das Sprechen/Schreiben und die Problematik der Identität, wie sie bei Jacques Lacan begegnen, mit ins Spiel, lässt sich das Verhältnis von Identitätsbildung und Schreiben, wie es oben bereits entworfen wurde, noch ein wenig modifizieren. Lacan setzt an bei der Illusion des Menschen, er selbst zu sein und sich mit dem, was er über sich weiß und worin er sich zu erkennen meint, zu identifizieren. Die Verkennung nimmt ihren Ausgangspunkt im so genannten Spiegelstadium, das ein Kind im Zeitraum etwa vom 6. bis zum 18. Lebensmonat durchlebt und in dem das Grundmuster für die spätere Identifikation mit der Imago des Nächsten etabliert wird. In dieser Frühphase, in der das Kind „noch eingetaucht ist in motorische Ohnmacht und Abhängigkeit von Pflege“ durch die Mutter, stellt das Erleben der eigenen (physischen) Unzulänglichkeit eine tief greifende Erfahrung dar. Dem entgegen tritt die Wahrnehmung des eigenen Spiegelbildes, in dem sich das Kind bereits erkennen kann. Jubilatorisch nimmt es auf, was es sieht: die „totale Form des Körpers“, seine Ganzheit. Der eigenen traumatisierenden Unfertigkeit entgegen antizipiert das kindliche „Subjekt in einer Fata Morgana die Reifung seiner Macht“, setzt sich in eins mit einem Ideal-Ich (moi). Dies besteht jedoch nur in seiner Form, als „Standbild“, starre Gestalt – ganz „im Gegensatz zu der Bewegungsfülle, mit der es sie auszustatten meint“, und seitenverkehrt. Diese Identität ist eine wahnhafte, die „die mentale Permanenz des Ich (je) [Hervorhebung im Orig.]“ lediglich symbolisiert. So geht mit dem Erkennen im Spiegel das Verkennen einher, die Identifikation mit einem anderen, einem Nicht-Ich, an die aufgrund der Differenz zwischen der imaginären, narzisstischen, vorweggenommenen, unerreichbaren Einheit mit sich selbst als einem anderen und der tatsächlichen Unfertigkeit die Entfremdung gekoppelt ist und sich der Abstand des Ich (moi) zum eigentlichen Ich (je) auftut.
Die Angst vor Zerstückeltheit und Desintegration, die an den Seinsmangel, die eigene Unvollständigkeit (nach der Trennung vom Mutterleib) gebunden ist, bleibt und taucht in Träumen etwa im Bild der vom Körper losgelösten Glieder auf. Dementsprechend begegnet die Ich-Bildung im Traum häufig in der symbolischen Form einer Befestigungsanlage, die strukturell mentalen Erscheinungen wie beispielsweise Isolation oder Inversion entspricht. Das Ich unterliegt einem Wiederholungszwang in seiner Ich-Bildung, sucht also ständig das Erlebnis von Ganzheitlichkeit, auf die es sich projizieren kann. Die Entfremdungsfunktion offenbart permanent den imaginären Charakter der Ganzheit und die Unmöglichkeit für das Subjekt, zu sich selbst zu kommen.
Das Begehren, das sich auf Erfüllung richtet und dabei stets auf etwas Absentes verwiesen ist, kann nie zu einem Ende gelangen, indem es immer wieder ein neues Begehren hervorruft. Hier ergibt sich eine Entsprechung zwischen dem Begehren und dem unendlichen Verweisungscharakter der Zeichen, der unendlichen und unabschließbaren Signifikation, d.h. der nie endenden, nur momentanen, Konsistenz verunmöglichenden Aufladung von Signifikanten mit Sinn, bei welcher das Signifizierte permanent unter dem Signifikanten gleitet. Weder das Begehren noch der Fluss der Signifikanten stoppt: Jede Erfüllung ist Täuschung, impliziert den Verlust und kann die verlorene ursprüngliche Einheit nicht wieder herstellen; die Signifikanten konstituieren permanent Sinn, der sich immer wieder auflöst im Spiel des ewigen Verweisens, in dem der Sinn die Signifikanten antreibt und sich ihnen gleichzeitig entzieht, in dem die Signifikanten nach dem Sinn greifen und ihn gleichzeitig zerstreuen.
Ob nun ein begehrtes Objekt oder das Bezeichnete: das Subjekt wird ihrer (wie seiner selbst) nicht habhaft, sie sind ihm immer nur in der Imago gegeben oder symbolisch in der Sprache. Die Abwesenheit von etwas lässt das (kindliche) Subjekt zum Symbol, zu den Worten greifen. Die zum Eintritt in die Sprache notwendige Absenz bleibt dem Symbolischen für immer eingeschrieben. Das Symbol lindert zwar das Verlustempfinden, betont allerdings gleichzeitig den Verlust und die Absenz des Verlorenen. Das Symbolische tritt zwischen Absenz und Anwesenheit, zwischen Entfremdung und Einheit. So stellt die Sprache eine Ordnung dar, in die sich das Subjekt unter der Bedingung des Absehens von seiner narzisstischen Omnipotenz begibt; denn die Zeichen erhalten ihren Wert nur durch ihr In-Beziehung-Sein, in der Differenz zueinander, durch Kontextualisierungen usf., zeigen das Potential der Mehrdeutigkeit und unterliegen als Gemeinsames mit anderen einer Universalität, in der „das Wort des einen auch und zugleich das des anderen [Hervorhebung im Orig.]“ ist. Der Signifikant ist dabei dem Signifikat, das Sprechen dem Inhalt/der Bedeutung des Gesprochenen vorgeordnet; aus dem, was die Signifikanten ,tun‘, wird der Sinn konstituiert.
Die Sprache (langage) existiert schon, bevor das Subjekt in sie eintritt; sie ist der Ort des Anderen und keine individuelle Sprache, in der das Ich sich identisch mitteilt. Das Unbewusste nun, der Ort des wahren Ich, ist wie eine Sprache strukturiert, begegnet als Signifikantenkette. Dementsprechend kann das Unbewusste nur im Dialog mit dem Anderen hervortreten; es bedarf der Sprache des Anderen und des Dialogs mit dem Anderen als eines außerhalb der selbstreflexiven Identitätsimagination Stehenden, eines Regulativs gegen die Verhaftung in den Trugbildern der Spiegelung bzw. in einem Ausgesagten. Es sei angemerkt, dass auch dann, wenn das Subjekt in die symbolische Ordnung der Sprache eingetreten ist und als ,je social‘ in Beziehung zum Anderen steht imaginäre Identifikationen weiterhin stattfinden, das Sprechen des Subjekts auch immer das des auf ein Ideal ausgerichteten Ich (moi) ist und sich als monologische, nicht-diskursive Bespiegelung gerieren kann.
Das wahre Ich, das Subjekt des Unbewussten, ist das begehrende Ich; sein Begehren beruht auf Verlust und impliziert den Verlust als unüberwindlich. Das Begehren verweist immer nur auf das, was es begehrt, wie auch die Signifikation immer nur ein Verweisen ist, bei der die Schranke zum Signifikat, zum Sinn hin nicht überwunden werden kann. Das der Sprache fähige Subjekt sucht sich permanent sprechend zu konstituieren. Das wahre Ich tritt dabei nicht als Subjekt des bewusst Geäußerten, nicht als unmittelbar Aussagbares, nicht als in Form einer Aussage Fixierbares hervor. Sein Wesen bleibt unter den Netzen der in einem endlosen Verweisungsverhältnis miteinander sich befindenden Signifikanten verborgen. Im Sprechen kann sich das Ich als existent (und als exzentrisches, nicht konzentrisches Subjekt), nicht aber in einem irgend bestimmbaren Wesen wahrnehmen, dann nämlich wenn es, eine Spur hinterlassend, aus seiner Aussage verschwindet. Völlig bei sich sein kann es nicht.
Wenn man nun diese aus den Entwürfen Lacans herausgegriffenen Aspekte auf den Text „Erdbebenstimmung“ treffen lässt, kann man einmal mehr das Phänomen des Narzissmus bemühen. Das Ich drängt auf Identität und Stabilität seines Selbst. Im Bild des Hauses vollzieht es eine Befestigung seiner selbst, die an die bei Lacan aufgeführten Traumbilder einer Befestigungsanlage erinnert. Das Haus ist ihm weit mehr als nur die Repräsentation der ersehnten Ganzheitlichkeit, mehr als das Symbol für die begehrte Einheit. Es ist ein Trugbild, welches sich das bewusste Ich zur Realität erhebt – als Ordnung seiner selbst und Ordnung der Welt nach seinen Gesetzen. Das Ich kommt in seiner Ich-Bildung scheinbar zum Abschluss. Dieser Selbsttäuschung gibt es sich zu lange hin und verharrt im Bild seiner eigenen Stabilität. Es erkennt seine Verhaftung schließlich als Falle, die eine Abkoppelung bedeutet von dem, was vorgeht, von der Welt, vom Anderen. Anfangs gibt es gegenüber dem Ich noch den Anderen (das Du/die Welt), dessen Bewegungen das Ich aufnimmt. Die Beziehung ist allerdings einseitig auf das Ich ausgerichtet. Hier kommen nun Sprache und Schreiben ins Spiel der Interpretation. ausgehend von der Rolle des Ich als Schreibenden, besteht die Beziehung zum Anderen auf sprachlicher Ebene, in einem (wenn auch schriftlichen) Sprechen, das sich in seiner Einseitigkeit eben nicht als tatsächlich diskursiv geriert, sondern als narzisstisches Monologisieren, das nur seinen Weg über den Anderen nimmt und die Polarisierung von Ich oder Du, von Einheit oder Bruch dahin gehend auf die Spitze treibt, dass es den Anderen in seiner Andersheit negiert und im Prozess der Identifikation integriert, um zur Einheit mit sich selbst zu gelangen. Scheinbar gelingt es auch, eine Einheit zu erreichen: Das Ich schreibt einen Text, dem es dann innewohnt. Bildlich rezentralisiert es sich in einem Haus. Doch die Trennung zwischen dem Haus und dem, der darin wohnt, zwischen Text und Inhalt bleibt. Das Ich setzt sich als Signifikat, als Sinn des Textes, für den („mir“) eben dieser Text geschrieben ist. Das Primat des Signifikats ist eine Illusion. Sinn, hier das Wesen des Ich, konstituiert sich aus dem Spiel der Signifikanten, und zwar nur für eine begrenzte Zeit, für einen Moment, ohne überzeitliche Bestimmtheit, da Signifikation – und Identifikation – einen dauerhaften, unabschließbaren Prozess der Konstitution und Auflösung darstellt. Im Ansatz, Seismograph zu sein, besteht dazu auch eine Entsprechung. Denn ein Seismograph zeichnet sich gemeinhin durch die Permanenz und Unmittelbarkeit des Schreibens und durch die stete Modifizierung dessen, was im Schreiben abgebildet wird, aus.
Das Ich gerät allerdings in eine spiegelartige Verhaftung in das ganzheitliche, integrative, apotheotische, starre Bild, in dem es sich zu finden glaubt; strukturell fügen sich hierzu die oben erläuterte rhythmische Spiegelung und die Reime „Fange“ / „lange“ sowie – echoartig – „Haus“ / „Daraus“ innerhalb der Zeilen 3 bis 7. Das Schreiben (Sprechen) erstarrt als geschlossener Text, mit dem das Ich seine Identifikation vollendet zu haben meint. Der Signifikantenfluss stoppt, das Begehren wird eingefroren; der Konstituierungsprozess des Ich kommt zum Stillstand. Dass die Identität nicht erreicht und das Haus/der Text zunehmend befremdend ist und keine Bestimmtheit, die Konsistenz hätte, hervorbringt, drückt sich in dem „Zu lange“ aus. Im andauernden, permanent neuen Sinn stiftenden, permanent auch Sinn zerstreuenden Schreiben, nicht in einem bestimmten Sinn, auf den das Ich im Schreiben abzielt, tritt es hervor. Dazu braucht es den Anderen, der gewissermaßen diskursiven ,Input‘ liefert, das Ich im Dialog halten kann und an den Seinsmangel, den Verlust der Einheit, der das Subjekt als Subjekt überhaupt erst verursacht hat, gemahnt und gleichzeitig dem Ich die Möglichkeit des Umgangs mit diesem Seinsmangel ermöglicht.
Das Gedicht „Erdbebenstimmung“ provoziert verschiedene Lesarten, von denen wohl keine in vollkommener Kohärenz aufgeht, was wiederum das Spiel der Signifikanten erfahrbar macht. Es ergibt sich jedoch ein sämtlichen strukturellen Untersuchungen und Interpretationsentwürfen gemeinsamer Aspekt: das Problem der Identität. Zwar wird dafür keine Lösung vorgebracht, es wird allerdings nachdrücklich darauf verwiesen. Eine solche Problematisierung stellt sich gegen ein „Sei doch einfach du selbst“, gegen die Ideale von Unabhängigkeit und Vollkommenheit oder die Propaganda des Selbstbewusstseins.

5. Ursprünge und Identitäten
Identifikation als ein unabschließbarer Prozess – dazu sei hier ein weiterer Text von Nora-Eugenie Gomringer präsentiert, der die Thematik in anderer Form vorstellt. Aus alten und jungen Mythen speist sich eine vielfältige Identität, die sich in der ständig wechselnden Festlegung nicht festlegt:

URSPRUNGSALPHABET

Ich bin
Ariadne, die dem Faden, dem roten, wollenen folgt
Briseis, die Achilles diente
Bin
Calypso und singe für Odysseus und wünsche, dass er mich nicht verlässt
Diana, Göttin mit dem Silberbogen, Silberpfeil, die Mondzicke
Ich bin
ein guter Maler und heiße Hitler
I am
Ferlinghetti crying over Allen
Guanin, der DNA Bauer, der Knecht
Hadrian und baue eine Mauer mir zu Ehren, dem Reich zur Wehr
Ich auf Freuds Couch
Jonas im Walbauch mit unendlichem Vertrauen
Bin
Kassandra, die ständig spricht, doch keiner hört
Langsamkeit, mit der ich vergesse und an die ich anschließe
Medea, die deiner Geliebten ein Kleid näht den Kindern die Köpfe verdreht
Ich bin
Nora, der du ein Puppenhaus baust
Ochsenfrosch, denn das ist die Liebe zwischen Frida und Diego
Proteus, denn ich will allen gefallen und hüte die Robben am Strand
Ich war die
Qual des Laokoon ebendort, wo die Wellen brachen
Ich bin
Rilkes Panther-Tierpfleger
Sybille, Sybilla, Cybil – who cares – I speak in riddles
Ich bin
Ton aus Erde aus Sediment aus dem Adam entstand
D-
u bist der Hauch und unsinkbar
Ich bin
Verlorenes am Wegrand, ein Stein, den einer lange mitgetragen hat
Warten auf den Läufer aus Marathon, dem Fenchelfeld
X-Men, die Weltretter, die Ahnen der Tafelrunde
Ich bin z
ynisch, Baby, zynisch
Ich bin
z

Denise Dumschat, aus: Andrea Bartl (Hrsg.): Verbalträume. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Wißner-Verlag, 2005

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