Der Prokurist: Oswald Egger & Andrea Seidler (Hrsg.): Umgebung Ungarn

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch Der Prokurist: Oswald Egger & Andrea Seidler (Hrsg.): Umgebung Ungarn

Der Prokurist: Egger & Seidler (Hrsg.)-Umgebung Ungarn

HEPPI BÖRSDEJ

Am siebzehnten Juli des Jahres
aaaaaneunzehnhundertsechzig
hielt ich vor dem Rekamié im Zimmer inne,
und stand da, wie ein Pflock;
vier, mein Gott, seit vier Jahren stehe ich schon hier
− dachte ich −
unberührbar.

László Garaczi

 

 

 

Zur Zusammenstellung

Die Auswahl der in diesem Band vorgestellten jungen ungarischen Autoren ist annähernd zufällig. Sie soll vier Möglichkeiten von literarischen Antworten auf die sich in den letzten drei Jahren anbahnenden und nunmehr vollzogene „Entpolitisierung“ der ungarischen Literatur, das heißt auf die neue Situation der Unabhängigkeit von Zensur, von Eingriffen in die Publikationsfreiheit Ungarns zeigen. László Garaczi und Endre Kukorelly veröffentlichten ihre ersten Lyrik- und Kurzprosatexte und –bände Mitte der achtziger Jahre und sind seither laufend im literarischen Leben und auf dem Buchmarkt präsent und darüber hinaus im deutschsprachigen Europa aus Übersetzungen schon bekannt geworden. Gábor Németh und Ferenc Szíjj traten bisher in literarischen Blättern, Anthologien, Jahrbüchern auf, Szíjj ist Gründer und ehemaliger Herausgeber der Literaturzeitschrift Harmadkor. Ihre ersten eigenständigen Lyrik- bzw. Kurzprosasammlungen erscheinen im Laufe dieses Jahres.
Die Gemeinsamkeit der vier Autoren, und ausschlaggebendes Kriterium für die Zusammenstellung dieser Texte, ist deren Bruch mit der traditionellen ungarischen Literatur, die seit ihren Anfängen stets unter politischer und/oder nationaler Motivierung stand, ist sozusagen deren „Geschichtslosigkeit“. Sie engagieren sich nicht als Ungarn, sie engagieren sich nicht politisch. Sie haben diese Frage – für sich – bereits gelöst. Ihre Welt ist problem- und konfliktbelastet, ist kaputt, ist aus „Plastik“: häßlich und unausrottbar. Keiner versucht, dieser Welt auch nur ansatzweise zu entkommen. Das Negative wird als das Gegebene angenommen, als Negativum akzeptiert – als ein Ist-Zustand, auf den man unterschiedlich reagieren kann. Garaczi, der sich außerhalb dieser Welt stellt, der sie hämisch und frivol beobachtet, belächelt, der Anfang, Ablauf und Ende seiner Handlungen in ausweglos Schlechtem, vorherbestimmt Schlechtem verschmelzen läßt, dessen Antihelden von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Eine Lösung dieses/seines Dilemmas ist nicht in Aussicht. Garaczi nimmt diesen Zustand achselzuckend zur Kenntnis. Németh geht ebenfalls von einer Konfliktwelt aus – bleibt gleichfalls Außenstehender, fühlt aber die Spannung seiner Figuren, belächelt sie nicht in ihrem Unglück, hat Verständnis für sie – hilft ihnen dennoch nicht, weil ihnen nicht zu helfen ist.
Kukorelly und Szíjj stehen diesem Status indifferent gegenüber: Kukorelly scheint über den negativen „Belästigungen“ zu stehen, ist bereit, zu belächeln, ist bereit, sich zu integrieren und als Teil des wohlbekannten, von ihm als „unsrigen“ anerkannten Zustand zu akzeptieren. Szíjj thematisiert die Entfremdung, spricht die „entmenschlichte“ Welt direkt an, schildert sie realistischer, als die anderen drei – bleibt aber an der Schwelle des Aufdeckens stehen, akzeptiert seine Haltung, den Entzug seiner Person aus dem Konflikt, indem er – oder seine Figuren – die Augen schließen. Zu einem Zeitpunkt, wo sie dem Leser eben geöffnet wurden.

Zuerst lachst du,
du kicherst darüber, zuerst.
Später schüttelst du das ab.
Schüttelst es herunter
wie ein Fieberthermometer.

Aus: Endre Kukorelly: Vierzehn Zeilen Budapest.

Andrea Seidler, Nachwort

 

Der Prokurist erscheint nicht, er taucht auf

Als Ereignis an immerhin [immer] anderen Orten, im Kontext von, sagen wir, bestimmten Organisationsformen für Öffentlichkeit. Im Konnex mit anderen [Publikationen]. Die Zweitschrift einer Zeitschrift, Nummer Null und Nummer Eins Null. Plötzlich vielleicht und unerwartet tritt Der Prokurist in den Zusammenhang einer Auseinandersetzung, die es ohne [Konjekturen] vielleicht gar nicht gegeben hätte. Der Prokurist aber (Turist im Korpus? Ruki im Orkus? – Pastiors Ubertragungsdoppelpunkt der Metapher ins Syntagma) ist immer schon weiter, voraus[sichtlich] nur um weniges, Wort für Wort [vorläufig] ohne Ort [und Jahr]. Der Verteter einer unbegrenzten [unermess-lichen] Vollmacht, seine Freiheitsgrade selbst[vergessen] zu bestimmen oder [auch] zu ver-lieren. Der Prokurist ist kein Sitz für Stimmen einer Sprache [Organ für Literatur], aber jeweils deren Versprechen [Leertasten] um einen attraktiven Punkt. Eine Erscheinungsform mit Mobilität zwischen den Medien: vorübergehend taucht von Mal zu Mal ein Prokurist auf und verschwindet wieder; gleichzeitig aber – und das ist immerhin paradox – wird er immer als derselbe und selbander bändig identifiziert. Ein Name, der nichts benennt als seinen Ruf. Der Prokurist ist als [chaing of?] Beam [Korruptele] ein Hasardeur, der wie alle Parasiten, Schulterhocker, Aufsitzer, tapferen Schneider, Zaunkönige und Zwerge auf Schultern von Riesen die Welt, die er lebt [doch ja, ein bißchen gewiß], schlecht verwaltet, privilegiert [und] bleibt, und jeden Händedruck [lectio difficilior:] Hand in Hand umdreht. [1988/1992]

Edition per procura, Ankündigung

Der Prokurist

Verein für Organisation und Austausch von Kunst und Kultur ist im Jahre 1989 in Wien gegründet worden. Ein Stammtisch von Schriftstellern, Künstlern und Kulturwissenschaftlern konnte kraft Organisation und Koordination von Literatur, Wissenschaft und Kunst im engeren kulturellen Wechsel mit Lana (der Verein ist aus der Tätigkeit und einigen Vorstandsmitgliedern des Vereins der Bücherwürmer Lana hervorgegangen) – aber auch mit weitem Europa überhaupt – eine eigene Informationsstruktur samt Redaktionskonzept aufbauen, gruppieren und weitertragen. Von Lana aus gesehen machte die real existierende und wachsende Vernetzung mit anderen Veranstaltungsorten und Ideenbereichen ein eigenlebiges Büro in Wien notwendig und ermöglichte im gleichen Zuge („transalpin“) die Zeitschrift Der Prokurist mit doppelter Buchführung („Und Tuchfühlung?“). Ein Scharniergelenk dieser Zwillingsbindung war 1989 die Rückführung des Kravoglschen Kraftrades aus dem Technischen Museum Wien ins Geburtshaus des Erfinders nach Lana.

Seit April 1990 hat sich der Verein in zuzüglich strukturierten Räumlichkeiten eingemietet, um von dort aus seine kulturelle Tätigkeit („ungleich“) intensiver aufzunehmen. Die Veranstaltungen der Secession Lana erbieten damit ihr entsprechendes, gleichsam größeren Aktionsradius ermöglichendes, betriebliches Pendant. Die kontinuierliche, propädeutische Vor- und unterstützend redaktionelle Nachbereitung in der Session Wien stillen gleichsam mehrere Verlangen nach erbittlich geltender, ebenso ersichtlich wie repräsentativ einräumender Vermittlungsstruktur, stellvertretend zwischen Wien und Südtirol („wer so will“). Beide zentrieren Sammel- und Verteilungsträger – Archiv und Vertrieb, springender Doppelpunkt – von aktuellen literarischen und offenbaren Beziehungslinien. Damit sind im Modell endlich jene Voraussetzungen zur Organisation von Selbstorganisation gekoppelt, aus denen heraus die procura selbstgewiß hervorragt und – déjà-vu anscheinend – punktet: Es entstand nachgerade das gemeinsame, in Wien und Lana erscheinende Publikationsprojekt edition per procura (Abteilung B) und die alljährlich stattfindenden Kulturtage Lana werden ebenfalls von hier aus konzipiert und bereitet. Von nun an können Lesungen, Veranstaltungsreihen, Symposien und Ausstellungen in Lana sowie Exkursionen und eigene oder nachbarschaftlich berührende Publikationen in einem konzeptionell weiterreichend eingebundenen Zusammenhang koordiniert und operativ, geographisch übergreifend, gewertet werden.
Die dazu erforderlichen Vorarbeiten sind inzwischen soweit abgeschlossen, um die Räumlichkeiten einer literarischen Öffentlichkeit zugänglich und keinen Staat zu machen. Die Session Wien jener ideellen Akademie umfaßt in Ergänzung („ein Herz und eine Seele“) zur erprobten Einrichtung ihres Voraussetzungssystems in Lana: erstens ein funktionales Büro mit entsprechender Geschäftsführung, das die erforderliche redaktionelle Mitarbeit in bezug auf jedwede Produktion in Lana erleichtert; zum andern einen Veranstaltungsraum mit kleinem Schanktisch, wo Werkstattgespräche und Sessionen mit („Sitz im Leben“) Lesungen, Vorträgen und Ausstellungen organisiert bzw. ermöglicht werden sollen; darüber hinaus eine Sammelstelle des Europäischen Archivs für Poesie, welches in Lana in Aufbau ist sowie eine Einlauf- und Vertriebsstelle von Informationen, Ideen und Interessen.
Auch im Jahre 1991 werden Bücherwürmer und Prokuristen als betriebsame Verbindung ihre Tätigkeit im Gefüge verschiedener Veranstaltungsformen, Beziehungslinien und Arbeitsbereichen fortsetzen. Nach erfolgter Verfestigung der infrastrukturellen Voraussetzungen und wechselseitiger Koordination von Sitz und Stimme, zeichnet nunmehr kräftiges Kolorit sichtbar Konturen, zeiht Parcours, Projekt und Produktion nach Jahr und rotem Faden, und noch und noch ergeben einander Ereignisse laufender Dinge, Zeit des Wartens. Der Kreis von Aktivitäten mag sich („Runde“), und mit beruhigter Gelassenheit sehen der Verein der Bücherwürmer und dessen Prokuristen auf alle eingelösten Ankündigungen zurück, sehen zu, daß im gegenwärtigen Jahr das erreichte Tableau gefestigt und wohl zum Teil auch erweitert werden kann. Rückblickend auf einen vervielfachten Realumsatz, welcher jene qualitative Schwelle überschreiten half und ein neuartiges, komplexes Geflecht literarischer Öffentlichkeit entstehen ließ, lokal bis kontinental, wissen mehr und mehr zu schätzen, worauf Tätigkeit jederzeit rückführbar erbaut werden will. Wohl trägt der Fortlauf der Geschehnisse einigen Keim zwar nicht zur Sorge, aber doch zu besonnener Aufmerksamkeit, und die nachdrückliche Bereitschaft zu breitflächig versponnener Aktivität ist dauernd. Einigen war die Akademie noch nie plausibel und, täuscht nicht alles, so rochieren jetzt Demarkationslinien. Schade, soviel Ungestüm. Procura erscheint republik, siebenmal im Jahre 1990 allein: das PR-Projekt mag nur die Stillen vom Land kongregieren, um, aber in ungleich weiterreichter Nachbarschaft wirken, eine Art Exportartikel geistigen Binnenmarktes wiederherzustellen und sich nicht irgendeinem Vergleich kraft ökonomischer Verkaufskraft messen, welcher zudem noch anzuzetteln wäre. Nur die Ruhe. Zum anderen, aber das fällt schon leichter, ist gewiß das Niveau der Veranstaltungen (Abteilung A) – samt dem Ausbau des Europäischen Archivs für Poesie (Abteilung C) – zu halten (aber in Bewegung), zu welchem bereits namhafte Schriftsteller ihre Zuträgerschaft beginnen. Als Akademie für Sprache (Abteilung D) wird die traditionelle Exkursion (Abteilung E) dann nach (und nah) dem Osten – in die Autonome Tschuwaschische Sowjetrepublik – unterwegs sein, so viele mögliche Welten in wie vielen ermöglichten Tagungen („Session aus Secession“). Selbstredend, aber nicht angekündigt, werden einzelne Autoren, Projekte oder Bücher vorgestellt. Dazu kommen Ausstellungen, die den Bereich des Literarischen berühren, etwa die erstmalig vollständige Präsentation der Gemälde Pier Paolo Pasolinis, welche vom Assessorat für Kultur der Provinz Pordenone zur Verfügung gestellt werden. Aus solchem Ungefähr heraus erfolgt, genüglich und wiederholt verjüngt, unablässige Dislokation. Vorausgesetzt, die Dinge laufen.

Seit 1990 erscheint die Zeitschrift Der Prokurist

in Wien und Lana mit mindestens drei Literaturnummern und einer nicht festgelegten Anzahl von Supplementbänden (edition per procura) pro Jahr. Südtiroler Eigentümer des mehrstelligen Publikationsprojekts ist der Verein der Bücherwürmer Lana, Herausgeber Oswald Egger. In Wien trägt die Publikationen als Zweitstelle der gleichnamige Inhaber – Der Prokurist. Verein für Organisation und Austausch von Kunst und Kultur – unter integrierend redaktioneller Mitarbeit bislang vor allem von Peter Waterhouse. Zuträger und Kommanditär Felix Philipp Ingold haftet in korrespondierender Teilhabe aus Zürich am PR-Projekt, Hermann Gummerer hält in der Secession Lana kulturwissenschaftliche Leitlinien inne – mit ermessendem Beirat – sowie jedwede Endredaktion in Zusammenarbeit mit Robert Huez und Arnold Mario Dall’O durch. Damit erfüllt sich das Desiderat einer unmittelbar anwendbaren, funktionalen, zugleich publizistisch präsenten Vermittlungsstruktur zwischen Wien und Lana: Zum einen, was die organisatorischen Voraussetzungen der kulturellen Übertragung betrifft – im Hinblick auf seine ebenenweite Vernetzung – zum anderen, was einen entsprechenden distribuierten medialen Träger bereitet, der Zentrum und Peripherie faktisch ineins setzt. Die Veranstaltungen des Vereins der Bücherwürmer einerseits und die entsprechenden Tätigkeiten des Wiener Büros – vorgestellt repräsentiert als Akademie für Sprache (Abteilung D) finden so endlich ihr geeignetes mediales Pendant.

Aus: Die Akademie ist der einzige hüpfende Punkt im Staate. Jahresbericht der Akademie für Sprache, 1991

Der N.C. Kaser-Preis –

gestiftet von Paul Flora, Markus Vallazza und dem Verein der Bücherwürmer Lana – ist eine private Förderung an junge Autoren, welche in einem bestimmten kulturellen, auch kleinen Raum ermeßlich Anregungen streuen, deren Texte Möglichkeiten zu sprachlichen Territorien ausbilden; eröffnende Sprachlandschaften, die neu Anknüpfungspunkte berufen, auch über ermittelbarere, literarische Ebenen hinaus, hin zu einer relevanten Auseinandersetzung (es erscheint jeweils eine Edition per procura, die dem Preisträger und seiner weiterreichenden Umgebung applaudiert). Ohne prästabilisierte Germanistik, die sich als Literaturkritik mißversteht, wird der Preis zweijährig, doch propädeutisch, in Lana vergeben. Der Preisträger wird ermittelt auf Anregung von Schriftstellern im Umkreis der Zeitschrift Der Prokurist, bestimmt vom aktualen ästhetischen und organisatorischen Interesse.

 

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Der Dichter Oswald Egger.

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