Dichter und Maler über Kunst und Natur

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch Dichter und Maler über Kunst und Natur

Dichter und Maler über Kunst und Natur

NESTFLECHTER PIETRASS

– Vorrede zur Poetikvorlesung von Richard Pietraß. –

Bereits Hölderlin, sehr verehrte Damen, meine Herren, bereits Hölderlin erachtete – vor 200 Jahren – für nötig, der Natur Nachsicht, Hingabe, ja Schutz angedeihen zu lassen. Ich beziehe mich auf sein Gedicht „Natur und Kunst“, genauer „Natur und Kunst oder Saturn und Jupiter“, in dem es der Dichter unternimmt, auf Jupiter (Zeus), den er als Symbolgestalt der Kunst, also des Menschgemachten schlechthin setzt, schuldzuweisend einzureden:

[…] in den Abgrund, sagen die Sänger sich,
habst du den heilgen Vater, den eignen, einst
verwiesen und es jammre drunten
[…]
Schuldlos der Gott der goldenen Zeit schon län
gst

Denn dies, so Hölderlin, der Sachverhalt: Natur, in Person des Jupitervaters Saturn, sieht sich jammervoll in Haft genommen durch den eigenen Sohn, den zurechtzuweisen, dem gar zu drohen sich daher der Sängerdichter durchaus im Recht sieht:

[…] willst du bleiben, diene dem Älteren,
Und gönn es ihm, daß ihn vor allen
[…] der Sänger nenne!

Das Ausrufezeichen am Ende des Verses wird als ein möglichst kräftiges zu denken sein; gewiß ist es mit energischstem Federkiel gesetzt.
Auf die Peitsche folgt aber, vigilanterweise, das Zuckerbrot – ein Zuckerbrot freilich von solcher Eminenz, daß die süßlich-hausbackene Wortfügung Zuckerbrot nicht passen mag. Es ist nämlich Versuchung, mit der Hölderlin vor Jupiter/Kronion (dem Kronos-, dem Saturnsohn also) einkommt; ja ein Versuchungssog, dem zu widerstehen dem Deus aber schwerfallen sollte. Das Betörende der in den Dämmer einer frühen Morgenstunde hineingesprochenen Beschwörung stellt sich her, glaube ich, nicht nur vermittels der Großheit der Vision (die Beruhigung wetterwendischer Zeitläufte bis hin zur die Fortschrittskataklysmen aufhaltende Entzeitlichung überhaupt) und nicht nur durch das Testamentlich-Hingegebene dieses Sprechens oder vielmehr Flüsterns, sondern: Die von Kronion (oder eben uns) ins Werk zu setzende Wende wird als bereits geleistet geschaut, ein Bild zukunftsfrohen geschwisterlichen Einvernehmens zwischen Natur und Kunst findet sich entworfen; gestaltende Weisheit scheint als Grundtugend auf. – Ich habe von den folgenden acht Versen gesprochen:

Und hab ich erst am Herzen Lebendiges
Gefühlt und dämmert, was du gestaltetest,
Und war in ihrer Wiege mir in
Wonne die wechselnde Zeit entschlummert:

Dann kenn ich dich, Kronion! Dann hör ich dich,
Den weisen Meister, welcher, wie wir, ein Sohn
Der Zeit, Gesetze gibt und, was die
Heilige Dämmerung birgt, verkündet.

Verehrte Damen, meine Herren, weshalb beginne ich mit Hölderlin? Weil ich mit ihm enden werde. Ein schwaches Argument, zumal sich ein sinnlicherer und vor allem Pietraß-bezogener Aufgalopp anbietet.
Vor wenigen Monaten stellten wir, Richard und ich, in einer märkischen seenreichen Gegend eine Anthologie sächsischer Liebesgedichte zusammen – der Titel „Meine Nackademie“, einem Gedicht Pietraß’ entnommen, vermerkt durchaus, in lustvoller Für- und Gegensprache, das Wohltuende unserer Dresdener Akademie – und wir selber waren übrigens bei diesem Zusammenschauen vom funkelnden Glanz, von der Wucht und der Würde gegenwärtigen hiesigen Dichtens überrascht. Hinaus will ich aber auf das Seenreiche besagter Gegend – es bot sich Gelegenheit zu baden.
Richard baden sehn heißt: man hat den ganzen Kerl.
Er schwimmt gemächlich, so gemächlich, daß sein Körper vermutlich senkrecht unter der Wasseroberfläche hängt; eine Art welteinverständigen Lichts um sein haarbekräuseltes Haupt. Mit schön ausruhender Bedachtsamkeit blickt er: ist es Innen-, ist es Außenschau?
Innenschau könnte heißen: eines Status nascendi an sich selbst innezuwerden, eines währenden Vorgangs (oder einer vonstatten gehenden Dauer) des Geborenwerdens – der Rumpf nebst Gliedmaßen noch im mütterlich-weichen Medium, der Kopf mit seinen Sinnen des Schmeckens, Riechens, Sehens, Hörens bereits hinaufgetan in die irdische Licht- und Luftmasse; womöglich der köstliche Verdacht, mit seinem Haut-und-Bein die Klammer zwischen Okeanischem und Uranischem zu bilden. Ihr vier Elemente, ich sei in euerm Bunde das fünfte, indes eigentliche!
Oder aber Außenschau. Womöglich rafft Pietraß, über das Beeskower Gewässer weit hinaus, mit seinem Leib und seiner Seele den sagengeadelten Hertha-See sich ins Auge und den fontanegeadelten Stechlin und hie und da die Meere – es sollen ja die Wässer an Erden alle irgendwie kommunizieren.
Freilich, was sieht er da? Was muß er da sehen?
Das ganz und gar Unzuträgliche, das Unerträgliche. „… seh ich die Natur / Die Blutuhr, im Zeitraffer abschnurren“, verlautet entsetzt das Gedicht „Sandweg“. Und wenn schon Götter ins ernste, ins todernste Spiel von Pietraß’ Poesien Einlaß finden, dann nicht jene erwähnten Hölderlinschen aus der Aura des Goldenen Zeitalters, sondern Prometheus tritt auf, oder vielmehr stampft auf im Verein mit den apokalyptischen Reitern: der Nachsicht und Behutsamkeit seines Bruders Epimetheus uneingedenk; in der tätigen, der tätlichen Hand nicht das himmlische, sondern höllische Feuer. Versteht sich, daß Retter zu sein über die Kräfte des angerufenen Holunder geht; vielleicht aber nicht über die Kräfte der Dichtung? Und mit dem holden Hollerbusch ist ja sie berufen: in Gestalt Holunder-Hölders, also des Dichters Hölderlin. – Hier das Gedicht „Auwald“:

Durch Pappeln trappeln die vier Reiter.
Wie wir auch zappeln, sie ziehen weiter.
Finstre Lichtung, fauler Plunder. Hol über, Holunder.

Schäumend wälzt der saure Fluß
Was er noch verdauen muß.
War er blasser, war er gesunder. Hol über, Holunder.

Flammen wirft der Horizont.
Sie zeigen, wo Prometheus wohnt.
Das rote Holz, ein göttlicher Zunder. Hol über, Holunder.

Der Himmel hat das letzte Wort.
Es taumeln ihm die Vögel fort.
Im tauben Ei das blaue Wunder. Hol über, Holunder.

Das Faustische entdeckt sich als das Mephistophelische, und es müsse, befindet Pietraß, ein Auge aus Holz haben, also blind sein, wer das nicht wahrnehme. Dies der summierende Zweizeiler:

Schwellfuß zieht seinen Zirkel: enger und enger.
Holzauge sieht darüber hinweg.

Nicht, daß sich Pießtraß in der Schwarzseherei etwa gefiele – die Verumständungen machen die Drangsal. Stündlich büßt die Erde 3 Arten ein – wir wissen es, auch durch einen einschlägigen Aufsatz des Dichters. „Bleitod“ heißt das Pietraßsche Kürzel für das, was Ausstöße aus den mancherlei Rohren der Abschüsse und Abgase bewirken allerorten; insonderheit in den eignen und angeeigneten Gebieten der Weltmacht, die die nahegelegten Kyoto-Verpflichtungen – winzig genug sind sie – fidel vom Tisch wischt.
Indes, Pietraß greift weiter, der Natur um uns gesellt er in unserem Blickfeld die Natur in uns. Natur sei – so ist schön gesagt worden – eine unendliche Sphäre, deren Zentrum überall, deren Peripherie nirgens sei. Richard Pietraß, scheint mir, erhebt Einspruch. Was nämlich, wenn dermaleinst wir Menschen diese Peripherie würden? Wenn wir uns, augenscheinlicher Unnatur folgend, ins Off begäben? Wenn sich unser Fortschritt als ein irrsinniger suizidaler Davonschritt erwiese?
Wenn wir also eine nanotechnisierte Zukunft schüfen, die uns nicht mehr benötigt, nicht einmal mehr als Peripherie? Wenn durch eine schrankenlose Freizügigkeit genetischen Manpulierens die Gegenwärtigen sich zu Lenkern und Leitern entmündigter Kommender aufwürfen?
Pietraß handelt davon in einer Rede, die er am Gaterslebener Genetik-Institut gehalten hat; das Erregendste: er verzichtet auf physische Dauer, weil es den Nachfahren abträglich wäre; weil die Tilgung des individuellen Todes die Tilgung der Gattung nach sich zöge. Im Gedicht „Klon“ findet sich dies so formuliert:

Double, Trick der Ewigkeit
Gleichend wie ein Ei dem andern
[…]
Vom Sterben bereits auferstanden
Aus mir erneut zu mir befreit
[…]
Der Knoten nach dem Messer schreit!
Mit blinder Wiederkehr des Alten
Mein Leben an der Stelle halten
Das nähm mich lahmend aus der Zeit.

In großartiger Benommenheit setzt Pietraß hinzu:

Soweit ich Mittdreißiger vor zwanzig Jahren, mit meiner vorlauten Absage an individuelle Unsterblichkeit durch genetische Kopie. Dazu stehe ich, noch; trotz Neugier, Narzißmus und todesangstbeflügelter Verlockung.

Es ist, deucht mich, dieser noble Altruismus, der Pietraß in das Recht setzt, sich als Menschheit zu empfinden und als diese zu sprechen. Hören Sie betroffenmachend selbstkasteiende und vollkommen unhybride Worte, gerichtet an die erbgutlich benachbarte Säugergattung Blauwal:

Atemnot trieb dich vom Land ins Meer.
Trotzdem bist du kein Fisch geworden.
Echolot lenkt mich dir hinterher
In der Blutspur deiner sanften Horden.
[…]
Abendrot kehrt gegen mich den Speer.
In dir beginne ich mich selbst zu morden.
Ich Tropfen trink die Ozeane leer
Und fahre hin, im Schuppenpanzer meiner Orden.

Ich schließe mit einer Vermutung: Der Glanz Pietraßschen Dichtens rührt, vom filigranen eigenbrötlerischen Könnertum einmal abgesehen, daher, daß durch das Œuvre stets der Begehr schimmert nach einer Globalgemeinde, in welcher – wie der, wenngleich entmannte, Abaelard das sagt – „die Sehnsucht der Sache nicht zuvorkommt, noch die Erfüllung geringer ist als die Sehnsucht.“
Jetzt aber, erfreulicherweise, Richard Pietraß selbst. Sollte ihm sein Plädoyer wider die Verwundung der Riesin Natur durch uns Menschen allzu angemessen, das heißt vehement geraten, ließe sich ein Distichon des nun letztmalig erwähnten Hölderlin ins Gedächtnis rufen:

Fürchtet den Dichter nicht, wenn er edel zürnt, sein Buchstab
Tötet, aber es macht            Geister lebendig der Geist.

Peter Gosse

DIE VERWUNDETE RIESIN

– Bedrohte Natur im deutschsprachigen Gedicht des 20. Jahrhunderts. –

Verehrte Gäste, liebe Kollegen,
seit mehr als dreißig Jahren Großstädter und somit länger im Häusermeer als unter freiem Himmel zuhaus, eher im Mauerpark als im Grunewald zu treffen, lebe ich seither mit der schwermütigen Sehnsucht nach den Wäldern meiner Kindheit, die unsere Kleinstadt am Erzgebirgsrand umgaben und uns immer wieder als Abenteuerspielplatz und Munkeldunkel aufsogen:

Die Wälder meiner Kindheit sind tief.
Aus ihnen trat ich hervor
Ein Nackter unter Bewaffnete
Unter die Klugen ein Tor.

So heißt es in einem meiner frühen Gedichte. Herkunft und Rückhalt, Wurzel und Hinterland, suggerieren einen stärkenden Raum der Geborgenheit, in den man einkehren konnte wie über die Schwelle der Flüchtlingswohnung unserer ostpreußischen Großfamilie. Der Student des Lebens hatte die lebensgefährlichen Exerzier- und Schießplätze einer umgepolten Wiederbewaffnungsarmee hinter sich und sich auf den Lernpfad seines Fachs begeben, das den Räumen, Träumen und Schäumen der menschlichen Seele galt: der Psychologie. Es dauerte nicht lange, bis er diskret ein höchst privates Zusatzstudium aufnahm: das der Poesie, welches ihn zunehmend fesselte und bald zum eigentlichen Feld seiner Leidenschaft wurde.
Der Autodidakt las, beinahe wahllos, aber mit glühenden Ohren, gesellte sich mit anderen Eleven, suchte, wann und wo immer möglich, den Umgang mit Meistern, um Ermutigung und Fingerzeig zu erfahren. In Berlin waren das, durch Zufall und Anziehung, vor allem Franz Fühmann und Erich Arendt, Elke Erb und Stephan Hermlin. Was hatten sie, worüber er nicht verfügte? Belesenheit und Welterfahrung, den katalytischen Bodensatz einer entschiedenen Biografie. Die Akzentverschiebung von einem homozentrischen zu einem biozentrischen Weltbild verdanke ich, genaugenommen, keinem von ihnen, wiewohl es zwei Warngedichte des Metropolendichters Hermlins waren, die für mich am Anfang meines Gespürs für die bedrohte Mutter Erde mit all ihren Wunderwesen, einschließlich des gefährlich erfolgreichen und erfinderischen Menschen, stehen.
Wir schreiben die späten fünfziger Jahre mit ihren überirdischen Wasserstoffbombenversuchen, die weltweiten Protest ernteten, auch unter den Dichtern. Zu dem, was aus diesem Schock entstand und ihn überstand, gehören zwei Sonette Stephan Hermlins:

DIE VÖGEL UND DER TEXT

Von den Savannen übers Tropenmeer
Trieb sie des Leibes Notdurft mit den Winden,
Wie taub und blind, von weit- und altersher
Um Nahrung und um ein Geäst zu finden.

Nicht Donner hielt sie auf, Taifun nicht, auch
Kein Netz, wenn sie was rief zu großen Flügen,
Strebend nach gleichem Ziel, ein schreiender Rauch,
Auf gleicher Bahn und stets in gleichen Zügen.

Die nicht vor Wasser zagten noch Gewittern
Sahn eines Tags im hohen Mittagslicht
Ein höhres Licht. Das schreckliche Gesicht

Zwang sie von nun an ihren Flug zu ändern.
Da suchten sie nach neuen sanfteren Ländern.
Laßt diese Änderung euer Herz erschüttern
[…]
1957

Vom zweiten, „Die Milch“, seien nur die ersten beiden Strophen zitiert:

Es seltsam Gras wächst auf im grünen Feld.
Ein neuer Regen hat es da benetzt.
Es weiden Herden unterm Wolkenzelt.
Was ist euch, daß ihr euch darob entsetzt?

Hier wächst die Milch heran, die Kinder nährt.
Sie sind kaum da, doch ihre Zeit ist um.
Einst mütterliche Milch, die sie versehrt,
O du, tückisch durchblüht von Strontium
[…]
1957

In unserem kollektiven Gedächtnis geblieben ist auch Armin Müllers „Ich habe den Thunfisch gegessen“, ein Poem, von dem nur sein Titel fortlebt.
Warngedichte verstummen fortan nicht mehr, treten aber in den sechziger Jahren zurück, um in den siebziger wieder auf den Plan zu drängen. Was war geschehen, von dem sich nicht mehr absehen ließ? Der mit Ende des heißen nahtlos einsetzende kalte Krieg zwischen neuen Allianzen, führte zu einer rapiden Drehung der Schreckensspirale und spielte dem Geschlecht erfinderischer Zwerge bald Potentiale in die Hände, die ausreichten, die Menschheit einfach, mehrfach, vielfach auszulöschen und mit ihr den Großteil organischen Lebens auf dem blauen Planeten, dem einzigen bekannten Lebensraum im weiten All.
Die göttliche Aufforderung an Adam und Eva, sich die Erde untertan zu machen hatte ihre schreckliche Erfüllung gefunden, wie sie auch in einem kleinen Nachkriegsgedicht Bertolt Brechts erschütternd aufscheint:

Außer diesem Stern, dachte ich, ist nichts und er
Ist so verwüstet.
Er allein ist unsere Zuflucht und die
Sieht so aus.

Brecht war zu sehr an menschlichen Verhältnissen interessiert, um Naturpoesie im engeren Sinne zu schreiben, doch plädierte er zum Beispiel in seiner „Pappel vom Karlsplatz“ für eine naturfreundliche Haltung, wie er in seiner „Morgendlichen Rede an den Baum Grien“ jenem immerhin die sportlich-respektvolle Frage stelle, ob es denn schwer war, so hoch hinaufzukommen. Im übrigen liebte er, wie später Wulf Kirsten, kultivierte Natur, Natur als Menschenwerk, besonders aber in Gartengestalt („Garden in Progress“) und als Produktionsmittel und -rahmen seines literarischen Werks (die Buckower Elegien).
Dem nur fünf Jahre jüngeren, aus dem naturmagischen Kreis um die Zeitschrift Die Kolonne hervorgegangenen Peter Huchel scheint die tödliche Sanduhr auch nur der jüngeren der beiden Riesinnen, nämlich der Menschheit als ganzer, zu rieseln:

PSALM

Daß aus dem Samen des Menschen
Kein Mensch
Und aus dem Samen des Ölbaums
Kein Ölbaum
Werde,
Es ist zu messen
Mit der Elle des Todes.
Die da wohnen Unter der Erde
In einer Kugel aus Zement,
Ihre Stärke gleicht
Dem Halm
Im peitschenden Schnee.

Die Öde wird Geschichte.
Termiten schreiben sie
Mit ihren Zangen
In den Sand.

Und nicht erforscht wird werden
Ein Geschlecht,
Eifrig bemüht,
Sich zu vernichten.

Huchel und Arendt waren zu alt, Hermlin zu früh verstummt, um vom Schub des Bewußtseinswandels von der Furcht vor der zur Sorge um die Natur mehr als nur gestreift zu werden. Singuläre Ausnahme dieser Generation: der 1907 geborene Günter Eich, obwohl auch seine tiefsten Sensibilisierungen das Erlebnis des Krieges und das des blankgezognen Atomschwerts waren. In seinen abreißkalenderhaften Gedichten heißt es in „Augenblick im Juni“:

Wenn das Fenster geöffnet ist,
Vergänglichkeit mit dem Winde hereinweht,
mit letzten Blütenblättern der roten Kastanie

[…]

Wenn das Fenster geöffnet ist
und das Grauen der Erde hereinweht –

Das Kind mit zwei Köpfen,
– während der eine schläft, schreit der andere –
es schreit über die Welt hin

und erfüllt die Ohren meiner Liebe mit Entsetzen.
(Man sagt, die Mißgeburten nähmen seit Hiroshima zu.)

lese ich in „Ende August“:

Mit weißen Bäuchen hängen die toten Fische
zwischen Entengrütze und Schilf
Die Krähen haben Flügel, dem Tod zu entrinnen.
Manchmal weiß ich, daß Gott
am meisten sich sorgt um das Dasein der Schnecke.
Er baue ihr ein Haus. Uns aber liebt er nicht.

Hier, schon und endlich, in einem Gedichtband des Jahres 1955 mit dem Titel Botschaften des Regens, dreht es sich, das deutsche Naturgedicht, das definitiv aufhört, Hort eines Idylls zu sein:

Mit weißen Bäuchen hängen die toten Fische
Zwischen Entengrütze und Schilf
Die Krähen haben Flügel, dem Tod zu entrinnen.

Zwanzig Jahre vor dem dann europaweit folgenden Einsichtsschub ist Eich, auch er ein ehemaliger Kolonne-Dichter, an den Wendepunkt gelangt, der schwärmerische Unverantwortlichkeit und scheuklappenhaftes Gottvertrauen nicht mehr zuläßt. Vom Ende der grünen Lügen bis zur Epidemie ins Kraut schießender, bald kämpferischer, bald lediglich wabernder Ökolyrik werden noch fast zwanzig Jahre ins Land gehen. Der saure Regen, die chemisierte Landwirtschaft, die Gehölzstreifen und Feldraine ausmerzende Flurbereinigung samt Trockenlegung von Söllern, Sümpfen und Mooren, das weltweite Abholzen der Regenwälder, die Verkarstung überstrapazierter Böden, das Umkippen von Flüssen und Seen, die Luftverschmutzung und taubmachende Lärmpegel sind Schockketten, auf welche sich taubstummblindstellende Affen nicht die ultima ratio sein konnten.
Und auch ich, der ich mich aus einem Gefühl, daß alle großen Naturgedichte bereits geschrieben seien, in resignativer Enthaltsamkeit geübt hatte (mein 1980 erschienener erster Gedichtband Notausgang enthielt kein einziges Naturgedicht), hatte nun mein Damaskuserlebnis: mit einem Straßenbaum (Spätzündung mit Formsprung: zum synkopisch streunenden Reim, der mir Möglichkeiten eröffnete, zugleich tuchfühlend (mit der Tradition) und wegsuchend zu sein:

DAS RINGENDE

Greift tausendfingrig in die Luft, von Kohlgas umpufft.
Am Rande des Betts, seiner Gruft, schlagen ihn Pech und
Schwefel zusammen. Die Dampframmen des Straßenbaus
lassen ihn bis in die jüngste Wurzel erzittern. Die Krähen
wittern frisches Aas. In Höllengewittern vollendet sich,
was nicht im Himmelskessel verglüht.
Kaum, daß weiß er erglüht, färbt schwarz sich sein Hoch-
zeitskleid. Tausendfach Beileid funken die Zündkerzen;
wird es verschmerzen: Glück und Glas. Gerührten Herzens
geben sie Gas, entfalten das asphaltne Leichentuch.
Wir schlagen den Schwächling, auf das Buch vom grünen
Baum. Sein Holz gibt unsern Klagen Raum. Und was bleibt
der Ringeltaube: Holzauge.
1979

Der frisch Bekehrte fand sich inmitten sehend Gewordener. So hatte Wulf Kirsten sein berühmtes Gedicht „der bleibaum“ bereits vier Jahre früher geschrieben. Und in „schiefergebirge“ (1976) führt er uns in den endgültig postromantischen Wald, den wir vor lauter Schwefelhölzchen nicht mehr gesehen hatten:

ein abgebrochenes stück waldgebirge.
kleine rodungsinseln
sparsam eingestreut.
glasaugen, murmeln mit schlieren.
auf granit und gneisen
großflächige kahlschläge.
der kammweg begangen
von holzfällern und Guths-Muths-läufern.
verkohlter köhlerglaube.
östlich flacheres schiefergebirge.
auf steilen reliefabschnitten
absolute waldböden, glasbläser
und fichten-monokulturen.
in quellmulden und talgründen
viehauftrieb. höhenfleckvieh,
auf kuhglocken gezogen.
die vergesellschafteten fußstufen
der unteren berglagen in nebelglanz.
geschwundene waldstufen
zu füßen der erhebungen.
die oberen waldlagen
der mittleren bergstufen
von einschlägigen motorsägen
abschlägig beschieden.
kahlschlagwirtschaft, das ende
der tannen. schiefergebirge,
beschreib seine schönheit anders.

Beschreib seine Schönheit anders. Die Gleichzeitigkeit des Nochschönen und des Schonschrecklichen. Beim Dichter der Elbe, Thomas Rosenlöcher, der hier, wie Kirsten und Braun, in eigenem Vortrag seine Poetik entfalten konnte, beginnt sein Ich-verwickeltes Gedicht „Der Wald“ nicht, wie der Weimarer, in heranwandernder, fast unpersönlicher Distanz, sondern gleich in medias res:

Ich saß auf einem Stumpf in der Natur.
Engelgras klirrte hin und her im Schauern
von irgendwelchen Flügeln, die mich wohl
ein wenig streiften, daß ich sprach: Ach Wald.

Dann folgt eine, dem kirstenschen Tableau vergleichbare, Schadensaufnahme, Waldschicht um Waldschicht, sich weitend bis zu ferner Wipfelkette, ehe er selbst wieder ins Bild rückt:

So schon verschmelzend mit der Dämmerung,
doch weitersteigend, da ich ging, zu kurz
schien mir mein Leben, rasch vorüber…

und endet:

Doch als ich morgens ankam zwischen Häusern,
hatte der Wald, im Schneckengang die Frühe
rändernd, den höchsten Punkt erreicht und stand
donnernd im Licht als riesenhafter Berg.
So blieb sein Bild mir noch für ein paar Jahre.
Daß alles Schaun nur Abschied war.
Ich saß in der Natur auf einem Stumpf.

Das sitzt, geht wie eine Kettensäge in die Achillessehnen, erreicht den Gipfel persönlicher Betroffenheit.
Als Drittem im Waldbruderbunde wollen wir jetzt noch Volker Braun über die Forstschulter schauen. Seine Umkehr vom Saulus zum Paulus, von einem naturblinden Sandschipper in den Mondlöchern um Schwarze Pumpe und Hoywoy zum Homo skrupolösus des „Burghammer“-Gedichts und des „Bodenlosen Satzes“ ist von paradigmatischer Bedeutsamkeit. Das politikerhafte Augen-zu-und-Durch wird „am hundekahlen Kamm des Erzgebirges“ und anderswo, Text um Text, nachdenklich und unter Ziehung der poetischen Register ad absurdum geführt. Und ihm gelingt, gegenüber seinen Themenbrüdern Kirsten und Rosenlöcher, vielleicht noch Wirkungssteigerung, indem er nicht nur nüchtern registriert (Kirsten) und sich hineinverwickelt (Rosenlöcher), sondern die verwundete Riesin, hier die Waldnatur, in seinem Gedicht „Morgendliche Rede des kahlen Waldes“ selbst sprechen läßt:

Diese beweglichen Wesen, welche Luft atmen
Und viel reden und die Luft verpesten
Waren uns seit langem verdächtig
Diese Menschen mit ihren Verhältnissen
Die ihnen nicht erlauben, Menschen zu sein.
Jetzt haben die Herrschaften beschlossen
Ihre giftigen Emissionen herabzusetzen
Um sage und schreibe 5 Prozent, und auch das
Nur gegen den Widerstand ihrer Weisen. Sie haben
Natürlich! möchte man sagen
Eine Hintertür offengelassen, durch die sie den unterentwickelten Gegenden
Verschmutzungsrechte abkaufen, so daß sie sich schadlos halten.
Auch ziehen sie (wie es ihre Art ist)
Uns in den Handel
Und nicht fahrlässig wie die Sumerer oder Sibirier
Sondern kalt rechnend, wie ein Besitzer
Die Miete zieht. Die jungen und kümmerlichen
Wälder, kaum eingeschult, werden aufgerechnet
Gegen den tödlichen Ausstoß, also wer Bäume pflanzt
(Geht die Logik), darf den Erdkreis verbrennen.
Wir, die wir ohnehin belastet sind
Mit dem Dunst dieser Gattung
Sollen dafür gradestehn
Der schweigende Wald kann den Dreck schlucken
Und die Welt retten. Dieser Zynismus zeigt die ganze
Unnatur der Menschheit
Mit der wir fertig werden müssen. Da stellt sich die Frage:
Was will dieses Wesen? das wie entwurzelt
Seinen Tag verbringt. Es hat keine Einsicht
In einfache Sachen, oder welcher sagenhaften
Absicht dient es. Kennt es kein Mitleid, mindestens
Mit sich? Was hilft ihm.
Wir sind ja geneigt, ihm beizustehen
Wir arbeiten ruhig mit Verstand
In der Dämmerung, aber der Hochmut
Dieser Heruntergekommenen
Nimmt uns die Kraft!

Der Opferrede folgt die Autorrede, Einrede im Gedicht „Die dunklen Orte“:

[…]
grau
Der Rasen deckt das Riesenhaupt
In dem es grübelt hunderte Jahre
In hohlen Schächten, wo sie wohnen
wie
Im Orkus
[…]
Das ist der Berg. Und was ist nun die Predigt.
Die Stimme spricht: Kehr um
[…]

Ein eklatantes, bedrückendes Beispiel von der Unfähigkeit umzukehren, erlebten wir, erlebte ich am Schicksal des Niederlausitzer Dorfes Homo, das, verraten von den falschen Anfangsversprechen der Politik eines christlichen Konsistorialrates und eines Gründungsmitglieds der ostdeutschen Grünen auf dem Altar des Arbeitsgötzen hingeopfert wurde. Die Kohle unter dem Dorf wird den Schlund des Kraftwerks Jänschwalde nur einige Stunden stopfen, während der gewachsene, jahrhundertealte Ort für immer weggebaggert bleiben wird. Seine Umfahrung und Aussparung mit den Tagebaugroßgeräten hätte den Gewinn des, nun schwedischen, Unternehmens mit dem irreführend vertrauenswürdigen Namen Vattenfall (Wasserfall) geschmälert, dem man dasselbe in Schweden nie und nimmer gestattet hätte. Armer, globalisierter Globus mit seiner Beschäftigung um den Preis der Verwüstung, mit Arbeitsplätzen, die Richtstätten sind. Der Zufall wollte es, daß ich im September vor zwei Jahren, dem Sonntag der Bundestagswahl, von Guben kommend, an den Gruben an Homos Schwelle vorüberkam und mich entschloß, das verratene Stück Erde nochmals zu betreten:

HORNOER BERG

Ich kam ins todgeweihte Dorf, ein Kuckucksheim
Auf hohem Sand. Still lag es am Tag des Herrn
Blühend und schon abgebrannt.

Blaß schlich, ein Wanderer
Auf apfelbaumgesäumten Straßen, Abbruch-
Pfaden an die Kante.

Die Schräge führte mich zum Vorschnitt
Und ich sah des Lebens dünne Gärschicht
Ein Seidenlaken unterm Nichts.

Tote Sande ohne Knochen, ohne Scherben
Vom Fräskopf nun ans Licht gebracht.
Das Dorf, ein Schaum vorm Himmelskropf.

Ein Leib, gehängt an hundert Schläuche
Die ihm nach dem Leben trachten
Ein Schlangennest, ein Knäuel von Rohren

In denen es schon platscht, derweil
Die Dahlienfeuer blühen, Kürbisse schwellen
Rüben sich am Schopfe ziehen.

Wo Gefahr ist, wächst die Rettung
Zwischen Pest und Cholera. Wahltag, Wühltag
In den Listen des Verrats.

Hab ein Kreuz und mach drei Kreuze.
Im Gemeinderat noch Licht. Alle Stimmen
Für den Ausstand. Ich hoff es, ich erleb es nicht.

Der Kriegeradler schlägt die Flügel. Ich zähl die Namen
Unter seinen alten Krallen. Für Führer
Volk und Katerland. Keiner ist zivil gefallen.

Fremd streich ich ab, die Zähne schlagen
In den Flor gezählter Tage. Traumflöz
Eingerißner Rand unter Plutos Fingernagel.

Da steh ich nun vor Ihnen, als Ohnmächtiger, der weder den Wahl-Betrug, den Auszug und Umzug der Verratenen mit der Donquichoterie der Poesie wehren noch verkehren konnte. Als ich ein Jahr nach jener Schröderwahl noch einmal nach Homo kam, wurden, in verlogener Pietät, mit weißen Planen abgeschirmt, gerade die Toten aus ihren Gräbern geholt, um, so das feinfühlige Wort, umgebettet zu werden, an einen Ort, wo sie dem goldsprudelnden Vattenfall nicht im Wege liegen würden. Ein Grab, jedoch, war ausgenommen, das der Eltern des letzten Mohikaners, des Wirts der Dorfkneipe, der jegliche Zustimmung verweigert hatte und nun im von dem meisten bereits verlassenen Dorf durch einen Außenmauerabriß gesonderten Zugang zum Familiengrab gewährt bekam, sogar mit eigens eingerichtetem Wasseranschluß und Gießkannenhaken. Vielleicht war das ein unfreiwiliges Sinnbild für die Poesie, in ihrem symbolischem Ausharren auf verlorenem Posten. Ein Pyrrhussieg unterm Damoklesschwert des Raubbaus megalomanischer Zwerge.
Das Thema, dessen Einlösung ich Ihnen versprochen habe, entpuppt sich als eines für eine Doktorarbeit, an der ein Ehrgeizling Jahre seines blühenden Lebens verbringen könnte. Wollte ich es nur annähernd erschöpfen, wir säßen morgen früh noch hier. Der Themenbergwald kreißte und gebar ein Gebüsch.
Damit eine Poetikvorlesung eine Poetikvorlesung wird und nicht zum germanistischen Vortrag mißrät, kommt der Vortragende nicht umhin, neben den ihm nahen, exemplarischen Texten anderer auch von seinen eigenen Ansichten und Arbeiten zu sprechen.
Letzteres habe ich, in gebotenem Maß, getan. Aber weil ich zu Beginn gleich in die Mitte unseres Atomjahrhunderts gesprungen bin, schulde ich Ihnen vielleicht doch noch einen zwinkernden Blick in seine erste, unterbelichtete Hälfte, die immerhin eine so bedeutende literarische Sturmflut wie den Expressionismus hervorbrachte.
Neben seiner Sehnsucht nach einer Überwindung wilhelminischer Dumpfheit und Erstarrung, die einige ihrer begabtesten Vertreter anfangs sogar zur Kriegsbejahung brachte, gibt es bei einigen so etwas wie ein aufkeimendes Gefühls für die leidende, in Mitleidenschaft gezogene Natur und Kreatur. Über die Natursehnsucht der in die Fabrikstädte gepferchten Arbeiter in den Gedichten lesen wir bei Paul Zech (1881–1946):

Hier lungern Paläste aus Glas und Granit,
zwergzierlich wie Weihnachtskrippen.
Der Himmel fällt grau herab von den Schieferklippen,
und immer gähnt schläfriger Tag und ein Regenlied.

Was in den Straßen wie Pulsschlag zuckt,
ist kreisender Schwung von Flechtmaschinen;
beutegierig lauert Baal hinter ihnen,
alle Wälder hat schon der Rachen verschluckt

Aus dem schlängelnden Tintenfluß
giftet das wieder Ausgespiene Typhusdünste
und überflockt die Fabriken wie Ruß.

Die hier gezwungen, den Tag vertun,
röhren den Blutschrei entflammter Brünste
und träumen von Lesbos und Avalun.
(„Fabrikstädte an der Wupper“)

Bei Oskar Loerke (1884–1941) begegnete ich gleichfalls dem auch von Brecht geliebten Baal

BAALS SCHWERMUT

Erst als sein Leib zu stinken angefangen,
Fand man im Atelier ihn aufgehangen,
Ein Blatt der Zunge angeklebt:
aaaaaaaaaaaaaaIch unterliege,
Mit mir hat Baal so getan wie ich mit seiner Fliege. –
Einst kam mir hoch von meinem Kleiderbügel
Entgegen eine Fliege ohne Flügel.
Ich gab dem Tier den Namen: Baals Schwermut.
Ihr Trank war Rosmarin. Ihr Mahl war Wermut.
Doch reichlich – aus der Lust, noch mehr Gebresten
Ihr an den flügellosen Leib zu mästen.
Sie sollt den schweren Bauch der Wachtel haben
Und dennoch auf den Fadenbeinen traben!
Sie sollte graziös verkrüppelt tanzen:
Drum riß ich ihr ein Bein noch aus dem Ranzen.
Ich habe ihr den Rüssel abgebrochen,
Die Augenpolygone ausgestochen.
Ich sah die Blinde, Lahme, Kolossale
Schon tanzen auf der hohlen Opferschale
Der Hand die Courquadrille „Baals Schwermut“
Und gab ihr Rosmarin und gab ihr Wermut:
Umsonst. – Sie hatte nicht den Wanst der Wachtel,
Als sie verschied in meiner Zündholzschachtel.

Ohne diesen Text zu kennen, ich fand ihn erst jetzt in einer 1969 erschienenen Anthologie des Expressionismus, schrieb ich vor zwei Jahren das lange Gedicht einer kurzen Begegnung mit einer jungen Zwergfledermaus, die sich in mein Wiepersdorfer Zimmer verflogen hatte. Nicht Sadismus oder Mastgedanken hielten mich ab, sie sofort wieder in die sommerabendliche Freiheit zurückzuscheuchen, sondern mein menschlicher Wissensdurst, der die Begegnung bis zum Morgen verlängern wollte. Zu lange für so ein filigranes Wunder, das, übermäßig mangelgeschwächt, meine morgendlichen Liebesgaben (Fliegen und Wasser) verschmähte und starb. Man fühlt sich an Richard Leisings berühmtes „Bodden“-Gedicht und alle Zoogedichte dieser Welt erinnert, die auch nur wenig Gutes zu berichten wissen. Aber weder eines von ihnen noch Leisings „Bodden“ oder meine „Beflügelte Nacht“ soll jetzt zitiert werden, sondern ein anderes Nachruf-Gedicht, das mir einen exemplarischen, nachgehenden Eindruck machte: Michael Krügers „Dronte“, das hier für alle Gedächtnis-Bewahr-Gedichte in der Rumpelkammer unseres schlechten Gewissens stehen soll:

DIE DRONTE

1
Weder Eier, noch Bälge.
Nur ein Kopf existiert und zwei Füße,
vierzehige Scharrfüße,
die Tuffe, basaltische Laven
und Aschen berührten
und einen Körper trugen,
der für immer verloren scheint.

2
Dodo, Dudu, Didus ineptus,
die Dronte hat Zuflucht gefunden
unter einem Glassturz
im Senckenberg-Museum.
Was wir sehen,
kann die Wahrheit sein:
ein grauer staubiger Flaum,
der bei jedem Herzschlag zittert.

[…]

5
Wie eine Schrift,
die sich selber löscht;
wie eine dunkle Bewegung
unter einem nächtlichen Himmel,
wie der letzte Tag über Wasser.
Seit 1620 hat diesen Vogel
Niemand mehr gesehn.

6
Sonnenstaat und dreißig Jahre Krieg,
Vom dreifachen Leben der Menschen,
Ernährungsprobleme.
Die Dronte wird von der Geschichte
zum Schweigen gebracht, sie konnte
nicht fliegen. Nur ihr Name
wurde gerettet vor Zeit und Tod,
ihren zukünftigen Feinden;
und ein Kopf und zwei Füße.

7
(In Berlin soll ein Bild
des Vogels hängen,
an das sich keiner erinnert;
ein paar alte Beschreibungen
erwähnen sein bitteres Fleisch.)

8
Vermessen das Meer,
der Raum erschöpft,
die Sehnsucht zerschlissen
von rücksichtsloser Erkenntnis.
Nun wurden die Götter sichtbar
und zogen sich zurück
für immer.

9
Die Dronte ist der Vogel der Liebe,
sie träumt sich einen Körper
und mächtige Schwingen,
schon sitzt sie auf meiner Schulter und spricht.
[…]

Wohl kaum ein Gedicht über ausgerottete Tiere, das ich seither las, ist mir so nachgegangen wie dieses über die Dronte. Und vielleicht habe ich es ihr zu verdanken, daß ich, von dem Holzstecher Karl Georg Hirsch und dem Leipziger Bibliophilenabend gebeten, einen Totentanz zu schreiben, auf einen der Tiere verfiel.
Kerstin Hensel und Hubert Schirneck verlängerten die Ständevertretertradition in die Gegenwart, Peter Gosse nimmt Tänze beim Wort, und Volker Braun tanzte verschlissene Begriffsschuhe zuschanden: wie Volkseigentum und Solidarität.
Ich wollte auch einen Schritt aus der Totentanztradition tun und fand mich erinnert, daß es auf unserer Erde Bedrohteres gibt als unser menschheitliches Leben, ja, daß wir schon Jahre drauf und dran sind, das Leben unserer Mitgeschöpfe in solchem Maße verdrängend einzuschränken oder jagend auszulöschen, daß wir uns für sie in die Rolle des Terminators, des gottgleichen Herrn über Leben und Tod aufgeschwungen haben. Hören Sie das erste und das letzte der sieben jeweils zwölfzeiligen Gedichte:

FLEDERMAUS

Maus mit Drachenhäuterflügeln
Flughund mit Insektenbiß.
Wie willst du mich Saurier zügeln
Der die Erde neu vermißt?

Nistende im Herz des Dunkels
Jäger in der Engel Gruft.
Ist die Welt so aus der Fuge
Daß du nach dem Anfang rufst?

Laß ich dir nicht die Turmdachritze
Die du, samt Schlummerbalken, brauchst
Wirst Radar du toten Witzes.
Die Luft ein Spiegel, unbehaucht.

 

BLAUWAL

Atemnot trieb dich vom Land ins Meer.
Trotzdem bist du kein Fisch geworden.
Echolot lenkt mich dir hinterher
In der Blutspur deiner sanften Horden.

Du findest Zuflucht nicht am Grund, in Fjorden.
Ich Mücke will des Elefanten Schmer
Und harpuniere dich im Süden wie im Norden
Herdentier, verfolgt von einem Heer.

Abendrot kehrt gegen mich den Speer.
In dir beginne ich mich selbst zu morden.
Ich Tropfen trink die Ozeane leer
Und fahre hin, im Schuppenpanzer meiner Orden.

Ehe wir hier alle aus diesem Abend dahinfahren, möchte ich beteuern, wie sauer es mir fällt, nach dem Erreichen des Meeres, nicht auch von den Flüssen zu reden, den sterbenden Flüssen Theodor Kramers und unsrer Elbe, unserem Haus- und Garausstrom, von Heinz Czechowski bei Pieschen, Thomas Rosenlöcher zwischen Pillnitz und Heidenau aufgewühlt betrachtet und im Wortwerk des Gedichts gefiltert und beseelt. Ein gutes Stück besser geht es ihr ja, seit es der ostelbischen Industrie (zu deutsch: Fleiß) schlecht geht.
Und ich bedaure, nicht Zeit und Atem genug zu haben, um auch mit Peter Gosse, Wolfgang Hilbig und Kito Lorenc in die von ihnen mit der Sonde des Gedichts ausbaldowerten Steinbrüche und Kohlegruben zu folgen, Christoph Meckels, Günter Herburgers und Sarah Kirschs Seherblick zu teilen. Fortsetzung folgt, möchte ich, der faule Zwerg, vor der wunden Riesin sagen, die uns, wie ein wundes Großwild seine Parasiten, abschütteln und überleben wird – und uns nur noch ein letztes Gedicht zubilligen, das den Rang eines Vermächtnisses hat, von Efeu und Utopie von Korrektur:

Ingeborg Bachmann

FREIES GELEIT

Mit schlaftrunkenen Vögeln
und winddurchschossenen Bäumen
steht der Tag auf, und das Meer
leert einen schäumenden Becher auf ihn.

Die Flüsse wallen ans große Wasser,
und das Land legt Liebesversprechen
der reinen Luft in den Mund
mit frischen Blumen.

Die Erde will keinen Rauchpilz tragen,
kein Geschöpf ausspeien vorm Himmel,
mit Regen und Zornesblitzen abschaffen
die unerhörten Stimmen des Verderbens.

Mit uns will sie die bunten Brüder
und grauen Schwestern erwachen sehn,
den König Frosch, die Hoheit Nachtigall
und den Feuerfürsten Salamander.

Für uns pflanzt sie Korallen ins Meer.
Wäldern befiehlt sie, Ruhe zu halten,
dem Marmor, die schöne Ader zu schwellen,
noch einmal dem Tau, über die Asche zu gehen.

Die Erde will ein freies Geleit ins All
jeden Tag aus der Nacht haben,
daß noch tausend und ein Morgen wird
von der alten Schönheit jungen Gnaden.

Richard Pietraß

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