Dieter E. Zimmer: Zu Gottfried Benns Gedicht „Reisen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Gottfried Benns Gedicht „Reisen“ aus dem Gedichtband Gottfried Benn: Sämtliche Gedichte. −

 

 

 

 

GOTTFRIED BENN

Reisen

Meinen Sie Zürich zum Beispiel
sei eine tiefere Stadt,
wo man Wunder und Weihen
immer als Inhalt hat?

Meinen Sie, aus Habana,
weiß und hibiskusrot,
bräche ein ewiges Manna
für Ihre Wüstennot ?

Bahnhofstraßen und Rueen,
Boulevards, Lidos, Laan −
selbst auf den Fifth Avenueen
fällt Sie die Leere an −

Ach, vergeblich das Fahren!
Spät erst erfahren Sie sich:
bleiben und Stille bewahren
das sich umgrenzende Ich.

 

Warnung vor Tourismus

Sehr verehrter Herr Benn,
wenn Sie mich so fragen (und ich hatte ja nun fast drei Jahrzehnte Gelegenheit, darüber nachzudenken): nein, Ich meine nicht, Zürich sei eine tiefere Stadt. Das Wort tief im Zusammenhang mit egal welcher Stadt erscheint mir überhaupt unpassend. Wunder und Weihen, gar ständige, vermute ich in dieser Bankenmetropole schon gar nicht. Bei Wunder und Weihen fiele mir eher Lourdes ein, und die dort praktizierte Tiefe ist mir so wenig geheuer, daß ich den Ort immer sorgsam gemieden habe.
Was Habana angeht: wenn auch kein ewiges Manna, so doch Ermutigungserlebnisse haben einige dort letzthin gesucht; aber daß keinerlei Wüstennot dort gelindert würde, hätte ich gleich gewußt. Am stärksten aber mußte ich einmal auf der 5th Avenue an Ihre Frage denken: Wie kamen Sie zu der Vermutung, ausgerechnet dort falle einen Leere an? Ich weiß schon, Sie meinten die andere, die innere; aber so leer kann sich einer allein gar nicht fühlen, daß er dort nicht vor allem den Eindruck hätte, von Fülle überfallen zu werden.
Darum, möchte ich jetzt sagen, war die Frage nicht ganz die richtige, und auf unrichtige Fragen gibt es selten richtige Antworten. Unsereins reist nicht, weil er ein ewiges Manna sucht, sondern weil die Welt voll ist von Unterschieden, auch unterschiedlichen Anblicken. Wer inmitten der endlosen grauen Wochen beispielsweise am Bayerischen Platz in Berlin zu leben gezwungen ist (als Schüler und Student bin ich dort manchmal mit dem Fahrrad ergriffen an Ihrem Haus vorbeigefahren), könnte doch auch ganz ohne Wunderhoffnungen das Bedürfnis verspüren, seinen Sinnen einen anderen, einen heftigeren, einen ansprechenderen Eindruck zuzuführen.
Sie wußten das natürlich ganz genau. Sonst hätten Sie, damals in den fünfziger Jahren, als das Volk nach den Capri-Fischern schmachtete und die große Reiseraserei anhob, sich und uns nicht so gebieterisch dieses „Hiergeblieben“ zugerufen. Schon die Art, wie Sie die Bahnhofstraßen und Rueen, die Boulevards, Lidos, Laan in aller Welt so genußvoll und kosmopolitisch aufzählen, zeugt von langen touristischen Gedankenspaziergängen in den armseligen Jahren großdeutschen Eingesperrtseins, und weiß und hibiskusrot war und ist Berlin-Wilmersdorf nun wahrhaftig nicht. Es war gewiß nicht notwendig, eine simple Fahrt nach Zürich zu einer Alles-oder-Nichts-Angelegenheit zu machen, sich den zwar nicht alle Seelennot behebenden, aber in dem einen oder anderen Licht doch wohltuenden Anblick des Limmatquais zu versagen.
Kurz, Ihr Gedicht hat niemanden und auch mich nicht aufgehalten, und doch ist es mir überallhin nachgegangen. Immer, wenn ich es mir wiederhole, kriecht mir eine tiefe Rührung am Brustbein entlang in die Kehle. Nach all den lyrischen Ichs und Dus diese unvertrauliche Sie-Anrede: die mußte einmal gefunden sein! Dann diese leichten Imperfektionen, die Rueen und diese sonderbaren deutsch-französisch-amerikanischen Fifth Avenueen bei Ihrem sonst so hochentwickelten Sinn für unpeinliche Reime, auch Ihre exzessiven Erwartungen ans Reisen: es macht Sie sehr menschlich, es nimmt Ihnen einiges von dem Air des gestrengen Hüters von Zucht und Form, als der Sie sich sonst so oft jede Anteilnahme verbitten (aber: „Was schlimm ist“ oder „Wenn ein Gesicht, das man als junges kannte…“).
Und wenn ich auch meine, daß Sie all den fremden Straßenzügen Unrecht taten, als Sie sie von vornherein verschmähten, so hatten Sie doch auch wieder recht. Mit uns fremd gewordenen Vokabeln (Tiefe, Wunder, Weihe, Manna) deuten Sie auf ein unbefriedbares Verlangen hin, das in der Tat den Motor unserer Ortsveränderungen bildet. Wir wissen nicht, worauf dieses Verlangen eigentlich hinaus will, wir gäben sofort zu, daß wir die eigene Haut auch an den fremden Orten nicht abstreifen werden… und trotzdem, irgendwie… wäre es nicht möglich, daß uns eine andere Umgebung geradezu wunderbar befreite von den zuweilen so schwer erträglichen Festlegungen zu Haus? Ohne den beharrlichen Druck dieses Verlangens: wir studierten kaum je einen Fahrplan, eine Straßenkarte.

Dieter E. Zimmer, aus: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Gottfried Benn bis Nelly Sachs. Insel Verlag, 2002

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