Dieter E. Zimmer: Zu Günter Eichs Gedicht „Nachhut“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Günter Eichs Gedicht „Nachhut“ aus dem Band Günter Eich: Gedichte. –

 

 

 

 

GÜNTER EICH

Nachhut

Steh auf, steh auf!
Wir werden nicht angenommen,
die Botschaft kam mit dem Schatten der Sterne.

Es ist Zeit, zu gehen wie die andern.
Sie stellten ihre Straßen und leeren Häuser
unter den Schutz des Mondes. Er hat wenig Macht.

Unsere Worte werden von der Stille aufgezeichnet.
Die Kanaldeckel heben sich um einen Spalt.
Die Wegweiser haben sich gedreht.

Wenn wir uns erinnerten an die Wegmarken der Liebe,
ablesbar auf Wasserspiegeln und im Wehen des Schnees!
Komm, ehe wir blind sind!

 

Gefahr von unten

Zum ersten Mal begegnete mir dieses Gedicht Anfang 1957 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Ich hätte es vergessen, hätte nicht kurz darauf Karl Korn es Wort für Wort emphatisch gegen aufgebrachte (er schrieb: „unflätige“) Leserzuschriften verteidigt. Eine Probe daraus wurde wiederum einige Tage später geboten. Da erwähnte eine Leserin die „bitteren Tränen“, die ihr schon beim ersten Lesen gekommen seien; andere bezeichneten das Gedicht als „Irrsinn“, „Mumpitz“; ein Karlsruher Nervenarzt wollte den Verfasser sogar in eine Irrenanstalt eingewiesen wissen.1 Keine zwanzig Jahre ist das her: Da ließen sich die Leser einer realienbewußten Zeitung von einem Gedicht zu Tränen- und Beschimpfungsausbrüchen hinreißen. Welches Gedicht würde heute ähnliches bewirken?
Ich studierte damals Literaturwissenschaft und lernte Literatur als ein gesichertes Inventar zu betrachten, das nur professioneller Pflege und Deutung bedarf. Mit einem Schlag machte mir diese Auseinandersetzung klar: Nichts ist da gesichert. Literatur hat sich auf Gedeih und Verderb gegen ihre Leser zu behaupten.
„Nachhut“ entstand 1955. Die ursprüngliche Fassung, um eine Anfangsstrophe länger, trug den Titel „Verlassene Stadt“. Die endgültige Fassung wurde in Eichs vorletzte Gedichtsammlung Zu den Akten (1964) aufgenommen. Es ist ein Gedicht aus jener Zwischenphase, in der er sich nicht mehr an der (vergeblichen) lyrischen Entzifferung eines Urtexts der Natur versuchte, in der er auch die kargen Bestandsaufnahmen der ersten Nachkriegsgedichte hinter sich gelassen hatte, andererseits aber auch noch nicht in die nahezu unenträtselbaren Formeln seiner späten „Steingärten“ versponnen war. Ein Gedicht also, in das man sich mit eigenen Denk- und Fühlweisen einschleichen kann, das für Unbefugte noch nicht verboten ist.
Die Situation: eine von den Bewohnern verlassene Stadt (und dem Leser ist es anheimgestellt, das als eine konkrete Katastrophe zu verstehen oder als Chiffre für eine noch größere Verlassenheit). Der Mond bescheint die leeren Häuser der Geflohenen; natürlich schützt er sie nicht. Einige glaubten, trotz allem bleiben zu dürfen, doch auch ihnen wurde der Wunsch nach einem sicheren Leben abgeschlagen:

Wir werden nicht angenommen.

Woher kam die Nachricht? „Die Botschaft kam mit dem Schatten der Sterne“: und mit einiger Gewaltanwendung ließe sich das Bild schon erklären (Sterne haben und werfen keinen Schatten; Sternenschatten entsteht höchstens dort, wo auf der Erde etwas zum Sternenhimmel hin überwölbt ist; war der Antrag auf eine Aufenthaltsgenehmigung an den „Himmel“ gerichtet, so wurde er auf der Erde abgewiesen).
Eine solche Erklärung jedoch könnte eine Zerklärung sein; besser, dem Bild und damit der Herkunft der Bedrohung bleibt seine rätselhafte Unbestimmtheit. Die Stille in der verlassenen Stadt hebt die eigenen Worte hervor und verschluckt sie. Was die Menschen vertrieben hat, ist noch nicht auszumachen. Aber die Katastrophe wird hereinbrechen; schon dringt die Gefahr von unten hervor: jedenfalls kommt nichts Geheures aus den Röhren der Kanalisation.
Die unumgängliche Flucht hat kein Ziel; die Wegweiser von früher gelten nicht mehr. Einen Weg könnte allenfalls die „Liebe“ weisen. Aber auch ihre Spuren (in Wasserspiegeln und Schneewehen) sind verwischt. Sie zu finden, bevor auch noch eigene Blindheit die Suche vollends vereitelt, bleibt die einzige Hoffnung.
So etwa könnte man sich das Gedicht in eigene Prosa übersetzen; ein Verständnisvorschlag. Es geschieht hier bald etwas Schlimmes, wir müssen fliehen und haben keine Zuflucht: auf diese Feststellung läuft das Gedicht hinaus. Der Leser muß jetzt bei sich selber nachsehen, ob er je eine ähnliche Erfahrung gemacht hat.
Zeitgenössisch machen gerade die von den Lesern damals beanstandeten „Kanaldeckel“ das Gedicht. In Eichs Parlando-Lyrik trifft sich unsere Alltagswelt mit einer poetischen Welt, in der sich alles noch reimte. Beide denunzieren einander nicht und machen sich nicht lächerlich. Die beschriebene Flucht ist auch eine aus einer erledigten Poesie.

Dieter E. Zimmer, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Hundert Gedichte des Jahrhunderts, Insel Verlag, 2000

 

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