Dieter E. Zimmer: Zu Robert Gernhardts Gedicht „Eine Ansichtskarte. Gruß aus dem Wildfreigehege Mölln“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Robert Gernhardts Gedicht „Eine Ansichtskarte. Gruß aus dem Wildfreigehege Mölln“ aus Robert Gernhardt: Wörtersee. –

 

 

 

 

ROBERT GERNHARDT

Eine Ansichtskarte. Gruß aus dem Wildfreigehege Mölln

Groß ist das Reh, schau, doch traulich
Leert seine Schnauze des Freundlichen Tüte,
Knisternd. Oder das Wildschwein.

Schwärzliches Wildschwein! Sieh, wie es schnaufend umherwühlt,
Grimmig zerstampft es den Sand, seiner Jungen nicht achtend,
Kurzbeinigst. Oder der Damhirsch.

Schönhufiger Damhirsch! Wie länglich hängt ihm
Vom Rücken der Wedel. Aber rundlicher noch ist die Beere
Und eßbarer. Oh Möllner, ach, Tage im Freigehege!

 

Von Oden und Postkarten

Es gibt Leichteres, als das Witzige an einem Witz zu erklären; oder gar herauszufinden, warum der eine Witz besser als der andere ist. Könnte man sagen: dies Gedicht sei eine Satire oder eine Parodie auf… – jeder wüßte, woran er mit ihm ist. Genau das aber läßt sich mit Robert Gernhardts Versen nicht machen.
Gernhardt schreibt seit sechzehn Jahren, vorwiegend für Satiremagazine. Einiges erschien auch in Büchern (Besternte Ernte, Die Blusen des Böhmen, Wörtersee). Seine Spezialität ist die Bedichtung von möglichst unscheinbaren Fotos. Satiren und Parodien, nämlich auf Bestimmtes, sind schon lange kaum noch dabei.
Wir sind dieser Art von Literatur gegenüber sonderbar hilflos. Da uns nichts Besseres einfällt, nennen wir das dann „Blödelei“ oder „höheren Blödsinn“ oder „Nonsens“. Dabei wissen wir, daß man das Gegenteil von blöde, nämlich ziemlich hell und behende sein muß, um dergleichen zu machen; und wir ahnen, daß der „Sinn“ hier keineswegs suspendiert ist, auch wenn er sich gern in unseren Rücken schleicht und uns die Zunge herausstreckt. Da uns die approbierte Art fehlt, uns über diese Kunstsparte zu verständigen, fällt es uns auch schwer, Niveauunterschiede dingfest zu machen. Selbst noch das Etikett „Nonsens“ wirft den albernsten Limerick mit einigen der sublimsten Passagen im Ulysses zusammen.
Zweck der Ansichtspostkarte ist die Rühmung von Ansichten. Zweck der Ode ist die feierliche Verherrlichung. „Größe und Würde der ergriffenen Themen verlangen Gehobenheit der Sprache und als Bindung für die pathetische Aussage den festen metrischen Rahmen.“ Also lautet die Ode: „Groß ist der Herr“, „Süß ist, fröhlicher Lenz, deiner Begeisterung Hauch“. Da bietet sich die Ode zur Übersetzung der Ansichtskarte in Lyrik geradezu an; und fast zwangsläufig hebt diese dann an: „Groß ist das Reh…“ Es ist keine alkäische, sapphische oder asklepiadeische Ode, sondern eine gernhardtsche, aber sie klingt mitsamt ihrer Adjektivseligkeit nicht weniger echt als Klopstocks Abwandlungen des antiken Odenmaßes.
Normalerweise betreiben Satiren debunking: Sie nehmen den Dingen ihr Pathos. Gernhardt (das ist der eine Witz) tut das Gegenteil: Er verpaßt einem nichtssagenden Gegenstand (hier also einer Ansichtskarte aus dem Wildpark Mölln) ein ungeahntes Pathos. Gegenstand und Tonfall passen partout nicht zusammen; also erwartet man, daß die Liaison sofort wieder zerbricht. Aber (das ist der zweite Witz) Gernhardt liest die Ansichtskarte tatsächlich Bildchen für Bildchen getreulich vor. Dabei macht sich der erhabene Tonfall selbständig. Er veredelt das Unscheinbare und (der dritte Witz) gibt, so wirksam ist die Legitimationskraft des erhabenen Maßes, auch um ein Haar noch dem rundheraus Lächerlichen den Anstrich von etwas irgendwie Bedeutungsvollen (daß am Hirsch ein länglicher Schwanz hängt, der nicht genießbar ist). Aber all dies macht sich nun nicht etwa, oder höchstens milde und beiläufig, über die Stadt Mölln lustig oder über Tierparks oder Ansichtskarten oder Oden, und diese Tatsache ist selber ein weiterer Witz: Mit Vorliebe visiert Gernhardt einen Gegenstand der Satire an, trifft dann aber ganz woandershin, und das wieder und wieder (eine dynamische Komik). Auch hier liegt der eigentliche Witz auf einer ganz anderen Ebene.
Schickte uns jemand eine solche Ansichtskarte, so gingen wir darüber vermutlich mit einem knappen, mitleidig-höhnischen Auflachen hinweg. Gernhardts Ode dehnt diesen Moment so, daß wir fragen können, was es da eigentlich zu lachen gibt. Was denn? Betrachtet man die Dinge durch eine bestimmte Brille, so scheint auf vielen ein Firnis von Wahnwitz zu liegen. Der kommt nicht aus den Dingen selbst, die meist einigermaßen unschuldig sind; er kommt aus der Art, wie wir darüber sprechen, wie wir sie interpretieren, wie wir sie rahmen. Wer keine Antenne für den Wahnwitz hat, der darin liegt, den Lieben daheim zum Zeichen, daß man in der Stadt Mölln ihrer gedenkt, ein Foto von Wildschweinen zu schicken, an dem ist das Gedicht verloren. Wer sich aber diesen Sinn wach erhält, also etwa der Leser von Flauberts Lexikon der Gemeinplätze, wird Gernhardt Dank wissen für seine Odendichtung.

Dieter E. Zimmeraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechster Band, Insel Verlag, 1982

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