Dieter Straub: Zeit der Olive

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Dieter Straub: Zeit der Olive

Straub/Straub-Die Zeit der Olive

STERNENHÄUSER

DIE HÄUSER VON DER INSEL
BLINKEN
WIE FREMDE STERNE
HERÜBER ZU DEM SCHIFF
DIE NACHT ZEIGT
EINE MILCHSTRASSE MIT KOMETEN
IN DENEN GESICHTER SIND
UND WÖRTER UND WEGE
ZU ANDEREN RÄUMEN.
WEIT SCHEINEN DIE HÄUSER
HINEIN IN DAS MEER
DA WO DIE SCHIFFE WUNSCHLOS
VORBEIFAHREN IRGENDWOHIN
DENN DAS ZIEL IST SO UNWICHTIG
WENN DAS MEER MIT DEM SCHIFF SPIELT.

DIE ZEIT
DIE MIT DEM SCHIFF FÄHRT
KENNT AUF DIE DAUER
KEINE HÄUSER AUS LICHT.

 

 

 

INSELGLÜCK AUF AIGINA

WENN DIE JUNGEN FRAUEN
MIT IHREN BALLONBÄUCHEN
VON DER INSELSTRASSE AUS
DIE SCHIFFE ZÄHLEN,
DIE ANKOMMEN UND AUSFAHREN,
SETZEN DIE MÄNNER
IRGENDWO STEIN AUF STEIN
UND ZÄHLEN DIE JAHRE
UND DIE PISTAZIEN,
DIE DEN HANG HINAUF
FERN VON DEN SCHIFFEN SIND.

Unzählige Inselkatzen begrüßen mit lautem Geschrei ihren Meister, wenn Dieter Straub die lange Straße vom Hafen heraufkommt und den Garten seines kleinen Hauses am Meer betritt.
Ägina, altgriechisch Aigina, ist eine große, gebirgige Insel, etwa eineinhalb Fahrstunden von Piräus, dem Hafen von Athen entfernt. Pistazien und Pinienwälder bedecken die sonst steinige Oberfläche. Kleine Städte und Dörfer, zahlreiche Kirchen und Klöster, der Anbau von Wein und viele Spuren antiker Besiedlung prägen das Bild dieser interessanten Insel.
Nach der Überlieferung hieß die Insel Inoni.
Hierher entführte Zeus die Nymphe Ägina, in die er sich verliebt hatte. Deren Sohn Äakos wurde König auf der Insel, die er nach seiner Mutter Ägina benannte. Hierher flüchtete auch die Nymphe Aphäa, die verfolgt wurde und sich mit Hilfe der Götter in einem Hain verbarg und verschwand. An jener Stelle wurde später zu Ehren der Nymphe ein Tempel gebaut.
Das heute noch gut erhaltene Bauwerk liegt rund zwölf Kilometer von der Stadt Ägina entfernt. Hier, am Rande der Stadt, lebt seit sieben Jahren, umgeben von Mythen und Natur, der Lyriker Dieter Straub.

Der Dichter Friedrich Hölderlin (1770–1843) war ein Fremder in seiner Zeit, von ihr nur wenig gekannt und kaum geschätzt. Erst heute wird er als einer der größten deutschen Dichter anerkannt.
In der Dichtung Hölderlins ist die Einheit alles Lebendigen ein wichtiger Leitgedanke. Nicht außerhalb der Welt suchte er im Jenseits seinen Gott, wie es die christliche Theologie von ihm verlangte, sondern in der Welt selbst, in jedem ihrer Teile. So hatten ja die Griechen im klassischen Altertum ihre Götter erfahren.
Im Wogen des Meeres erschien ihnen der Meergott Poseidon, auf dem Gipfel des Olymp thronte Zeus, der Herrscher über alle Götter und Menschen. In jedem Bach verehrten sie eine Quellgottheit, in den Bäumen Baumgottheiten.
HYPERION, der Held von Hölderlins erstem großen Werk, ist ein neugriechischer Jüngling, der darunter leidet, daß die Herrlichkeit des alten Griechenland dahin ist, daß nur noch Tempelruinen von ihr zeugen, daß der alte Heldensinn in dem jetzigen griechischen Volk nicht mehr lebte. Doch einmal ist es ihm vergönnt, das Göttliche von Angesicht zu Angesicht zu schauen: In der Gestalt Diotimas, der Tochter eines auf der Insel Kalausea lebenden Bekannten. Ihre Schönheit, ihre Selbstgenügsamkeit, die ihr selbst nicht bewußte Tiefe ihres Gemüts, das in seiner Einfalt alle Weisheit der Bücher übertrifft, machen sie für Hyperion zur Priesterin des „neuen Reiches“. Ihre Griechenschönheit verbürgt, daß das Göttliche nicht für alle Zeiten vorbei ist. Diotima fordert ihn auf, in seinem Volk den alten Griechengeist zu erneuern, ihm von der Begeisterung, die er in sich fühlt, mitzuteilen. Freudig willigt Hyperion-Hölderlin ein: Ist doch die Sprache sein Medium, sich der Welt und den Menschen mitzuteilen.

Heilige Natur! du bist dieselbe in und außer mir. Es muß so schwer nicht sein, was außer mir ist, zu vereinen / mit dem Göttlichen in mir. Gelingt der Biene doch ihr kleines Reich, warum sollte denn ich nicht pflanzen / können und bauen, was not ist?…

In der Liebe zum Griechentum und der Auseinandersetzung mit der Philosophie des klassischen Altertums und mit Leben und Werk von Friedrich Hölderlin, liegt ein Schlüssel zum Verständnis der Dichtung von Dieter Straub.
Der Lyriker wird am 11. Juli 1934 in Ludwigshafen geboren. Er wächst elf Kilometer vom Geburtsort Friedrich Hölderlins auf. Dort gibt es Berge und Wälder, Bäche, Flüsse und Weinberge: die schwäbische Landschaft ist reich für die Poesie.
Aber es ist auch Krieg in dieser Zeit: nach ’39 sind die Männer an den Fronten, auch Kinder müssen von nun an die fehlenden Arbeitskräfte bei der Landarbeit ersetzen. Da beginnt der Tag von vier bis sieben auf dem Feld, dann ist Schule von acht bis um eins und dann wieder Feldarbeit. Am späten Abend vermittelt die Großmutter Literatur, zitiert Hölderlin, die Texte kennt sie auswendig.
Dieter Straub hat in den ersten Schuljahren das Glück, einen Lehrer zu haben, der, bei den Nazis in Ungnade gefallen, als Direktor eines humanistischen Gymnasiums strafversetzt, die Grundklässler mit den Geschichten der ODYSSEE und der ILIAS vertraut macht: Er hört von weitgereisten Helden und von Frauen, um die Krieg geführt wird in der alten, griechischen Zeit.
Nach dem absolvierten Leuschnergymnasium in Ludwigshafen das Studium in Heidelberg, Erlangen und Berlin. Es sind hauptsächlich die griechischen Vorsokratiker bis Platon und Aristoteles, mit denen sich Dieter Straub beschäftigt und sein philosophisches Examen bestreitet.
Dieter Straub schreibt von klein an: Lyrik, Prosa, Essays, Literaturkritik, Gebrauchstexte. 1958 geht er nach Berlin. Zu Beginn der sechziger Jahre, er ist jetzt etwa Mitte Zwanzig, hat er sich freigeschwommen und einen noch einfachen, eigenen Sprachstil gefunden.

TÖDLICHES SPIEL

EINEN AUGENBLICK LANG
SAH ICH DEN TOD
IN MÄDCHENAUGEN.

ER HIESS MICH WILLKOMMEN
IM LIEBENDEN SPIEGEL
UND WARF SEIN BILD
IN DIE HÖHLEN
DIE SONST DIE SONNE ZEIGEN

ALS ER GING
LIESS ER DAS GIFT ZURÜCK
ALS ZEICHEN DER UMARMUNG.

In Hamburg werden 1964 vier Gedichte von Dieter Straub gedruckt. Die erste Lesung in Berlin im gleichen Jahr mit Dagmar Beiersdorf und Wolfgang Fehse. Überall, wo es von nun an um Literatur und Kunst geht, ist Dieter Straub an allen Fronten zu finden. Seine Gabe, Menschen in Kontakt zu bringen, läßt ihn zum Mitbegründer verschiedener Künstlerorganisationen werden, unter anderen der Neuen Gesellschaft für Literatur in Berlin.
Doch von der Dichtkunst allein kann man nicht leben. Auch Dieter Straub geht bürgerlichen Berufen nach: Als Literaturkritiker, als Redakteur, als Pressereferent. Mitte der achtziger Jahre trennt er sich langsam und schmerzhaft vom bürgerlichen Tun. 1986 verläßt er, von regelmäßigen Besuchen abgesehen, Berlin.
Dieter Straub kommt am 28. November 1986 auf Ägina an. Ein einsames, verlassenes Haus erwartet ihn, fast unbewohnbar.
Das Gefühl, niemanden zu haben, der sich um einen kümmert, die Freunde nicht, die Bekannten aus der Großstadt nicht, das wird für ihn eine prägende Erfahrung. Auf die Natur bezogen: Man geht dorthin, wo man keine Hilfe erwartet, wo man sich mit allem neu auseinandersetzen muß, wo man für die Grundbedürfnisse des Lebens zu kämpfen hat, um das tägliche Essen und ein Dach über dem Kopf. Und da ist die Natur, die im Winter auch in Griechenland nicht sehr freundlich umgeht mit den Menschen.

Doch das ist auch die ZEIT DER OLIVE: da gibt es die wunderschönen Novembertage, wo die Sonne herüberkommt vom Meer und die Oliven reifen, schwarz oder dunkelblau, die Zeit der Ernte ist da. Im ersten Jahr erntet Dieter Straub fast zwei Zentner Oliven von seinen fünf Bäumen, in einer Höhe von vier bis fünf Metern, immer zwischen Sonne und Erde. Der Dichter entdeckt die Qualität dieser kleinen Frucht zum Überleben, für ihn eine neue, ästhetische Dimension.
Und dann, an den langen Winterabenden, kommt die Erinnerung in die Einsamkeit. Erinnerung an die Freunde, an das Leben in der Stadt, an frühere Tätigkeiten. Ein Mensch zieht Resümée.

SAG ES

SAG ES
IN DER SPRACHE DES DICHTERS
WO DIE FREIHEIT MIT DEN HÄNDEN
GESCHWEISST WIRD
WO DIE WÖRTER GEREINIGT SIND
VOR DEM ABFALL
DER STUMPFEN GESICHTER.
DUNKEL SIND DIE KONTUREN
DES AUFSCHREIENDEN LICHTS.
WIR WISSEN BRUDER
DASS AM ABEND NUR ZÄHLT
WAS DER METALLENE KLANG
DES GEDANKENS
IN EINEM VON UNS VERSPRICHT.

Die ZEIT DER OLIVE beginnt mit einer dramatischen ANKLAGE an die Sprache. Ein Schreibender zweifelt. Und die Zweifel beziehen sich nicht nur auf sich selbst, ob er schreiben kann oder nicht. Sondern auf die Frage, was gibt die Sprache noch her, was kann man mit Sprache noch bewegen. Wie wichtig ist sie heute noch für unsere Kommunikation und das Miteinanderleben? Was gibt sie her, was die Erkenntnis oder das Schauen oder was die Ästhetik betrifft?
Skepsis: ANTIGONE, die berühmteste Tragödie des Altertums. Was ist wichtiger, Menschengebot oder Götterwille? Auch das EULENFELD ist von Sprachskepsis beherrscht. Ein Lichtblick: die „spitzgebogene Botin Angeliki“, eine Doppelbedeutung, der Name einer Frau und der eines Baumes. WARTENDE SEGEL, das ist das Umfeld, das über die Natur hinausgeht. Wer ein Schiff sieht am Meer, der fragt, woher kommt es, wohin fährt es, was bringt es, was nimmt es weg?
KYPRISCHE APHRODITE, die schaumgeborene Göttin der Liebe, ein Thema fast aller Autoren. – Sprache lebt, sie ist nichts gemeißeltes, sie sollte immer etwas lockeres haben. Das LIED VOM TRUNKENEN SATYR, das in der alten Tradition mit musikalischer Begleitung vorgetragen werden könnte, ist ein Beispiel dafür.
Das Bild von T., Erinnerungen an eine taubstumme Frau auf Ägina, die das Malen gewählt hat, um sich mitzuteilen, wo ihr die Sprache versagt bleibt. KAIROS, der weltschaffende Augenblick, der nie wiederkehrt. Wer ihn vergehen läßt, hat ihn auf ewig verloren.
In den Erinnerungsbildern der LAPITHENGESÄNGE wird ein alter Volksstamm im Norden Griechenlands zitiert. Zu den Lapithen gehörten auch die Kentauren, eine Mischung zwischen Pferd und Mensch. Sie galten als gebildet, aber auch als wild. Man wußte nie, weiche Seite in ihrem Wesen das Übergewicht bekam. Ambivalent die Lyrik Dieter Straubs: Zorn, Skepsis und Trauer, aber auch Liebe und Heiterkeit, stellenwertig gleich, bestimmen den Hauptteil der folgenden Sprachbilder. DIE SCHWARZEN FRAUEN: Die Erinnerung ruft die Bilder der Kindheit auf. Eine dunkle Masse von Frauen, die durch die Straßen der Heimatstadt geführt wird. Das Kind, das fragt, erhält zur Antwort: Diese Menschen kommen in die Arbeitslager. Ein Bild, das Dieter Straub nie mehr verlassen sollte. – Für den Dichter gibt es keine Rassenschranken, die Tragödie der Antigone hat ihre feste Bedeutung in der Weltliteratur. Antigone kann von weißer Hautfarbe sein, sie kann gelb sein, sie kann aber auch schwarz sein:
SCHWARZHÄUTIGE ANTIGONE.

Dieter Straub fallen Parallelen auf zwischen peruanischer und griechischer Mythologie. Lapithenland ist überall: Urbilder bestimmen das Denken der Völker. Der BERGGOTT spannt den Bogen zwischen den Kulturen.
Auch der letzte Teil der ZEIT DER OLIVE wird eingangs von Sprachskepsis bestimmt: ZEITENWENDE. Doch die Sprache gewinnt ihre Bedeutung wieder: In den folgenden Widmungsgedichten an Freunde, in den Bildern von Tagen, Zeiten und Personen besonderer Prägung. VERSENGTES LICHT: Artur Sommer war ein Freund von Claus von Stauffenberg, auch im Widerstand gegen das Naziregime und knapp der Hinrichtung entgangen. Er half verfolgten Juden und brachte sie ins Ausland. Da, wo der Versuch scheiterte, fand man sich zum letzten mal zu Wein und Gesprächen zusammen, den sicheren Tod vor Augen. –
Das Gedicht ist Artur Sommer gewidmet, Dieter Straubs erstem Heidelberger Mentor. Die BEGEGNUNG IM MOOR: Eine Auseinandersetzung der wissenschaftlichen Art, das Treffen von Paul Celan und Martin Heidegger, zitiert aus der Erinnerung.
Nun gewinnt die Sprache wieder eine positive Bedeutung, immer eingesetzt, wo die Eindringlichkeit von Poesie unerreicht bleibt. STERNENHÄUSER: Wer auf einem Schiff fährt, sieht nachts in der Ferne die erleuchteten Fenster. Sie scheinen wie tote Sterne herüber und doch weiß man, es ist Leben in all diesen Häusern.
Auch erotische Begegnungen verdienen es, aufgezeichnet zu werden: SONNENKERN. –
In der SAMOISCHEN ODE wird die glückliche Zeit vor Augen geführt, die der Lyriker mit seiner griechischen Frau auf Samos verbrachte. Ein Neuanfang und der Aufbau eines alten Hauses, über einen Sommer.
Und noch einmal, bevor die Sprache verteidigt wird, Irrwege. Noch einmal Skepsis, Sprachskepsis.
Doch dann: Die APOLOGIE, die Verteidigung der Sprache in knappen, einprägsamen Bildern. Der Dichter hat nun seine Sprache gefunden und bekennt sich zu ihr.
Das Wort, die Dichtung hat eine große Tradition, von Homer über Sappho und die griechischen Lyriker bis in die Gegenwart. Wer schreibt, muß seine eigene Sprache finden, seinen Ausdruck und seine Bildsprache, die immer auch mit der Zeit zu tun hat, in der ein Dichter lebt.
Sprache kann Therapie sein, zur Selbstbestimmung dienen, ein Bindeglied sein zu Göttern und Menschen. Im EPILOG Erkenntnis und Fazit: Einer, der schreibt, bleibt immer ein Fremder in seiner Zeit, wie auch Friedrich Hölderlin ein Fremder gewesen ist.
Seit sieben Jahren lebt Dieter Straub auf Ägina. Doch die Aufenthalte in Berlin gehören zur ständigen Regel. Der Weg dorthin führt immer wieder an der alten schwäbischen Heimat vorbei. Hier besucht er Freunde und die Mutter, eine Frau von besten Jahren. Und, manchmal, auch das Grab von Friedrich Hölderlin.

Udo Christoffel, Nachwort

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