Dietmar Jacobsen: Zu Wulf Kirstens Gedicht „karauschen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Wulf Kirstens Gedicht „karauschen“ aus Wulf Kirsten: fliehende ansicht. –

 

 

 

 

WULF KIRSTEN

karauschen

selbst die karauschen, zählebig wie katzen,
aber voller gräten, nicht beliebt
auf speisezetteln, werden immer seltener
und seltener, bis sie demnächst unbemerkt
ausgestorben – bezeugen kann ich, es gab sie
vorzeiten tatsächlich, ich sah sie
sich winden in schlick und schlamm,
als der schloßteich zu K. herbstens
abgelassen und abgefischt, in den tümpeln
zappelten nur die karauschen noch,
während karpfen, schleien, hechte
aus den keschern geschüttelt in die bottiche
fielen, auf pferdewagen gesetzt,
reiche ernte, hieß es, ich weiß noch
den tag, mitten im krieg, inspektor Peschke
gab die kommandos, dorfkind unter dorf-
kindern, sah ich beim abfischen zu,
leistete fischern und fischen gesellschaft
rund um den reich, nur die karauschen
blieben in ihm zurück und der schlamm,
in dem sie um sich schlugen wie wild,
achtlos-verächtlich am leben gelassen,
karauschen, zu kurz geratene fische.

 

Zu kurz geratene Fische

Die Karausche war „Fisch des Jahres“ 2010. Die hinter dieser Entscheidung stehenden Gremien wollten mit ihrer Wahl darauf hinweisen, dass die Lebensräume dieses weniger bekannten Wasserbewohners – nicht zuletzt durch das Zutun des Menschen – im Schrumpfen begriffen sind. Vor der Karausche standen der Aal (2009) und der Bitterling (2008) stellvertretend für all jene Fischarten, die es durch die Gefährdung des Gewässer-Ökosystems zunehmend schwer haben. Nach ihr kamen u.a. Äsche (2011), Stör (2014), Hecht (2016) und aktuell, 2021, der Atlantische Hering. Dass es der Karausche – eigentlich einer Meisterin im Überleben unter schwierigen Bedingungen – nicht besser geht als ihren weniger resistenten schwimmenden Verwandten, verdeutlicht den Ernst der Lage. Und an Lobby scheint es ihr außerdem zu fehlen.
Karauschen sind „zu kurz geratene fische“, lautet das Fazit von Wulf Kirsten in seinem „zum jahr der karausche“ geschriebenen Gedicht, das sich im Band fliehende ansicht (2012) zusammen mit 59 anderen in den Jahren zwischen 2005 und 2011 verfassten Texten findet. „Achtlos-verächtlich“ lässt man sie, wenn die Teiche abgefischt sind, weiterzappeln in „schlick und schlamm“. Denn es kommt nicht auf sie an. Zuerst werden „karpfen, schleien, hechte“ abgefischt. Die Karauschen, wegen der Vielzahl ihrer Gräten seit jeher nur „Fische für die Armen“, darf sich später holen, wer will. Als Speisefisch sind sie vernachlässigbar, Ausschuss der Natur, Futter für all jene, die sich nichts Besseres leisten können.
Die Natur hat von jeher im Werk von Wulf Kirsten eine bedeutende Rolle gespielt. Bereits im Nachwort der Gedichtsammlung, die am Beginn seiner literarischen Arbeiten steht und den bezeichnenden Titel satzanfang (1970) trägt, finden sich Bemerkungen, die seine Verbundenheit mit der Landschaft seines Herkommens dokumentieren. Ein „tieferes Eindringen in die Natur“ sei Aufgabe der Lyrik, wie er sie verstehe und praktiziere – allerdings nicht in Verbindung mit romantischen, sondern sozialen Aspekten –, liest man da. Natur und Mensch – sie gehören für Kirsten seit jeher zusammen. Eine Beschädigung der einen Seite beschädigt auch die andere, was in des Dichters Augen auch die Verantwortlichkeit des Menschen für die Natur, deren Teil er ja ist, begründet. Denn wer will sich schon selbst Schaden zufügen?
Kindheitserinnerungen sind es, die im Gedicht „karauschen“ zu Buche schlagen. Die herbstliche Abfischung des Schlossteiches im sächsischen Klipphausen, dem Ort, in dem Kirsten aufwuchs, südlich von Meißen gelegen und im Gedichttext versteckt hinter der Abbreviatur K., kommt dem seit mehr als fünf Jahrzehnten in Weimar lebenden Autor in den Sinn. Als „dorfkind unter dorfkindern“ war er alljährlich Zeuge, wie nach dem Ablassen des Teichwassers nur die Karauschen nicht in den Keschern der Fischer landeten. Jene „reiche ernte“, welche in Bottichen auf Pferdefuhrwerken triumphierend davongefahren wurde, bestand aus den wertvolleren Speisefischen.
Es ist eine Art Selektion, die hier unter Aufsicht des Gutsinspektors Peschke vorgenommen wird. Und der Hinweis auf die Zeit – „ich weiß noch den tag, mitten im krieg“ – bringt, ohne dass der Dichter das extra noch erwähnen muss, jene andere Selektion ins Spiel, die zur gleichen Zeit in den faschistischen Lagern stattfand und unter Deportierten, Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen diejenigen aussonderte, die als nicht „arbeitsverwendungsfähig“ eingestuft und später, zynisch legitimiert durch eine pseudomedizinische Begutachtung, ermordet wurden.
Die 25 reim-, wenn auch nicht rhythmuslosen Zeilen des Gedichtes arbeiten mit zahlreichen Alliterationen und Assonanzen. Der Blick des Dichters ist genau und unbestechlich, wenn er hinter dem vordergründigen Skandal des „Achtlos-verächtlich-am-Leben“-Lassens der Karauschen einen zunehmend nur dem Nützlichkeitsdenken gehorchenden Umgang des Menschen mit seiner Umwelt anprangert. Dass andere Fische sich gewinnbringender vermarkten lassen, weiß man. Deshalb den Blick abwenden von Kreaturen, die, so ephemer sie unter dem Aspekt ihrer Verwendbarkeit für die Ernährung des Menschen auch sein mögen, dennoch zum Bild des Ganzen gehören, Teil der Natur sind wie der Mensch selbst, zeugt andererseits von einer Hybris, wie sie gerade in unseren gegenwärtigen Tagen viel von dem zerstört, was eigentlich zu den Lebensgrundlagen des Menschen dazugehört und, sollte es zukünftig fehlen, nicht nur unsere Welt ärmer macht, sondern vor allem uns selbst.
All das macht sich das den Prozess des Abfischens des heimatlichen Dorfteichs beobachtende Kind noch nicht klar. Es sieht nur, was es sieht und diesen naiven Blick auf die Vorgänge übernimmt auch Wulf Kirstens Gedicht. Allein beim Leser sollten die lebendigen Erinnerungen an das Bild der einsam im Schlamm des abgefischten Schlossteichs weiterzappelnden Karauschen mehr auslösen als ein einverständiges Kopfnicken.

Dietmar Jacobsen, aus Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen, Heft 73, 2021

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00