Durs Grünbein: Zu Hermann Hesses Gedicht „Stufen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hermann Hesses Gedicht „Stufen“ aus Hermann Hesse: Die Gedichte. –

 

 

 

 

HERMANN HESSE

Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegensenden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

 

 

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

Nicht nur Bücher haben ihr Schicksal, nein, auch Gedichte. Gewisse Verse kommen einem wie alte Bekannte vor, die ein schweres Los traf. Man findet sie als Motto am Beginn dicker Romane, am Kopf mancher Todesanzeigen. In der Regel sind sie von Rilke, oder es handelt sich um ein Bibelzitat, aus dem Buch der Psalmen zumeist, seltener aus dem Hohelied Salomos. Sie alle haben, neben der elegischen Stimmung, eines gemeinsam: die Eignung zum Sinnspruch, ihr Vermögen, zu trösten und Seelenfrieden zu spenden. Ich weiß nicht, wie oft darunter Gedichte von Hermann Hesse sind. In der Statistik, schätze ich, nimmt er eher einen der vorderen Plätze ein. Charakteristisch für diese Art der Dichtung ist, daß sie in einer einzigen Zeile zusammenfaßt, was uns beim Trauern bewegt. Es müssen nicht unbedingt Schlußworte sein, wichtig ist der Silbenfall, und ein Jambus scheint besser geeignet als jedes andere Versmaß. Die schwache, zerbrechliche Menschenstimme nimmt all ihre Kraft zusammen, und plötzlich heißt es:

Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Zweiundzwanzig Zeilen, jede wie eine Treppenstufe gebaut, braucht Hesses Gedicht, um so zu enden. Als letztes Lebenssignal erst taucht es auf, das seelsorgerische Ausrufezeichen. Aufrecht wie der Mensch – solange er lebt – steht es da, das einzige Ausrufungszeichen im ganzen Gedicht. Und kaum fällt der Blick auf die Vertikale überm Finale des Punktes, muß er zurück, noch einmal die Stufen hinab, von denen der Titel kündet. Es sind die Lebensalter, die hier im Takt eines Bachschen Trauerchorals durchschritten werden.
Wenn man das Blatt mit den beiden wuchtigen Strophenblöcken weit von sich hält, ragen immer noch einzelne Denkmalworte wie Jugend und Weisheit, Zauber und Todesstunde kantig hervor. „Vom Weltgeist ist da die Rede“, mag ein einfühlsamer Kanzelredner vermitteln, „von Heimat und Lebenskreis“. Der Knabe, der unruhig im Kirchengestühl hin- und herrutscht, versteht nur Blabla. „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ – bei diesem Stichwort seufzt die junge Schönheit in der dritten Reihe auf. Daß jede Weisheit, jede Tugend blüht zu ihrer Zeit, beschäftigt, falls er zuhört, ein Weilchen den Rechtsanwalt.
Der Student neben ihm, selber Verseschmied, gähnt gelangweilt, weil er weiß, es läßt sich auch kürzer sagen – mit Goethe:

Stirb und werde.

Zum Glück hört keiner das Lästermaul, das da raunt: Gott, wie bombastisch, dieser Ton einer Sonntagspredigt, der kreuzbrave Kreuzreim. Leser wie ihn, bis in die Fingerspitzen blasiert, läßt derlei Innerlichkeitsrhetorik kalt. Wäre da nicht die letzte Zeile, seltsam oszillierend zwischen Immer und Nie. Ihr Verfasser, man kennt ihn, hat Siddharta geschrieben. Erzählt wird da von einem indischen Prinzen, der zum Religionsstifter wurde. Nur: wie soll beim Abschied von dieser Welt das Herz gesunden? Samsara und Nirwana – im Fernen Osten, hört man, sei alles Leben ein Kreislauf aus Tod und Wiedergeburt, ein Rad, von dem es irgendwann abzuspringen gilt. Wird hier etwa, in biederstem Luther- und Hegel-Deutsch, eine buddhistische Messe gelesen?
So ist es. Für Hermann Hesse war, nach Jahrzehnten des inneren religiösen Exils, aus Jesus Christus der gekreuzigte Buddha geworden. Die Stufen, von denen er schreibt, sind ebensogut Stationen auf dem Passionsweg wie Perioden im Daseinslauf eines Buddhisten. Der christliche Himmel schwebt über ihnen, aber auch die indische Hoffnung auf Erlösung aus dem Reich der Illusion. Etwas Künstliches liegt darin – etwas von einer Spielanweisung, als wäre das Leben ein Spiel mit verborgenen Regeln. Des Rätsels Lösung? Das Gedicht, es ist die Fiktion eines Gedichts, Teil eines größeren Zusammenhangs – eines Romans, in dem der Held die Rolle des Dichters spielt. Josef Knecht heißt sein Verfasser, der Meister aus Hesses Opus magnum, dem Glasperlenspiel. Die Legende will, daß er die Zeilen „einst als Schüler und Student geschrieben hatte“. In Wirklichkeit handelt es sich um ein Spätwerk, in der Handschrift des Autors datiert auf den 4. Mai 1941. Dies sogenannte Jugendgedicht: prophetisch nimmt es das Leben des Helden vorweg. Daher das merkwürdig Künstliche, die Konstellation aus allgemeinen, überpersönlichen Bildern. Woran liegt es nur, daß sie mir heute, selbst vierzig, allzu abstrakt erscheinen? Erstens: Gedichte sind Zeitdokumente, biographische Talismane oder gar nichts. Und zweitens: vorbei die Zeit, da man bei längeren Wanderungen einen Hesse-Roman aus dem Rucksack zog. Der Grund, warum ich ihn, der mir als Poet fast entfallen war, wieder las, ist ein persönlicher. Siegfried Unseld, mein verstorbener Verleger, war nicht nur der Statthalter Hesses auf Erden. Er hatte sich auch, mit Herz und Verstand, auf ihn als Lyriker festgelegt. Noch im Nachruf war dieser Stimmungszauberer ihm nah. Noch am Grab deklamierte einer der Suhrkamp-Autoren, gewissermaßen testamentarisch, die „Stufen“. Es war, in seiner seltsamen Steifheit, mehr Pergament als Kristall, Unselds Lieblingsgedicht.

Durs Grünbeinaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebenundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2004

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