E. E. Cummings: 39 Alphabetisch

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von E. E. Cummings: 39 Alphabetisch

Cummings-39 Alphabetisch

WARUM WARUM Wie viele winde machen wundervoll und ist glück Das gerippe des lebens oder hat wer Einen moment aufgemacht sind Nicht mehr als(falls Grün erfindet weil wo mögen Wo leben können FischEr schwimen und wer ist wohl michs Antimer Sollten wörter waffen tragen)sind nicht Weniger als(soviel beim fortTräumen heteronominös metamerisch ich wurden herausgepickt von tauber schlaFvertieft bei sichwindendring Elend homonominös metamerisch Dir

 

 

 

Die Sammlung von E.E. Cummings Gedichten

zeigt einen Querschnitt

durch das lyrische Gesamtwerk des Dichters. Entstanden zwischen 1904 und 1962, stellt es nach wie vor einen Schatz von an die Tausend nie zuvor ins Deutsche übertragenen Gedichten dar. „Cummings heute zu übertragen, da die meisten seiner extravaganten Stilmittel und extrem pathetischen poetischen Forderungen überholt scheinen, heißt unter die Oberfläche zu sehen. Ein jedes besseres Gedicht hat den Anspruch, Körper zu sein. Es wölbt sich mir zu, um Entfernung zu verringern. Wortschöpfungen, Syntaxbrüche, Lettern-Fakes… alles, was die Dichter stiften, ist dabei als Einladung zu verstehen. Bei Cummings allerdings bemüht sich der Gedichtkörper unter Einsatz aller Kräfte um Sinnlichkeit. Jeder Buchstabe, jedes Komma erhält eine einmalige Präsenz. Das Lautliche wird Bild, das Bildliche Laut.“ (Mirko Bonné)

Urs Engeler Editor, Ankündigung, 2001

 

Die Kunst des Akrobaten

Ein hohes Niveau erreicht eine bei Urs Engeler erschienene Publikation: die von Mirko Bonné ebenso geistreich wie gekonnt präsentierte Sammlung 39 alphabetisch von E. E. Cummings. Das Bändchen ist von bemerkenswerter Sogkraft: Begierig und neugierig liest man sich durch, und hier hat der zweisprachige Leser gleich mehrfachen Gewinn. Da die Gedichte im Original wie in der Übersetzung programmgemäss „alphabetisch“ nach ihren Anfängen geordnet sind (und der Herausgeber gegebenenfalls noch um ein wenig um schöpferische Unordnung besorgt ist), kommen englische und deutsche Version nie nebeneinander zu stehen; lediglich entsprechende Seitenverweise dienen als Orientierungshilfe. Wer nun lieber liest als blättert, wird vermutlich sowohl die englischen als auch die deutschen Gedichtfassungen gründlicher betrachten, weil er nicht unmittelbar von der einen zur andern springen und sie gegenseitig als Verständnishilfen konsultieren kann. Und ein genaues Aushorchen und Abklopfen der Texte bringt bei Cummings Gewinn: ob es sich nun um konventionellere Gedichtformen handelt, die durch die Kohäsion von Metrik, gebundener Sprache und bildlicher Entwicklung in Bann schlagen, oder um die suggestiven, offenen Sprachgebilde, mit denen man diesen Dichter in erster Linie assoziiert. Zudem – auch deshalb darf man von schöpferischer Unordnung reden – treten durch die halb vom Alphabet diktierte, halb auch vom Herausgeber gesteuerte Konjektur Texte aus ganz unterschiedlichen Schaffensphasen des Dichters nebeneinander, und öfters auch in reizvollen Dialog. Weitere Freude bringt dann der Vergleich von Original und Übersetzung: streng in der disziplinierten Geste, der massgeschneiderten Knappheit, des Sprachkleides, spielerisch, aber nie mutwillig im Umgang miteinander, präsentieren sich die beiden Fassungen wie eine Truppe von Trapezkünstlern, fliegend und bunt in der Höhe der Zirkuskuppel: ein Schauspiel, das bezaubert und den Atem verschlägt.

Not un deux trois der die Stood(apparition)

dichtet Cummings. Bonné kontert:

Nicht er he le ahn döh Bare(erscheinung)

Da ist in „er he le“ die Sprachtrias deutsch/englisch/französisch aus dem Original herübergebracht; im „ahn, döh“ der Klang des „un, deux“ – aber warum in dieser kuriosen Umschreibung? Der Kunstgriff des Übersetzers lenkt die Aufmerksamkeit auf eine vertikale Bedeutungslinie: Das „Nicht er/ahn/Bare“ sorgt immerhin. für ein Mass Gewissheit, dass auch das „Not un/der/Stood“ im Original nicht unverstanden bleibt. – „Er he le –: wahrhaft erhellend darf man eine solche Übertragung nennen.

Angela Schader, Neue Zürcher Zeitung, 13./14.7.2002

Letternfuror, alphabetisch

− Die Wiederkehr des Edward E. Cummings. −

Von dem monumentalen Œuvre des amerikanischen Dichters Edward Estlin Cummings (1894-1962) ist hierzulande nur noch die weit verbreitete Unsitte übrig geblieben, sich durch ebenso konsequente wie unmotivierte Kleinschreibung von Verszeilen als experimenteller Dichter auszuweisen. Während seine Gedichte kaum noch gelesen werden, überlebt sein Avantgardismus als bloße Prätention, als eitle Geste. Mit dem ihm eigenen Rigorismus war der junge Cummings einst vor Gericht gezogen, um die Kleinschreibung seines Namens auf eine juristisch verbindliche Grundlage zu stellen. Das war das biografische Vorprogramm zu dem ästhetischen Fundamentalismus, mit dem dann „e.e.cummings“ die literarische Welt zu erobern gedachte. Das Wunderkind, dem die Eltern die genialische Künstlerexistenz als Karriereziel auferlegt hatten, verfiel schon früh in eine manische Produktivität. Schon der Achtjährige fing an, im Stile eines Romantikers zu dichten und Aquarelle zu malen, der Student schlug sich dann rasch auf die Seite der neuen revolutionären Kunstbewegungen, die um 1910 die Welt der Kunst aus den Angeln hoben. Als Maler adoptierte der junge Cummings die Verfahrensweisen von Kubismus und Futurismus und suchte alsbald fieberhaft nach Transformationsregeln, um diese kubistischen Techniken auch im Gedicht zur Geltung zu bringen. Sein poetisches Zauberwort hieß „Bewegung“. Alles Statische, alles in Begriffen oder Abstraktionen Erstarrte wollte der Rebell aus Neuengland in Trümmer legen. Und so begann er aus den futuristischen Thesen F. T. Marinettis und dessen Forderung nach einer „Zerstörung der Syntax“ seine Schlussfolgerungen zu ziehen. In Paris hatte Guillaume Apollinaire mit „Kalligrammen“ experimentiert, mit typografisch weit aufgefächerten Bild-Gedichten, in denen aber das Wort als geschlossene Einheit noch intakt blieb. Das unerhört Neue an Cummings’ Experimenten war nun, dass er in kubistischem Eifer auch an die einzelnen Wörter im Gedicht heranging, um sie in sorgfältiger Dekomposition zu zerlegen, zu verschieben und sie in kühnen a-grammatischen Fügungen wieder zusammenzusetzen. Zum Ideal erhob der Maler-Dichter das „seeing around“, das synchrone und synästhetische Sehen und Wahrnehmen: Wer Cummings aber nur als rigiden Erzexperimentalisten sieht, unterschlägt die enorme Masse von konventionell gebauten Texten, die in seinem Œuvre zu finden sind. Zwar unternahm der Dichter immer neue Anstrengungen für eine lyrische Dynamisierung der Gedichtzeile, um dann aber im nächsten Atemzug seine eigenen Doktrinen vom „kinetischen“ Vers zu widerlegen – und zwar in Liebesgedichten, die so schwelgerisch und hymnisch daherkommen, als sei ihr Autor ein verspäteter Romantiker. Es ist diese nie zu beruhigende Ambivalenz zwischen Tradition und Avantgarde, die als ästhetische Unruhe in den Cummings-Gedichten vibriert und die Lektüre zu einem außerordentlichen Vergnügen macht. Deutsche Leser waren fast ein halbes Jahrhundert lang auf die knappe Cummings-Auswahl angewiesen, die Eva Hesse 1958 zusammengestellt hatte und die vom Dichter selbst noch autorisiert worden war. Aus dem fast tausend Gedichte umfassenden Werk des Dichters hatte Hesse einen repräsentativen Querschnitt erstellt, der neben den radikal experimentellen Gedichten auch die verhalteneren Cummings-Töne präsentierte. Diese kanonische Cummings-Übersetzung Eva Hesses, die nach einigen Erweiterungen noch immer lieferbar ist, hat nun endlich eine ernstzunehmende Konkurrenz bekommen durch zwei neue, fast zeitgleich erschienene Auswahlbände, in denen neue Facetten des sprachbesessenen Avantgardisten sichtbar werden. Die zweisprachige Cummings-Übersetzung von Lars Vollert, die insgesamt 44 Gedichte enthält, wird eröffnet mit einer ganzen Reihe von hinreißenden Liebesgedichten, in denen Cummings als entzückter Romantiker auftritt, der seine „lady“ in sinnlich überbordender Metaphorik und sich selbst anfeuernder Emphase besingt. Auch wenn Vollert in seinem Nachwort die „verlustreichen Entscheidungen“ betont, die ein Cummings-Übersetzer zu treffen hat, so staunt man doch über die konzentrierte Genauigkeit, mit der seine Übersetzung den formalen und semantischen Bewegungen des Originals folgt.

Die ebenfalls zweisprachige Cummings-Übertragung des jungen Romanautors und Lyrikers Mirko Bonné schlägt einen gänzlich anderen Weg ein. Sie verfährt rigide alphabetisch, wobei die Cummings-Originale und ihre Übersetzungen offenbar als gleichwertige Kunstwerke betrachtet werden. 39 Alphabetisch: Der formalistische Titel und die zahlenspielerische Gliederung der Texte können sich noch auf Cummings eigene Ordnungsprinzipien berufen, liebte der Dichter doch rein numerische Titel wie is 5 oder 73 Poems. Eine gewisse Kühnheit dieser Cummings-Ausgabe liegt aber darin, dass sie – in Weiterführung der notorischen Zahlenspiele des Dichters – Originale und Übersetzungen nicht einander gegenüber stellt, sondern für beide eine alphabetische Abfolge nach dem Anfangsbuchstaben des jeweiligen Gedichts herstellt, so dass stets wildes Hin- und Herblättern nötig wird, wenn man nach den deutschen Übertragungen sucht. Hat man diesen editorischen Einfall erst einmal akzeptiert, so wächst bei der lesenden Suchbewegung bald auch die Lust am Durchwandern der Cummingsschen Gedicht-Labyrinthe und am Auffinden entsprechender semantischer Ariadnefäden. Bonnés Cummings-Übersetzung macht sehr anschaulich, wie sich hier der Gedichtkörper unter dem Einsatz aller Kräfte und einem streng organisierten Letternfuror um Sinnlichkeit bemüht. Die Auswahl präsentiert nicht nur den Virtuosen der Wort-Zerlegung, sie zeigt Cummings auch als Epigrammatiker, als Verfasser von kleinen Liebesliedern und Kinderversen, als Natur-Enthusiasten oder als Realisten des „snap-shots“, der „l kleine maus“ über den Boden huschen sieht oder „ein altes blaues rad in der wiese“ entdeckt. Der Lettern-Tänzer Cummings, der Glockenschläge typografisch in eine poetische Treppenstufen-Form übersetzt, tritt ebenso auf wie der lautmalerische Sprachartist, der das Erwachen des Lebens beim Sonnenaufgang schildern will:

dem grunzgrinz wockelwackel tschempitschamptschomps ja jetzt scherrt die gesprenkelte strebe und scharrt-schurrt…

Die größte Herausforderung an den Cummings-Übersetzer stellen natürlich die ineinander geschobenen und durch Satzzeichen und Parenthesen verfugten Wort-Dekompositionen dar, von denen Bonné zahlreiche Exempel präsentiert. Während Vollert sich an einigen Stellen semantische Freiheiten zugesteht, versucht Bonné fast immer buchstabengenau zu übersetzen. In der Miniatur „un (bee) mo“, einem komplexen Silbenkonstrukt, das in beiden Ausgaben enthalten ist, entscheidet sich Vollert für sinn-rettende Lesbarkeit, Bonné für Artistik. Das erste Teilstück: „un (bee) mo // vi / n (in) g“, überträgt Vollert: „re (biene) gung / s / l (in) os“, während Bonné die Zersplitterung beibehält: „re(biene)gu / ngsl / o(in)s“. Angesichts solcher komplexen Wort- und Silbenverschachtelungen beginnt man zu begreifen, warum Edward Estlin Cummings, dieser Klassiker der Moderne, mit seinem Programm der Zerreißung des Gedicht-Körpers so gar keine Nachfolger gefunden hat. Epigonen mit einem Bedarf an ermäßigten lyrischen Konditionen können hier nur scheitern.

Michael Braun, Frankfurter Rundschau, 10.10.2001

Sekretär der Luftsprünge

− Edward E. Cummings in einer zweisprachigen Auswahl. −

Er hat dem Gedicht seine alten Trachten vom Leib gerissen und unter Knittelvers, Elegie, Ode, Volksliedzeile die Materialschätze der Sprache ans Licht befördert. Edward Estlin Cummings ist die Portalfigur des literarischen Experiments in Amerika. Er entdeckte die vom Metrum gezähmte Kernkraft der Wörter, ihre der metaphorischen Rede geopferten Ausdrucksenergien, die Reichtümer ihrer rhythmischen Musik. Wo Schiller noch den Erdkreis schulterte, um die Glocke in die Welt zu setzen, ist Cummings einfach nur der Sekretär der Wörter, denen er die Initiative überlässt. Ihre Luftsprünge tupft er aufs Papier, die Buchstaben des Worts Glocken:

„(b eL] s bE.

Der Vierzeilerfaden, ist der Refrain eines 1935 entstandenen Gedichts, das dem muskulösen Schmiedehandwerk Schillers den mobilen Äther seiner Klangimpulse entgegensetzt. Unter dem Schwungmantel ihres Geläuts versammelt er einen wirbelnden Menschenschwarm. Das Menschheitspathos wird durch ein signifikantes Makrozeichen ersetzt, dessen Identität der Sinnbildungsvorgang nicht allein trägt: das Buchstabenbild stützt ihn. Die komplementäre Tierstudie „un(bee)mo“ aus den „95 Poems“ von 1958 übersetzt die Regungslosigkeit einer schlafenden Biene in einen Gedichtkörper mit dem Auf- und Abgesang als abgehängtem Kopf und Hinterteil und dem bauchig gedrungenen, eng verklammerten Versleib im Zentrum des Gedichts. Allerdings beschränkt sich Cummings, wenn er mit den Lettern malt, auf die schlichte Wiedergabe des Objekts. Ein hoher Preis, der nicht allein dem Experiment geschuldet ist. „Picturepoems“ taufte er seine Figurengedichte, die seine Affinität zum Bild verraten. Cummings hat neben der Dichtung ein umfangreiches malerisches Werk hinterlassen, als er 1962 starb. Sein künstlerisches Damaskus erlebte der Sohn eines unitarischen Geistlichen und Harvardprofessors als Neunzehnjähriger in der Bostoner Armory Show 1913, als er Brancusis und Duchamps’ Moderne kennen lernte; später folgten die amerikanischen Futuristen. Das waren die Geburtsstunden der experimentellen Dichtung in Amerika, die von den Black Mountain Poets um Charles Olson weiterentwickelt wurde. Der metrisch reichen, aber rhythmisch armen Gedichtsprache, die er vorfand, begegnet er mit typographisch vielgestaltigen Feldkompositionen in auffällig naturnahen, die Wortteilchen zerstäubenden Rhythmen, rieselnd und regnend, zitternd, flutend oder tumultuarisch. Das Verb wird zum Ausgangspunkt des Beschleunigungsexperiments und ist auf Cummings’ Geschwindigkeitsskala der Gegenpol zur Statik des Nomens. Sein poetisches Tonstudio stellt den Übersetzer vor Probleme, die jede einzelne Lösung als Bravourstück erscheinen lässt. Mirko Bonnés Querschnitt von Gedichten aus den Jahren zwischen 1923 und 1962 ergänzt Eva Hesses immer wieder neu aufgelegte und jüngst Lars Vollerts Auswahlbände bei Langewiesche-Brandt. Bei Bonné treten die experimentellen Texte hinter den traditionellen, strophisch gebundenen freien Versen zurück. Vor allem aber bezeugt der Band die lebenslange Auseinandersetzung des Dynamikers ausgerechnet mit der Formgrammatik des Sonetts, die den poetischen Fortgang an Wiederholungen bindet. Wo Cummings’ Wörterwelt ernstlich auf Sinn aus ist, lauert um die Ecke der Unsinn, der Jux, die Albernheit („why don’t be silly“). Oder aber der Weg vom Ding zum Wort ist weit. Zweifelsfrei schließt das Wort das Ding nicht mehr auf. Wo dieser Wirklichkeitsvorbehalt fehlt, wo die Versrede simpel wird, ist das Nagen des Zahns der Zeit förmlich hörbar.

Sybille Cramer, Süddeutsche Zeitung, 20.11.2002

„O ein drache zu sein Nein danke“: Neutöner in ihrem Labor

− Portalfiguren der klassischen Moderne Amerikas: Edward E. Cummings und Marianne Moore. −

Cramer Beide Schriftsteller werden dem Vergessen entrissen, in das sie zu sinken drohten. Ihrer beider Aufnahme in Hans Magnus Enzensbergers Museum der modernen Poesie und, in seinem Fall, die vereinzelten Publikationen aus den achtziger Jahren blieben folgenlos. Selbst die Erinnerung an Edward E. Cummings war zu einer schemenhaften Legende verblasst. Wenn die Erzväter der amerikanischen Moderne angerufen wurden, fiel in der Regel sein Name in einem Atemzug mit dem von William Carlos Williams. Jetzt entdecken wir ihn, den Vertreter des Experiments, als Antipoden des grossen Gegenstandslyrikers. Die eigentliche Überraschung aber ist die Dichtung Marianne Moores. Beide Bücher sind ungewöhnlich sorgfältig gehobene Schätze und wahre Glücksfälle der Vermittlung amerikanischer Poesie im deutschsprachigen Raum. Der kleine Verlag konnte hervorragende Übersetzer gewinnen, den Keatsübersetzer Mirko Bonné und Jürgen Brôcan, der als Kenner der modernen amerikanischen Poesie ausgewiesen ist. Cummings und Marianne Moore sind Landsleute, Zeitgenossen, Neuengländer, Grossstadtschriftsteller und, die eine wie der andere, herausragende Vertreter jener amerikanischen Dichtungsmoderne, die ein neues Zeitalter der amerikanisch-europäischen Kulturbeziehungen einläutete. Europa hörte auf, das Mass aller Kunstdinge zu sein. Lange vor der Pop-Malerei, mit der die amerikanische Kunst aus dem Schatten der europäischen trat, lief die moderne amerikanische Lyrik der europäischen, namentlich der britischen, den Rang ab, Stichwortgeberin für die andere, die transatlantische Seite zu sein.

Verstandeszauber Neben Wallace Stevens und William Carlos Williams gehören Edward E. Cummings und Marianne Moore zu den Portalfiguren einer neuen Poesie, die das romantische Erbe des Gedichts zugunsten einer in existenzieller und pragmatischer Weise konkreten Poesie ausschlug. Dem freien Wortgeist des absoluten Gedichts, rauschhafter Worttheologie, die zwischen endlicher Wirklichkeit und unendlicher geistiger Freiheit vermittelt, der Verdrängungsarbeit einer Ästhetik, die Schönheit und Sinnlichkeit zum geistigen Prinzip sublimiert, setzen die amerikanischen Pioniere eine Poesie der Einzelheiten entgegen. – Sie verlässt sich auf die metaphorische Energie der Dinge. Stellvertretend im Gedicht Marianne Moores begegnet der Leser einer Kunstsprache, die eine hochverdichtete Alltagssprache ist. Der Demokratisierung des Ausdrucksmittels entspricht die Annäherung von lyrischem und empirischem Ich, das sein Material nicht mehr unabhängig von der Wirklichkeit organisiert. Imagination und äussere Wirklichkeit bedingen einander. Die streng syllabische Verszählung bei stufenförmig eingezogenem Zeilenanfang, feinste Echowirkungen des Reims im Innern und am Ende des Verses, eine Vorliebe für Gänsefüsschen, mit denen sie ihre Form der Vielstimmigkeit durchsetzt, die strophische Bindung des Gedichts und eine sprunghafte Beweglichkeit und mutwillige Lebendigkeit des Intellekts, der vorführt, wie glanzvoll und schön (und zusammen mit den Sinnen) der Verstand zaubern kann, wenn er so rein daherspaziert – all das sind Kennzeichen ihres Gedichts. Mit Vorliebe spricht es von einfachen Dingen, besonders gern von Tieren, Blumen (wahren Blumenbeeten) und Sportlern, aber auch ohne jede Sympathie von Literaturkritikern und ohne Überschwang, aber in grossartig schlichter Klarsicht von der Poesie oder vom Geist, dem Geist der Poesie. Mal ist er „eine störrische sache“, mal eine „verzaubernde“. „Der Geist ist eine verzaubernde Sache“ überschreibt sie eines ihrer verblüffend einfachen und verstörend hermetischen, bis an die Grenze des Möglichen mit Sinn aufgeladenen Verswerke, dessen begriffliche Bestimmungen („gewissenhafte inkonsequenz“) mehr imponieren als seine Metaphorik. „Imaginäre Gärten mit wirklichen Kröten“, beantwortet Marianne Moore die selbst gestellte Frage nach ihrer Poesie bündig – und an den Leser gewandt: „ …wenn du in der zwischenzeit einerseits / das rohmaterial der dichtung in / all seiner rohheit und das, / was andererseits ursprünglich ist / verlangst, bist du an dichtung interessiert.“

Stolperrhythmen „Ich mag die inverse Anordnung der Worte nicht“, schreibt sie in ihrem „Vorwort zu einem Marianne Moore Lesebuch“, „Kann es nicht leiden, durch einen unnötigen Grossbuchstaben am Beginn jeder Zeile behindert zu werden … Ich mag geradliniges Schreiben, beendete Zeilen, einen Effekt fliessender Zusammenhänge, und schrieb nach 1929 – vielleicht früher – keinen Vers, der (meiner Meinung nach) nicht reimt.“ Die herkömmliche Form des Reims, geradliniges, den Sinn entfaltendes Schreiben, den Effekt fliessender Zusammenhänge sucht man bei ihm vergeblich. Stattdessen: Grossbuchstaben am Beginn jeder Zeile, invers angeordnete Worte, zersprengte Worte, aufgelöste Zeile. Cummings setzt seine Realitätszeichen oppositionell zur Konvention sprachlicher Ordnungssysteme, Satzgefüge, Denkstrukturen. Er atomisiert das Gedicht. In seinen typografischen Feldkompositionen, explosionsartig aufgesprengten und in synkopischen Stolperrhythmen über das Blatt geworfenen, hochaufgelösten lyrischen Sinngebilden löst er die Schwere des Wirklichen, die starre Bestimmtheit der Wortdinge, die Konventionen der Verständigungssprache in den mobilen Äther seiner präverbalen Wortimpulse, in Morpheme und Phoneme auf. Edward Estlin Cummings erlebte sein künstlerisches Damaskus 1913 in der legendären Bostoner Amory Show, wo er auf die Moderne Brancusis und Duchamps stiess. Das war die Geburtsstunde der experimentellen Dichtung in Amerika, die später von den Black Mountain Poets um Charles Olson weiterentwickelt wurde. Für Cummings wurden namentlich die amerikanischen Futuristen wichtig, deren Dynamismus er in sein ganz eigenes Stil- und Ausdrucksmittel verwandelte. Er dynamisierte die Gedichtsprache durch Zeileneinrückungen, aufgebrochene syntaktische Strukturen, die grafische Befreiung der Satzzeichen, aber auch der Gross- und Kleinschreibung, der Zeichenabstände und Buchstaben aus ihrem grammatischen Dienst. So erschloss er dem Gedicht ganz neue visuelle und akustische Ausdrucksmöglichkeiten. Daneben entfaltete er ein breites Ausdrucksspektrum zwischen offenem Vers und gebundenem Gedicht. Namentlich dem formstrengen Sonett. das er intensiv, intensiv dekonstruierend. pflegte. „39 Alphabetisch“ versammelt 39 vorzüglich übersetzte Gedichte aus dreizehn Gedichtbänden, die einen immer wieder vor- und zurückspringenden Längsschnitt durch das lyrische Gesamtwerk legen, vom ersten Gedicht aus „Tulips und Chimneys“ (1923) bis zu dem aus dem Nachlass stammenden dritten der „Späten Gedichte“. Er blieb sich selber treu, blieb zeitlebens der Neutöner in seinem Labor. Hierin ähneln sie sich, der Sohn eines unitarischen Geistlichen und Harvard-Professors und die Tochter aus presbyterianischer Familie in Kirkwood/Missouri. Marianne Moore war geradezu zu einem Wahrzeichen New Yorks, jedenfalls dem der New Yorker Intellektuellenwelt geworden, als sie 1972, zehn Jahre nach ihm, starb. Eine bizarr „anderweltliche“ Erscheinung, wie ihre Freundin Elizabeth Bishop in ihrem Nachwort schreibt, sommers in schwarzem platten Strohhut, winters in schwarzem platten Filz, ein altmodisches Wesen, das sein Leben in der Gesellschaft der Mutter verbrachte, zunächst in einer kleinen Wohnung in Brooklyn, später in Manhattan, fromm, sittenstreng und gewiss der fiebrigste Baseball-Fan der Zeit. – Nun sind sie hoffentlich bei uns angekommen, unwiderruflich.

Sibylle Cramer, Basler Zeitung, 21.12.2001

 

E.E. Cummings oder

Die Sprache, in der man nicht lügen kann

Der amerikanische Dichter und Maler Edward Estlin Cummings, geboren vor 60 Jahren in Cambridge, im Staate Massachusetts, ist im deutschen Sprachgebiet so gut wie unbekannt. In den Vereinigten Staaten und in England ist er berühmt und seit dreißig Jahren heiß umstritten. Man hat ihn den Erneuerer und den Zerstörer der modernen amerikanischen Lyrik genannt, einen Narren und Betrüger, einen Lebensbejaher, der die große Unbedingtheit der Kinder nicht verloren hat. Daß Cummings ein radikaler Neuerer ist, darüber sind sich Freund und Feind einig.
Im Ersten Weltkrieg, noch vor Amerikas Kriegseintritt, ging er nach Frankreich, um ein Sanitätsauto zu lenken. Aber die Heeresdisziplin war nicht nach seinem Sinn und er nicht nach ihrem. Wegen irgendeines geringfügigen Vergehens verbrachte er einige Zeit unter Arrest. Ergebnis dieses Zusammenstoßes mit dem Unvereinbaren ist sein Roman The enormous Room, erschienen 1922. Ein Buch, das nicht kämpft, weder für den Krieg noch für Kriegsdienstverweigerung oder Revolution, dafür aber eines der besten Bücher aus dem Ersten Weltkrieg, von einer alles durchdringenden Kraft der Beobachtung, die nur in dem fast gleichzeitig erschienenen Ulysses des Iren James Joyce ihr Gegenstück hat.

Ein Jahr später veröffentlicht Cummings einen Gedichtband, Tulips and Chimneys, der Aufsehen erregt. Schon in diesen ersten Gedichten kämpft er gegen die Entwertung der Worte. Wenn die kleineren und schwächeren unter ihnen verblassen, dann müssen zuletzt auch die großen, starken Worte und alle echten Gefühle und Gedanken unter dem Schutt entwerteter Füllworte ersticken. Jedes Wort ist ihm gleich lieb, gleich wertvoll. Um dieser Gleichheit willen schreibt Cummings alles klein, selbst das Wort „I“ (ich), das im Englischen immer groß geschrieben wird.
Aber bei aller scheinbaren Willkür zeigt dieser erste Band doch strengen Aufbau der Gedichte und schön durchgehaltene Kunstmittel, wie etwa in dem Gedicht „Impression IV“ die verschiedenen Umkehrungen. Die Großstadt hat beim Erwachen „ein lied auf den lippen und tod in den augen“, aber sie „schläft ein mit tod auf den lippen und einem lied in den augen“.
Nach dem Krieg verbringt Cummings einige Jahre als Kunststudent in Paris. Seine Diktion beginnt, mit dem gewohnten Sprach- und Schriftgebrauch immer toller umzuspringen.

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaal oo k −
aaaaaaaaaaaaaaaaaapigeons fly ingand
whee (:are, SpRiN,k,LiNg an in-stant with sunLight
then) l −
ing all go BlacK wh-eel-ing

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaasch au e −
aaaaaaaaaaaaaaaaaatauben flie gendund
krei (:sie, SpReN,k,EIN einen augen-blick mit sonnenLicht
dann) s −
end werden alle SchwarZ kr-eis-end

Man kann sich vorstellen, welche Kritik derartige sprachliche und typographische Experimente ihm einbringen.
Der verstorbene amerikanische Dichter und Kritiker Theodore Spencer erläutert diese Zeilen mit folgender Inhaltsangabe:

Schaue:
Tauben, fliegend und kreisend…
(sie sprenkeln einen Augenblick mit Sonnenlicht)
dann werden alle schwarz… kreisend…

Aber Spencer findet den Cummings-Text ungemein wirkungsvoller, weil Cummings, dem alle Eindrücke des Taubenflugs zugleich Erlebnis geworden sind, sich um eine Form bemüht, die das Nacheinander der Aussagen und Vergleiche in ein Ineinander zusammenfaßt. Das Wort „kreisend“ wird in drei Zeilen zerlegt „krei-send (whee-l-ing)“ und steht außerdem noch – in der gleichen Schreibung! – am Schluß, wodurch sich ein Kreis des Fluges schließt. Das „Sprenkeln“ wieder soll durch Abwechseln der Groß- und Kleinbuchstaben (SpRiN,k,LiNg) wirklich gesprenkelt sein und in diesem Sinne auf den ersten Blick ins Auge fallen. Was das Gedicht schildert, das soll es zugleich selbst sein. Daß die Ursache solcher Experimente die Krise unserer Zeit ist, muß kaum mehr gesagt werden. Joyce und Picasso, moderne Plastik und Musik; überall das verbissene analytische Experiment, Auflösung, Zerreißung und ungewohnte Zusammenfügung, die mehr ist als bloße Künstlerlaune. Aber die Welt ist mißtrauisch gegen solches Suchen. Man fühlt sich an die Aufzeichnungen Schizophrener erinnert, und vielleicht mit Recht, denn auch Wahnsinn ist ja oft ein großangelegter Versuch, einer unerträglich gewordenen Wirklichkeit magisch Gewalt anzutun.
Allen Tate, Dichter und Kritiker, sagt von Cummings: „Er ersetzt die alten dichterischen Konventionen durch seine eigenen, die aber nicht minder eng begrenzt sind.“
Wenn Cummings sich um seine Kritiker gekümmert hat, so merkt man das seinen Gedichten nicht an. Seine dichterische Entwicklung ist freier von Schulen, Bekehrungen, Abkehr und Umkehr als die der meisten Zeitgenossen. Das gilt auch für seine Politik. Cummings ist Rebell, wie vielleicht jeder Dichter, aber niemals organisierter Rebell oder gar Berufsrevolutionär. Cummings fuhr nach Moskau und sah sich Rußland an, wie der Avantgardist Louis Aragon. Aber zum Unterschied von Aragon hat es ihm dort gar nicht gefallen. Davon berichtet er in seinem Buch Eimi, erschienen 1939.
Zwischendurch schreibt er für Kinder, die ihn lieben und verstehen.
Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg sagt der Kritiker S. I. Hayakawa von ihm:

Sein atemraubend klarer Blick ist in die unlyrische und unschuldlose Welt ausgesetzt. Seine Höllenfahrt ist ein Ausflug, von dem er bisher noch nicht wieder aufgetaucht ist. Aber er sammelt Fragmente seiner Hölle und verwebt sie zu Mustern von überraschender lyrischer Anmut.

Das stimmte, als es gesagt wurde, aber nicht mehr lange nachher. Denn Cummings’ Bedeutung liegt darin, daß er seither von dieser Höllenfahrt zurückgekehrt ist. Und das kann man von wenigen modernen Dichtern sagen, die die große Entdeckungsreise angetreten haben.
Collected Poems (1938) und, mehr noch, 50 Poems (1940) enthalten Gedichte von großer Einfachheit. Worin ihre Eigenart besteht, davon werden vielleicht die folgenden Proben auch noch in deutscher Übersetzung einen Begriff geben. Cummings bezeichnet diese Gedichte nur mit Nummern, aber wenn man sie liest, die Rühmung des allumfassenden Vaters, die Liebesgeschichte des Mannes Jedermann und des Mädchens Niemand, den Rosenkranz für die Lilie des Himmels, dann weiß man viele Titel dazu, Titel von alten Bänkelliedern, Titel aus Märchenbüchern und Titel aus den Evangelien.

Ein Wort zu den Gedichten selbst:
Schlegel sagt zwar: „Fußnoten zu einem Gedicht sind wie anatomische Vorlesungen zu einem Braten“. Aber uns fehlt es hier, um einigermaßen im Bilde zu bleiben, an den richtigen Vorspeisen; d.h., wir sind auf die folgenden Leseproben nicht durch Vertrautheit mit dem Gesamtwerk des Dichters vorbereitet. Außerdem bedürfen auch die Übersetzungen einiger Erklärung.
Cummings hat immer wieder gewisse Krankheitserscheinungen der Zivilisation angegriffen: die Vermassung und Unterdrückung, die Gleichheit der Gleichschaltung, die bei ihm kurz „gleich“ oder „gleiche“ (same) heißt. So hat er sich eine Art kurzes Wörterbuch geschaffen. Die Verneinung, Verleugnung oder Vereitelung des Lebens heißt darin „nicht, nein, nie, ist nicht“ (not, no, never, isn’t). Die Wesenlosigkeit und die leere Phrase heißen „unheit“ (unness).
Außerdem macht Cummings von den Möglichkeiten seiner Sprache einen im Deutschen eigentlich unnachahmlichen Gebrauch. Das Englische hat die meisten Endungen abgestoßen und ist dadurch fast zu einer agglutinierenden Sprache geworden. Cummings kann seine Gedichte aus reinen, abgeschliffenen Wortkernen aufbauen. So kann bei ihm ein Zeitwort Eigenschaftswort werden, ein Umstandswort Hauptwort. Das Englische hat seinem Versuch vorgearbeitet, den Wert der Worte durch ihre Gleichsetzung wiederherzustellen. Die deutsche Übertragung aber kann nicht einfach auf alle Endungen verzichten, sonst würde sie zu einem unnatürlichen Gestammel. Auch die fast völlige Vermeidung aller Großbuchstaben wirkt im Englischen weniger radikal als im Deutschen. Und schließlich liebt Cummings auch noch Wortspiele, Anklänge an amerikanische Umgangssprache und an Slang, und Worte mit weitem Verwendungsbereich wie „by“, das deutsch abwechselnd bei, durch, um, an, mit, von usw. heißen kann.
Lyrikübersetzungen sind eigentlich immer unmöglich. Hier aber sah sich der Übersetzer noch vor diese zusätzlichen Schwierigkeiten gestellt. Daher – und zur allgemeinen Unterstützung seiner Aufgabe mag man ihm noch einige kurze Notizen verzeihen.

Poem No. 18

the moon is hiding in
her hair.
The
lily
of heaven
full of all dreams,
draws down.

cover her briefness in singing
close her with intricate faint birds
by daisies and twilights
Deepen her,
Recite
upon her
flesh
the rain’s

pearls singly-whispering.

 

Gedicht No. 18

der mond verbirgt sich in
ihr haar.
Die
lilie
des himmels 
voll von allen träumen 
sinkt herab.

bedeck ihre kürze mit singen
schließe sie in verwobene matte vögel
bei maßliebchen und zwielichtern
Vertiefe sie,

Bete
auf ihrem
fleisch
des regens

perlen einzel-flüsternd.

Der Sonnenuntergang ist zugleich Tod, die Lilie ein weibliches Wesen. Die Handlungen, zu denen aufgefordert wird, sind Anklänge an die biblischen Pflichten, die Blöße der Nackten zu bedecken und die Toten zu begraben. (So klingt „dose“ auch „dothe“ an.) Durch assoziativen Anklang werden auch die einzelflüsternden Perlen des Regens zu einem Rosenkranz.

Poem No. 29

anyone lived in a pretty how town
(with up so floating many bells down)
spring summer autumn winter
he sang his didn’t he danced his did.

Women and men (both little and small)
cared for anyone not at all
they sowed their isn’t they reaped their same
sun moon stars rain

children guessed (but only a few
and down they forgot as up they grew
autumn winter spring summer)
that noone loved him more by more

when by now and tree by leaf
she laughed his joy she cried his grief
bird by snow and stir by still
anyone’s any was all to her

someone married their everyones
laughed their cryings and did their dance
(sleep wake hope and then) they
said their nevers they slept their dream

stars rain sun moon
(and only the snow can begin to explain
how children are apt to forget to remember
with up so floating many bells down)

one day anyone died i guess
(and noone stooped to kiss his face)
busy folk buried them side by side
little by little and was by was

all by all and deep by deep
and more by more they dream their sleep
noone and anyone earth by april
wish by spirit and if by yes.

Women and men (both dong and ding)
summer autumn winter spring
reaped their sowing and went their came
sun moon stars rain

 

Gedicht No. 29

jedermann lebte in schöner wie stadt
(mit auf so schweben viel glocken hinab)
frühling sommer herbst winter
er sang sein tat-nicht er tanzte sein tat.

Frauen und männer (so winzig wie klein)
ließen jedermann jedermann sein
sie säten ihr nicht sie ernteten ihr gleich
regen sonne mond sternenreich

Kinder errieten (nur wenige auch
und vergaßen ab als sie wuchsen auf
herbst winter frühling sommer)
daß niemand ihn liebte mehr um mehr

sie lachte sein glück sie weinte sein leid
baum um blatt und nun um seit
vogel um schnee und rühren um ruh
jedermanns jedes war alles für sie

jemande freiten ihre allemanns
lachten ihr weinen und taten ihren tanz
sie (schlafen wachen hoffen und drauf)
sagten ihre nies her sie schliefen ihren traum

sterne regen sonne mond
(und nur der schnee der zu zeigen beginnt
wie kinder sich leicht zu entsinnen vergessen
mit auf so schweben viel glocken hinab)

eines tags hat wohl jedermann sterben müssen
(und niemand kniete sein gesicht zu küssen)
eilig begrub man sie seit’ um seit’
nach um nach und war um war

alles um alles und tief um tief
und sie träumen mehr um mehr ihr schlief
niemand und jedermann april um erdreich
wunsch um geist und ob um ja.

Frauen und männer (so klang wie kling)
sommer herbst winter frühling
ernteten ihr säen und gingen ihr kamen
sonne mond sterne regen amen

In dieser Ballade von Liebe und Tod des Mannes „jedermann“ und des Mädchens „niemand“ faßt Cummings Eindrücke wie das gleichzeitige Auf und Ab des Glockenläutens durch sprachliches Ineinanderschieben zusammen, ähnlich wie mehrere Jahre früher in seiner Schilderung des Taubenfluges. Auch ein Kunstmittel aus dem ersten Gedichtband taucht wieder auf, die Umkehrung. Die „jemande“ und „allemanns“ schlafen ihren Traum. Ihre Gegenspieler „jedermann“ und „niemand“ aber träumen ihren Schlaf, den Todesschlaf, von dem sie „wunsch bei seele und ob bei ja“ auferstehen. In der letzten Zeile hat der Übersetzer ein abschließendes „Amen“ hinzugefügt, das eigentlich nicht in den Text gehört. Cummings sagt nämlich von den Frauen und Männern, die ernteten, was sie gesäet hatten, sie „gingen ihr kamen“, d.h., woher sie gekommen waren. Der Übersetzer hatte nicht das Herz, dies um des Reimes auf „regen“ willen zu „gingen ihr wegen“ abzuschwächen. Unübersetzbar bleibt auch „nevers“, das für die lebensverneinenden, scheinheiligen Gebete der Massenmenschen steht. „Nevers“ und „prayers“ klingen ähnlich. Im Deutschen aber klingen „nimmers“ ganz anders als „Gebete“.

Poem No. 34

my father moved through dooms of love
through sames of am through haves of give,
singing each morning out of each night
my father moved through depths of height

this motionless forgetful where
turned at his glance to shining here;
that if (so timid air is firm)
under his eyes would stir and squirm

newly as from unburied which
floats the first who, his april touch
drove sleeping selbes to swarm their fates
woke dreamers to their ghostly roots

and should some why completely weep
my father’s fingers brought her sleep:
vainly no smallest voice might cry.
for he could feel the mountains grow.

Lifting the valleys of the sea
my father moved through griefs of joy;
praising a forehead called the moon
singing desire into begin

joy was his song and joy so pure
a heart of star by him could steer
and pure so now and now so yes
the wrists of twilight would rejoice

keen as midsummer’s keen beyond
conceiving mind of sun will stand,
so strictly (over utmost him
so hugely) stood my father’s dream

his flesh was flesh his blood was blood:
no hungry man but wished him food;
no cripple wouldn’t creep one mile
uphill to only see him smile.

Scorning the pomp of must and shall
my father moved through dooms of feel;
his anger was as right as rain
his pity was as green as grain

septembering arms of year extend
less humbly wealth to foe and friend
than he to foolish and to wise
offered immesurable Is

proundly and (by octobering flame
beckoned) as earth will downward climb,
so naked for immortal work
his shoulders marched against the dark

his sorrow was as true as bread:
no liar looked him in the head;
if every friend became his foe
he’d laugh and build a world with snow.

My father moved through theys of we,
singing each new leaf out of each tree
(and every child was sure that spring
danced when she heard my father sing)

then let men kill which cannot share,
let blood and flesh be mud and mire,
scheming imagine, passion willed,
freedom a drug that’s bought and sold

giving to steal and cruel kind,
a heart to fear, to doubt a mind,
to differ a disease of same,
conform the pinnacle of am

though dull were all we taste as bright,
bitter all utterly things sweet,
maggoty minus and dumb death
all we inherit, al bequeath

and nothing quite so least as truth
− i say though hate were why men breathe −
because my father lived his soul
love is the whole and more than all

 

Gedicht No. 34

mein vater zog durch tode von liebe
durch gleichschritt von bin durch haben von gebe,
aus jeder nacht sang er jede früh:
mein vater zog durch tiefen der höh

das unbewegte vergeßliche wo
blickte er auf zu leuchtendem da;
das ob (so fest ist zaghafte luft)
hob sich vor seinem aug aus der gruft

wie wer schwebt aus unbegrabenem was
so brach meines vaters aprilhand das eis,
er wies schlafenden sichen ihr sichres gewiß
weckte träumer zu ihrer geistwurzeln schoß

und weinte völlig ein warum
so schläferten seine finger sie stumm:
keine kleinste stimme schrie ungehört
denn er hat die berge wachsen gespürt.

Er hob der meerestäler last
mein vater zog durch leiden der lust;
er pries eine stirne genannt der mond
sang sehnsucht in des anfangs grund

lust war sein lied und lust so rein
einem sternherz konnte er leitsteuer sein
und rein so nun und nun so ja
die handgelenke der dämmerung machte er froh

scharf wie des hochsommers schärfen jen-
seits der fassaden sinne der sonne stehn,
so streng (und weit über äußerstem ihm
so riesig) stand meines vaters traum

sein fleisch war fleisch sein blut war blut:
kein hungriger wünschte ihm nicht brot;
kein krüppel wollt nicht auf krücken gehn
eine meile bergauf um ihn lächeln zu sehn.

Mein vater zog durch tode von fühl
und verschmähte das protzen von muß und soll;
sein zorn war wie der regen grad
sein mitleid grün wie grüne saat

septembernde arme des jahres verstreun
so schlicht nicht fülle an feind und freund
wie er die toren und die weisen
mit grenzenlosem ich wollt speisen

stolz wie die erde sich niedersenkt
(von oktobernder flamme mitgewinkt)
und zur unsterblichen arbeit nackt
zogen seine schultern wider die nacht

sein kummer war wie brot so wahr:
kein lügner späht’ ihm unters haar;
und wurde jeder freund sein feind
hat er lachend die welt aus schnee neu gegrünt.

Mein vater zog durch jenen von wir,
sang aus jedem baum jede knospe hervor
(und hörte ein kind meines vaters gesang
so wußte es daß der frühling so sprang)

so töte was nicht teilen kann,
sei blut und fleisch morast und schlamm,
sei klügeln traum, gefühl gewollt,
freiheit ein rauschgift das geht nach gold

sei geben stehlen, grausam gut
sei herz die angst und zweifel mut,
sei anders sein aussatz des gleichschrittsinns,
mittun die krönung des ichbins

wenn alles trüb wär was uns schmeckt klar,
bitter alle süße ganz und gar,
madiges minus und totes vergessen
alles was wir erben und hinterlassen

wenn es nichts so ganz mindest wie wahrheit gäbe
− ja atmeten wir nur dem haß zuliebe −
mein vater lebte seine seele
drum ist liebe das all und ist mehr als alle

Die „gleichen (sames) von bin“ sind die Gleichschaltungen des „bin“, also eine Verneinung des Individuums, ebenso wie „haben“ die gierige Verneinung des Gebens ist. Das „wo“ wird durch „da“ bejaht und erleuchtet. Das „ob“ ist wie „Gedicht Nummer 29“ die Frage nach der Auferstehung, die hier wieder bejaht wird. „Wer“ ist die Seele des unpersönlichen und daher seelenlosen „was“. Selten hat Cummings so nachdrücklich alles, worum ihm zu tun ist, in ein Gedicht gelegt. Das ganze Gedicht ist eine Hymne auf die Wiederbeseelung der Welt durch menschliche Liebe. (…)

Erich Fried, 1957, aus: Erich Fried: Die Muse hat Kanten, Verlag Klaus Wagenbach, 1995

 

Mirko Bonné: Erwachen und Öffnen. Zwei Wege zu E.E. Cummings

 

Mirko Bonné und Theresia Prammer. „Was setzt über, wenn Gedichte übersetzt werden?“. Eine Konferenz mit übersetzenden Dichter·innen & dichtenden Übersetzer·innen am 5.11.2021 im Literaturhaus Halle

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum +
Brigitte Friedrich Autorenfotos
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + MAPS 1, 2 & 3 +
Internet ArchivePoets.org + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

E.E. Cummings Anyone – gesungen von Rebekka Bakken und gespielt vom Julia Hülsmann Trio.

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