E. Flueler: Zu Ilse Aichingers Gedicht „Florestan“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ilse Aichingers Gedicht „Florestan“. –

 

 

 

 

ILSE AICHINGER

Florestan

Jetzt will ich dich,
mein Bruder,
in den Gängen fangen
und unter den Schnee
treiben.
Die Uebergänge
will ich dir zeigen,
und die Stätten,
um kurz zu rasten.
Ich will dich
von den hellen Plätzen
verscheuchen,
dass du weit auffliegst
und dich zu mir
fort begibst,
unserm Kranz
zur Nacht.

 

Verschlüsselte Sprache, doch entschlüsselbar

– Anhand eines Gedichtes von Ilse Aichinger. –

Schwierig scheint sie auf den ersten und auch auf den zweiten Blick. Sie nimmt uns oft den Mut, uns mit ihr auseinanderzusetzen, uns in sie hinein zu leben, sie zu verstehen. Es ist, als ob sie sich in ein Schneckenhaus zurückziehen wollte, erschreckt von dem Siegeszug der Wissenschaften. Diese können mit berechtigtem Stolz darauf verweisen, dass sich durch ihre Arbeit der gesamte Wissensbestand der Welt etwa in sieben Jahren verdoppelt. Früher ging die Wissenschaft mit der Dichtung Hand in Hand. So war es noch im siebzehnten Jahrhundert. Es bestand eine Einheit zwischen Wissenschaft, Dichtung und Philosophie.
Die Wissenschaften beschäftigen sich mit der Wirklichkeit und versuchen, daraus Gesetze abzuleiten und Zusammenhänge zu verstehen. Was aber tut die Dichtung? Sie ist auf eine immer neue und immer gleich schwierige Erscheinung verwiesen; sie hat dem Menschen in seiner Ratlosigkeit die wirkliche Wirklichkeit zu erhalten, denn trotz allem Wissenszuwachs bleibt der Mensch in seinen Problemen der gleiche, sich selbst ein Rätsel. Darum ziehen sich wirkliche Dichter aus den Wahrheiten dieser faktischen Welt in ihre eigene zurück, verschlüsseln ihre Sprache, sprechen in Rätseln, die es aufzulösen gilt, die wir aber, bei aller Schwierigkeit, auch auflösen können. Wir wollen es an einem Beispiel versuchen

FLORESTAN

Jetzt will ich dich,
mein Bruder,
in den Gängen fangen
und unter den Schnee
treiben.
Die Uebergänge
will ich dir zeigen,
und die Stätten,
um kurz zu rasten.
Ich will dich
von den hellen Plätzen
verscheuchen,
dass du weit auffliegst
und dich zu mir
fort begibst,
unserm Kranz
zur Nacht.

Der Titel und die ersten drei Zeilen wecken in uns das Bild des einsamen, traurigen David, der seinen besten Freund, seinen Bruder Jonathan – Florestan klingt so ähnlich – im fremden Königsschloss sucht und nach ihm ruft. Jonathan war für David sein anderes Ich, sein besseres Ich. Auch wir sind unser Leben lang auf der Suche nach unserm bessern Ich. Auf vielerlei Wegen und Irrwegen „in den Gängen“ wollen wir es einfangen. Doch da stutzen wir: „Unter den Schnee treiben“ will es die Dichterin. Es sieht vorerst so aus, als wollte das eine Ich dem andern, diesem „Bruder“ ein Leid antun. Kann der Schnee nicht aber auch das Behütende, die Stille sein? Ein „altmodischen“ Dichter sagt:

Es wächst viel Korn in der Winternacht.

Wir haben alle schon diese schöpferische Stille erfahren, wissen, dass erst aus der Stille das Leben kommt. Darum will das Ich seinen „Bruder… unter den Schnee treiben“. Dass das eine Ich dem andern kein Leid antun will, sagen die folgenden Zeilen. Es will ihm ja die „Uebergänge zeigen“ und „die Stätten“. Von Stufe zu Stufe soll das Ich geführt werden, so wie es die grossen Mystiker erlebt haben. Teresa von Avila hat Ilse Aichinger nach ihrem eigenen Bekenntnis viel zu sagen gehabt.
Lang zwar darf man an den „Stätten“, nicht verweilen, nur „kurz rasten“ dürfen wir, sollen wir unsern Weg wirklich fortsetzen. Darum darf es auch nicht zu hell auf unserm Weg werden; von den „hellen Plätzen“ werden wir „verscheucht“. Nur so können wir „weit auffliegen“ und endlich dorthin gelangen, wo die beiden Ich in unserer Brust, der Wille und der Wunsch, sich vereinen zum „Kranz“. Ilse Aichinger zieht die letzte Konsequenz. Dies wird erst möglich sein, wenn unser Leben vollendet ist, „in der Nacht“. Indem die Dichterin sich wie in diesem Gedicht bewusst abwendet von der Wirklichkeit, entdeckt sie für uns unsere metaphysische Wirklichkeit. Das tut sie mehr oder weniger verschlüsselt in allen ihren Gedichten und Erzählungen. Es gilt, sie zu entschlüsseln, denn Gedichte und Literatur überhaupt leben erst, wenn der Leser das Werk aufnimmt und sich damit auseinandersetzt. Dazu wollte diese kurze Interpretation ein Ansporn sein

E. Flueler, Neue Zürcher Nachrichten, 15.2.1971

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