Eckart Kleßmann: Zu Georg Heyms Gedicht „Die Märkte“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Georg Heyms Gedicht „Die Märkte“ aus Georg Heym: Dichtungen und Schriften. Band 1. Gedichte. –

 

 

 

 

GEORG HEYM

Die Märkte

Schleifender Füße sind tausend auf ihnen getreten.
Hohe Karossen rollten wie Donner so hohl.
Immer lagen sie bleich nur und schüchtern. Und flehten
Um die übrigen Rüben und grünlichen Kohl.

Die in dem Schauen so vieler der Sommer ergreiset,
Im ritzenden Froste der bitteren Winter zernagt,
Vom winzigen Brosam des Frühwinds trübe gespeiset,
Wenn märzlich das Jahr mit blauem Sturme getagt.

Ewig nur hängende Särge krochen darüber.
Ihre Stirnen waren von Fackeln oft rot.
Tränen, die großen, schlugen voll Hitze hernieder,
Und sie schwanden in sie, die so trocken wie Brot.

Viele Gesänge sie hörten und silberne Tänze,
Aus hellen Palästen oft schallte ein Saitenspiel,
Im Grunde der braunen Gemächer sahen sie glänzen
Fröhlicher Zeiten Ernte und Mähler viel.

Oben im Grauen oft sahn sie die Vögel kehren
Unruhig um – wie Spreu durch die Himmel vorbei.
Die, ach, trieben hinaus mit den Wolken, den schweren,
Über die schwellenden Herbste mit scharfem Geschrei.

Ihrer dachte doch niemand. Die kümmerlich aßen
Nur der Dächer Unrat mit hungrigem Mund.
Was sich nachts dort erbrach, die in Finsternis saßen,
Und sie lagen beschmutzt auf dem schneeigen Grund.

Zur Mitternacht dann – die Mäuse schoben die Knochen
Über sie sanft. Die Raben schleuderten Mist.
Mit knickenden Beinen die Spinnen krochen
Zärtlich über ihr zitterndes Angesicht.

So sperrten sie immer empor ihre riesigen Lippen.
Und schrien nach einem Heiland der tollen Zeit,
Und hörten den Wind am Tage – im Abend ein Regentrippen –
Weißer Sterne Geräusche – durch Dunkel der Räume verschneit.

 

Verse von letzter Trostlosigkeit

Es gibt Gedichte auf Häuser, auf Gärten, auf Schlösser, auf Parks, auf Straßen, Alleen und Brücken, aber die Plätze, die Märkte, sind eher ein Motiv der Malerei geblieben denn der Lyrik. Selbst bei einem Dichter der Städte wie Rilke findet sich dieses Sujet höchst selten. Vielleicht ist die von Häusern umgrenzte Weite den Dichtern zu unbelebt, zu unbeweglich erschienen.
Das sieht auch Heym:

Immer lagen sie bleich nur und schüchtern.

Leben, Bewegung und Farbe widerfährt den Märkten nur von außerhalb, etwa durch das Geschäft der Höker, die „Rüben und grünlichen Kohl“ zum vitalen Kolorit anhäufen. Und selbst der Tod belebt sie noch dank jener Reste, die im Leichenkondukt über sie geführt werden, und das bleiche Aussehen der steinernen Augenzeugen rötet sich im nächtlichen Fackelschein dieser pompes funèbres. Erst Tod und Verwesung bedeuten für die Märkte das Leben. Nur einmal, in der vierten Strophe, darf sich das aktive, bejahende Dasein widerspiegeln in festlicher Repräsentanz und Musik. Doch seltsam: Die beschworene Fröhlichkeit will sich nicht einstellen, denn diese „silbernen Tänze“ wirken eher wie danses macabres; beim Lesen mußte ich immer an „La Valse“ von Maurice Ravel denken und ihre gespenstisch-zerschlissene Walzerseligkeit.
Nach dieser Strophe legt Heym eine Zäsur, richtet sich der Blick aufwärts nach „oben im Grauen“, wo sich die Himmel wie ein Spiegelbild über die Märkte wölben und daher von ihnen im Plural gesprochen wird. Auch die Himmel werden nur belebt durch die Vogelschwärme in ihrer Ruhelosigkeit, deren kümmerliche Unbehaustheit korrespondiert mit jenen „die in Finsternis saßen“, den von Menschen entleerten Märkten, denen nur noch die Teilnahme der Tiere geblieben ist und die ewigen Zeichen und Laute von Wind, Regen und „weißer Sterne Geräusche“. Und ihr stummer Schrei „nach einem Heiland der tollen Zeit“ wird unerhört bleiben.
Was beim ersten Lesen zunächst so gemessen, so statisch erscheint, ist tatsächlich von starker Bewegung erfüllt. So kulissenhaft tot auch das Bild der Märkte in der zweiten Strophe wirkt, so ist doch das Leben nicht ausgetrieben; Wörter wie „zernagt“, „gespeiset“ und „getagt“ sagen es, auch wenn sie das Leben im Verfall umschreiben. Und es geschieht vor den Fassaden das tägliche Hin und Her von Karossen, Trauerkondukten und Musik, das dem Agieren der oberen und unteren Tierwelt entspricht.
Wäre die kinematographische Technik im Januar 1912, als Heym dieses Gedicht schrieb, weiter entwickelt gewesen, so könnten diese Verse vielleicht als Beispiel dafür stehen, wie ein Dichter die neue Sehweise des Mediums Film übernommen hat. Das war aber damals noch nicht möglich. Dennoch gibt es so etwas wie eine zunächst statische, dann mit starken Schwenks arbeitende Kameraführung auch hier im Strophenverlauf. Etwa die wechselnden Blickrichtungen in der fünften (Schnitt nach der vierten) und in der sechsten Strophe, das Übergehen aus der Totalen in die Nahaufnahme der vorletzten.
Es ist ein Gedicht vom Weltende, getragen von dem Gefühl unabwendbarer Katastrophen, so wie es Heym auch in vielen anderen seiner Verse oft und oft ausgesprochen hat, Verse von letzter Trostlosigkeit. Geschrieben wurden sie vom 10. bis 15. Januar 1912 in Berlin. Am 16. Januar ist Georg Heym beim Schlittschuhlaufen auf der Havel bei Schwanenwerder mit einem Freund ins Eis eingebrochen und ertrunken, 24 Jahre alt.

Eckart Kleßmannaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Elfter Band, Insel Verlag, 1988

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