Eckhard Heftrich: Zu Else Lasker-Schülers Gedicht „Ein Liebeslied“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Else Lasker-Schülers Gedicht „Ein Liebeslied“ aus Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Band I: Gedichte. –

 

 

 

 

ELSE LASKER-SCHÜLER

Ein Liebeslied

Komm zu mir in der Nacht – wir schlafen engverschlungen.
Müde bin ich sehr, vom Wachen einsam.
Ein fremder Vogel hat in dunkler Frühe schon gesungen,
Als noch mein Traum mit sich und mir gerungen.

Es öffnen Blumen sich vor allen Quellen
Und färben sich mit deiner Augen Immortellen…

Komm zu mir in der Nacht auf Siebensternenschuhen
Und Liebe eingehüllt spät in mein Zelt.
Es steigen Monde aus verstaubten Himmelstruhen.

Wir wollen wie zwei seltene Tiere liebesruhen
Im hohen Rohre hinter dieser Welt.

 

Prinz von Dichters Gnaden

Sie starb 1945 in Jerusalem, eine Fremde auch dort, wo sie sich einst in der Phantasie eine von mehreren Heimatstädten erfunden und wo zuletzt die Verscheuchte eine Zuflucht gefunden hatte. Fünfzig Jahre danach ist nur noch schwer nachvollziehbar, daß nach dem Ende der zwölfjährigen Fluchtzeit mit Grund befürchtet wurde, ihre Verse seien „halb vergessen“. So schrieb 1948 Friedhelm Kemp im Hochland. Ein freundlicher Zufall habe eine Abschrift des letzten, 1943 in Jerusalem erschienenen Gedichtbandes, Mein blaues Klavier, in seine Hände gelangen lassen und mahne, „der späten Schwester Deborahs und der Sulamitin den Zoll der Liebe und des Dankes zu entrichten“.
Der Dank bestand nicht nur aus einem kurzen Essay, in dem doch bei aller Einfühlung noch deutlich zwischen poetischem Gold und den Flittern kabarettistischer Surrogate unterschieden wurde; eine Unterscheidung, die man bei späteren, vom Glanz des postumen Ruhmes geblendeten Interpreten oft vermißt. 1947 durfte als Dank sogar noch der Abdruck von vier Gedichten gelten. Eines davon war dieses Lied. Was im Essay über die Dichterin mitgeteilt wurde, die Kemp „mit vollem Bedacht eine jüdische“ oder „besser noch… eine hebräische nannte“, das allein hätte ausgereicht, das Interesse des damals zwanzigjährigen, leidenschaftlichen Lesers für die ihm ganz Unbekannte zu wecken. Um so mehr, als dieser Leser gerade dabei war, staunend zu erkennen, daß die ab 1933 exilierte oder verfemte Literatur, die in der unvordenklich fernen Zeit des ersten Jahrhundertdrittels entstanden war, nach dem Untergang von Hitlers Reich noch immer den bedeutendsten Teil der Gegenwartsliteratur ausmachte.
Doch stärker als die Kunde vom Schicksal dieser Dichterin wirkte der so unverhoffte Klang der Verse. Zumal die Melodie des Liebesliedes berührte den Zwanzigjährigen so stark, daß er sie ein Leben lang im Ohr behielt. Nach Jahrzehnten dieser Melodie nachsinnend, begreift er, warum sie ihn damals wie ein Zauber berührte. Das hebt an mit der Unregelmäßigkeit der beiden ersten Versanfänge. Korrekt mit dem in neun der elf Zeilen dominierenden Metrum einsetzend, hätte das Gedicht beginnen müssen: Komm in der Nacht… Und ein ordentlicher Verseschmied hätte dann fortfahren können: Vom Wachen einsam… Aber selbst bei einem Eichendorff wäre danach die Musik durch das Klappern des geschlagenen Taktes bedroht worden. So aber hört man als erstes den Lockruf der Sehnsucht, der von weit her kommt. Denn die dunkle Frühe des Traums meint nicht nur die vergangene Nacht und den Beginn des Wachens.
Nicht im Wachen, sondern vom Wachen einsam: darum bleibt „einsam“ als einziges aller Wörter am Ende der Verszeilen ohne die Antwort des Reimes. Daß „Quellen“ das Echo „Immortellen“ hervorrufen, mag auch ein wenig auf Reimzwang beruhen. Aber wer von der Muse gesegnet ist, braucht solchen Zwang nicht zu fürchten, sondern darf sich ihm hingeben. Ihn braucht nicht zu irritieren, daß Immortellen zwar haltbare, aber strohige Blumen sind; er darf sich allein daran halten, daß sie, in Grabkränze geflochten, für die Hoffnung auf Unsterblichkeit stehen.
Der Traum, der hier durchs Lied beschworen wird, ist ewiger Märchentraum der Liebe und nicht von dieser Welt. Das geliebte Wesen der zeitlosen Stunde hinter der Welt trägt nicht einmal die Siebenmeilenstiefel des Märchens sondern Sternenschuhe; und keine Tarnkappe, sondern Liebe entzieht es den bösen Späherblicken. Wenn dieser Prinz von Dichters Gnaden kommt, werden die Truhen, auf denen der Staub der Jahre liegt, geöffnet für die Märchen, an die sonst keiner glaubt. Im mondenen Wunderreich solcher Nacht wäre Lieben nicht Ekstase und Erschöpfung, sondern die Ruhe des Paradieses vor dem Sündenfall. Die seltenen Tiere, die solchen Friedens teilhaftig werden, sind nicht Geschöpfe der Natur, sondern Wesen, wie sie der Freund Franz Marc, in jungen Jahren von Else Lasker-Schüler „goldblauer Reiter“ genannt, geschaffen hatte.

Eckhard Heftrichaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Neunzehnter Band, Insel Verlag, 1996

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00