SCHRITTE
Ich habe Schritte getan
ich habe Schritte unterlassen
ich habe das Unterlassen unterlassen
aus Bequemlichkeit bin ich fort und fort geschritten
wohin soll mich das führen.
Ich könnte mich auch liegenbleibend
was duftes Philosophisches fragen
(woher komm’ ich / wohin geh’ ich / warum bin ich ich)
und bei Haschisch und Sauerkohl
mein Leben beschließen.
Kein Fortschritt wenn ich mich gehen lasse
kein Rückschritt wenn ich mich liegen lasse
auf blaue Nebel fehlt mir der Appetit
ferne Ziele liegen mir fern
ich kokettiere nicht mit der Wahrheit
ich bin klein genug für den Größenwahn.
Ich übe mich im Spazierengehen
in den vernünftigen Grenzen
mal umsehen
mal Brillen wechseln
meine Schritte bilden ein Muster
mit der Zeit gehe ich genauer.
Der zierlichen Elfriede Gerstl ist das Glück ein Schwein, das ihr vom Herzen fällt. Was hat sie für ein großes Herz! Daß ihr ein Schwein davon herunterfallen kann.
Wenn’s unten liegt, ist’s eine Hundeblume, auf die die Hunde mit vier Pfoten treten, oder mit drei, wenn sie die vierte heben.
Diese herumkugelnde Kreatürlichkeit sammelt die Gerstl auf, und weil’s noch kein Gedicht ist, macht sie eins daraus.
Keine Levkoien treiben durch Gerstls Gedichte, keine Ozeane; die die Stürme peitschen. Hingegen wehn die Lüfterl, die Gerstl braucht kan Herzinfarkt, sie braucht kan Tripper, sie braucht nur eine Krankheit auf der Welt und die bist du.
Der landläufige Kritiker von Gerstls Gedichten kennt sich ebenso gar nicht mehr aus wie jene Person, die eine andere aus der ingroup sucht und nun argwöhnt, die könnte gar mit an fremden Menschen von der Gassen du weißt wie wir die alle hassen in a normales Lokal gegangen sein also nein also nein! – Wo bleibt da nur die Onomatopoesie? Wo bleiben Wohlklang, Wohllaut, Wohlvertrautheit und Wohlverhalten?
Die Wohlvertrautheit ist die des drop-outs, der den andern Außenseiter wiedererkennt. Der muß aber so bleiben wie er ist, damit die auf ein Minimum beschränkte Sicherheit sich nicht zur puren Unsicherheit verkehrt und sich so gegen den andern (die Autorin?) wendet. Und in diesem Rahmen verhält man sich wohl: man zeigt sich forsch oder pfiffig, um zu verheimlichen, daß man in Wirklichkeit traurig ist. Die ,Freaks‘ (in Berlin heißen sie ,Alternative‘) haben schließlich auch ihren Verhaltenskodex, der gilt, und der eine eigene Sprache hat. Es ist Wohlverhalten, sich nicht wohlzuverhalten, und die Sprache ist ein Jargon, ein Couplet, aus dem sich eigentlich nur ablesen läßt, daß „kein richtiges Leben im falschen (ist)“. Weder lautet sowas noch klingt es wohl.
Gerstls Gedichte sind im Wesentlichen Gedichte vom Versagen, das Trauer verursacht; dieses Versagen ist nicht gewertet, es ist ein Versagen vom Leben zum Tode hin; der alltäglich erfahrene Mißklang ist Gegenstand von Gerstls Gedicht: all die großen Ideale und die Versuche von Wittgenstein, Stirner oder Mauthner. sie zu destruieren, – was ist aus alle dem geworden?
Das Glück hat einen Schwanz, singt und sitzt auf einem hohen Baum – und ganz sicher flöge es, könnte man überhaupt so hoch hinaufklettern, – ätsch! – davon; ist es doch schließlich, wie uns das Gedicht auch noch sagt, ein Vogerl und als solches zoologisch dem Autor verwandt, dessen „Tun nicht als Arbeit angesehen wird, sondern als naturwüchsiges Singen wie der Vogel singt, das daher rechtens keiner Honorierung bedarf.“
Elfriede Gerstl lebt in gesicherter Unsicherheit. Tot müßt man sein, schreibt sie manchmal, aber sie steigt von der Mine nicht herunter, die dem Helden einer Erzählung von Boris Vian zu einem unerhört fulminanten Ende verhilft. Weg ist er. In die Luft gejagt. Nur noch die Literatur ist da. Das ist dann die reine Literatur, jene, die nicht mehr mit dem unreinen Körper des Autors besudelt ist. Und so dürfen die Kritiker und diejenigen, die’s unterlassen haben, für Gerstls Literatur was zu tun, weiterhin glauben, „das Überleben eines Autors (sei) für ein Zeichen mangelnder Radikalität zu halten“.
Viele – gerade österreichische – Autoren sind von der Vian’schen Mine heruntergestiegen, nachdem sie ihr literarisches Werk weit von sich geschleudert hatten: sie haben’s wenigstens posthum zur Ehre gebracht; die Namen der Toten dürfen heute Literaturpreise für (noch) Lebendige zieren. Die Arbeit einer lebenden Autorin aber in einem Masse zu unterschlagen, wie das der deutschsprachige Literaturbetrieb bei Elfriede Gerstl konsequent getan hat – zuletzt in einer bei Residenz erschienenen Bestandaufnahme – ist ein Skandal, dem ich nur ein Zitat aus Elias Canettis Aufzeichnungen entgegenhalten kann:
Ich frage mich, ob es unter denen, die ihr gemächliches, sicheres, schnurgerades akademisches Leben auf das eines Dichters bauen, der in Elend und Verzweiflung gelebt hat, einen gibt, der sich schämt.
Elfriede Czurda, Nachwort, August 1982
Ich glaube, daß es mit einer einzigen Ausnahme im deutschsprachigen Literaturbetrieb keinen wichtigen Autor gibt, der total unter seinem Wert gehandelt wird. Die Ausnahme ist eine Autorin, und sie heißt Elfriede Gerstl. „Die Arbeit einer Autorin in dem Maße zu unterschlagen, wie das der Literaturbetrieb bei Elfriede Gerstl getan hat“, heißt es in Czurdas Nachwort zu Gerstls neuem Buch wiener mischung, „ist ein Skandal“, und es fragt sich, was es denn mit diesem Skandal auf sich hat.
Seltsamerweise ist die Autorin davon kaum betroffen. Sie schleppt ihren Skandal zwar mit sich herum, aber ohne von ihm persönlich gekränkt zu sein. Sie gehört zu den wenigen Menschen, die in der Lage sind, auch die Objektivität ihres Schicksals zu verkörpern, ohne darin bloß subjektiv befangen zu sein. Das will keiner so leicht glauben, weil das erheiternde Klischee vom erfolglosen Literaten und von dessen ekelhaften Ressentiments zum Bestand des schon um ein wenig erfolgreicheren Feuilletonisten gehört, und, weil es dennoch oft genug zutrifft.
Andererseits ist auch die alte Kulturmarktstrategie, das wirkliche Geschäft wäre der Ladenhüter, für die Gerstl nicht zu brauchen. Ein bißchen kann sie einem sogar umgekehrt klar machen, wie wenig Wert es hat, wenn man gehandelt wird. In dem Gedicht „buchmesse“ der wiener mischung liest man:
herr buchhändler wie geht das unglück
diesen herbst herr buchhändler
danke danke
das unglück geht reißend ab.
In ihrer eigenen Geschichte gibt es viel Unglück. Die Nazis hat sie mit ihrer Mutter in einer Wiener Substandardwohnung versteckt überlebt. Was für ein Talent zur Camouflage: Die beiden sind beinahe ganz aus eigener Kraft der Deportation entronnen! Daraus, raten ihr Kollegen, ließe sich doch ein Roman machen: mindestens fünf- bis sechshundert Seiten. Aber worüber manche fünf- bis sechshundert Seiten machen, schreibt sie, nachzulesen im EMMA-Buch Das kleine Mädchen, das ich war, eben nur eine und eine halbe.
Es ist klar, damit haben wir die erste Ursache für den Skandal. Elfriede Gerstl ist eine Expertin für verstecktes Überleben. Das geht exakt bis in Details: Der nach ihren Angaben hergestellte Umschlag der wiener mischung präsentiert sich in einer Art Tarnfarbe, das Buch verblaßt in jeder Umgebung, und der Name „elfriede gerstl“ ist auf ihm kaum zu lesen.
Der Wunsch, den eigenen Namen zu verstecken, rührt aus ihrer völligen Unwilligkeit zur Konkurrenz. Alles, was andere tun, um eine „Position“ einzunehmen, tut sie, um keine einzunehmen. Sie verachtet die Konkurrenz und fürchtet zugleich, in die verächtliche Lage zu kommen, in der jemand mit ihr konkurrieren könnte. Viele, sagt sie, werden mir jetzt übel nehmen, daß das Buch herausgekommen ist, aber, fügt sie hinzu, manchmal muß ich doch auch publizieren.
Natürlich bringt die kokette Verkehrung des Konkurrenzprinzips nicht einmal die moralische Lösung eines Lebensproblems. Es ist selber eines und zeigt bloß, wie schwer es ist, eine Balance zwischen Nachgeben und Durchsetzen zu finden. Gerstls Haltung hemmt nur den Bürgerfleiß, und das hat Folgen: Die etablierten Verlage sind so großartig, daß sie mit einem schmalen Werk nichts anfangen können. Ihre Methoden greifen nicht, wenn das Verhältnis von Qualität und Quantität ausschließlich zugunsten der ersteren entschieden ist.
So war es nur logisch, daß Gerstls Bücher in der edition neue texte erschienen sind: Vor der wiener mischung schon der Roman Spielräume, eine eigenartige Verknüpfung von Ossi Wienerischen Perspektiven, Konrad Bayerscher Poesie und dem Gerstlschen Eigensinn. Das hat natürlich weder eine andere Autorin noch einen anderen Verlag daran hindern können, unter dem Titel Spielräume gleichfalls ein Produkt auf den Markt zu bringen. Ganz so, als wäre nichts gewesen.
Das Übergehen der Autorin hat eine beachtliche Geschichte. Sie beginnt in den fünfziger Jahren, wie das meiste an kultureller Repression, das überlebt hat und das bald wiederum verstärkt auf uns zukommen wird. Damals fand Konrad Bayer die schöne Formel auf den Konservativismus der Kulturfunktionäre: „die musterschüler von kalkvater grillparzer wohnen im gartenhäuschen“. Mittlerweile wohnen sie schon in ihren Villen und sind selber Väter verkalkter Söhne geworden.
Da sie aber damals auch noch alle sonstigen Positionen innehatten, hieß Schreiben für Gerstl auch, keine Hoffnung auf Publikationen haben. Erst 1962 erschien ihr erstes Buch, ein winziges Bändchen Gedichte unter dem bezeichnenden Titel Gesellschaftsspiele mit mir.
Unter diesen Umständen war Gerstls Hoffnungslosigkeit weniger eine Stimmung als eine Arbeitsweise. Deshalb war sie auch nie verbittert, sondern hat im Gegenteil eine eigene Art von Witz geprägt. In der wiener mischung gibt es eine Neujahrsansprache „Bussi bussi oder ein sylvester in wien“, bei der natürlich wichtige Mitglieder der Gesellschaft begrüßt werden. Das sind:
ein schmachtfetzen von unterhaltungschef
ein waschl von einem intendanten
ein wurschtel von einem kulturchef
ein wastl von oppositionsboß
ein wichtl von kolumnist
also eigentlich alle, denn der Rest, der hier fehlt, kommt einem sofort ungebeten ins Bewußtsein.
Muntere Hoffnungslosigkeit war schon immer die Lebensart unserer Intelligenz. Dazu kommt noch eine nicht zu brechende Souveränität im Geistigen und die gleichzeitige Lebensuntüchtigkeit, die sich freilich zu helfen weiß. Gerstls Hypochondrie ist in den Cafés, die sie frequentiert, weithin bekannt. Unbekannt ist nicht nur dort, wovon sie wirklich lebt. Sie lebt in gesicherter Unsicherheit, habe ich einmal geschrieben, um der Legende keinen Abbruch zu tun.
So ist die Gerstl selber eine Art Wiener Mischung. Mit dem Wienertum jedenfalls hängt der Skandal um ihre Existenz zusammen: Die Kalkväter hatten erst den Blick ganz aufs untergegangene Wien gelenkt. Den Prozeß des Untergehens zu verlängern, das waren sie schon der Tatsache ihres eigenen Fortlebens schuldig. Sie hatten zwar eine unbehagliche Ahnung davon, daß es auch ohne sie weitergehen würde, aber sie verabscheuten dafür umso mehr die „Modernen“, die ihnen die Erinnerungen an Schnitzler, an Polgar, an Kraus, an Friedell, an Musil, an Broch, an Hofmannsthal und an Altenberg zerstörten. Da schufen die Kalkväter mit Macht ein Milieu, in dem ausschließlich eine mehr oder minder strikte Nachahmung des Untergegangenen zum Erfolg führen sollte.
Diesem Milieu ist Elfriede Gerstl zum Opfer gefallen. Ihre Arbeiten, auch die hier noch nicht genannten, die Essays und die Hörspiele, die als Sprachspiele Gesellschaftsspiele sind, stehen der altösterreichischen Tradition sehr nahe. Aber sie ahmen sie nicht nach, sondern sie übersetzen sie in die Gegenwart. In den Gedichten und Prosastücken der wiener mischung kommt manchmal sogar vor, was uns von damals noch als Zuflucht geblieben ist:
das Lokal beherbergt
an Worten Würgende
oder gänzlich Sprachlose
die im schweren Rausch
nur still zusammenfallen
es sind die beliebten Stammgäste
die nicht schreien können
Das „Österreichische“ ist auch heute noch von ein paar Nachahmern monopolisiert. Tritt es außerhalb der historischen Ästhetik auf, dann wird es vom verzogenen Publikum kaum erkannt, und das ist der eigentliche Skandal um Gerstl: Was immer sie schreibt, die Früchte ihrer Arbeit haben andere schon vor ihr genossen.
Franz Schuh, Falter, 10.–23.12.1982
– Die Entdeckung der Lyrikerin Elfriede Gerstl. –
Wer spät abends in einem der Kaffeehäuser und Beiseln der Wiener Innenstadt sitzt, in denen „man/frau“ sich trifft, dem ist sie mit Garantie schon über den Weg gelaufen: die kleine, schmale Person mit dem ausdrucksvollen Gesicht, das Ärger und Zorn ebensowenig verbergen kann wie Freude und Begeisterung. Elfriede Gerstl gehört zu jener gar nicht kleinen Zahl von österreichischen Schriftstellern, denen der „Durchbruch“ – zumeist über den Salzburger Residenz-Verlag oder über den bundesrepublikanischen Literaturmarkt – nicht gelungen ist und die doch mit ihrer ganzen Existenz nichts anderes sein können als Poeten. Man kennt die Gerstl, man weiß: Sie schreibt – aber was sie eigentlich schreibt, ist kaum bekannt. Nur wenig liegt gedruckt vor, davon vieles in Zeitschriften und Anthologien verstreut, und Hörspiele sind, sosehr sie (zumal wenn deutsche Anstalten sie ausstrahlen) ihren Autoren ein Existenzminimum verschaffen, im literarischen Bewußtsein der Öffentlichkeit mit der Absage im Rundfunk verschwunden.
Nun kann man sich an Hand eines Bandes, der Gedichte und auch ein paar kurze Prosatexte aus den Jahren 1955 bis 1982 vereint, davon überzeugen, daß hier zweieinhalb Jahrzehnte eine Dichterin übersehen wurde, deren Bedeutung neben die der bekanntesten Namen der deutschen Gegenwartslyrik zu stellen ich keinen Moment zögere.
Der Band heißt wiener mischung, und so nennt man auch eine bestimmte bunte Zusammenstellung von Bonbons. Von den süßlichen Produkten, die der sehr viel populärere Versemacher aus einer großen Wiener Zuckerldynastie in rosa Seidenpapier verpackt, sind Gerstls Brocken freilich meilenweit entfernt. Das ist zum Lutschen ungeeignet. Da muß man schon beißen.
In einer Zeit, da viele meinen, es genüge, sein Seelenschmalz aus allen Poren triefen zu lassen, seine narzißtische Betroffenheit auszukotzen, sich in seinen Körper zu vertiefen und sich von innen heraus zu realisieren (oder wie derlei modische Sprüche alle heißen mögen), um Lyriker zu sein – und sprechen wir es offen aus: daran ist eine lautstarke restaurative Tendenz innerhalb der Frauenbewegung nicht ganz unschuldig –, erinnert Elfriede Gerstl daran, daß Gedichte mit Sprache zu tun haben. Sie greift nicht begierig nach den längst ausgedörrten Metaphern, die ein Inneres nach außen kehren sollen, sondern setzt Worte und Syntagmen nebeneinander, um aus deren Kombination eine Überwirklichkeit zu filtern, die nicht bloß abbildet.
Sprache und Realität berühren sich in Gerstls Texten im Wienerischen. Nur selten bedient sich die Autorin des längst ins Folkloristische verniedlichten Dialekts. Aber sie spart nicht mit farbigen, klangvollen Ausdrücken, Idiomen, Wendungen, die ihr ein deutscher Verlag wohl zum unersetzlichen Schaden der Texte herauslektoriert hätte.
Dabei geht es nicht bloß um lokales Kolorit. Diese Sprache ist vielmehr Bestandteil einer zugleich universell-urbanen und provinziell-wienerischen Phantasie-, Gedanken- und Real-Welt, deren verblüffende Strukturen Gerstls Gedichte immer wieder verfremden und sofort auch erst erkennbar machen. Diese Sprache ist das Produkt einer konkreten historischen und geographischen Situation, die sie aber ihrerseits mitgestaltet hat. Reminiszenzen an die sogenannte Wiener Gruppe, an ihre Protagonisten, ihre dichterischen Verfahren, ihren Lebensstil, ihre Mythen sind kein Zufall. In Gerstls Texten sind die Experimente der fünfziger Jahre im bekannten mehrfachen Sinne aufgehoben. Und darin mag der einzige Vorteil der Tatsache liegen, daß Elfriede Gerstl so lange auf diese Publikation warten mußte: daß der große Zeitraum, in dem die Texte entstanden, dem Leser Einblick gestattet in einen Prozeß, in dem entgegen der Auffassung von der Experimentalliteratur als einer selbständigen Gattung – Versuche (etwa mit Permutationen, Reibungen, phonetischen, semantischen oder graphischen Sprachspielen) zu Erkenntnissen führen, die in verschiedener Weise literarisch funktionalisiert werden können.
Zu entdecken ist eine Dichterin, deren Namen im Wiener Dialekt Gerstengrütze, das Arme-Leute-Essen der Nachkriegszeit, bedeutet, aber auch Geld. Das ist die Dialektik der Wiener Mischung. Da finde man sich zurecht. Mit Lutschen ist da nichts zu machen.
Thomas Rothschild, Frankfurter Rundschau, 15.1.1983
G. Kr.: Reizvolles Gemisch
Neue Zürcher Zeitung, 7.7.1983
Marie-Thérèse Kerschbaumer: Elfriede Gerstl: wiener mischung. text aus vielen jahren
Marie-Thérèse Kerschbaumer: Für mich hat Lesen etwas mit Fließen zu tun. Gedanken zum Lesen und Schreiben von Literatur, Wiener Frauenverlag, 1989
Im Roman Spielräume ist an einer Stelle von einer Art Wörterbuch die Rede, von einem Register, in dem einiges zu den Stichworten des Romans zu finden ist. Dieser Katalog – keineswegs auf Ordnung erpicht, wenngleich eine solche auch nicht eben gewaltsam vermeidend – heißt dort: Gerstl-Welt von A–Z. Die Idee, die Welt in der schönen Ordnung des Lexikons zu vertexten (Stichwort: → Okopenko), taucht auch im Gedicht „Unzuverlässig von A–Z“ wieder auf. Das hintersinnige Alphabet-Gedicht –
bitte ich Anna um ,Die Zeit‘
bekomme ich von ihr das Berliner Börsenblatt
Bertl sollte das Y meiner Schreibmaschine reparieren
er schenkt mir statt dessen Chinin von der letzten Grippekur
von Clara möchte ich die X-Beine sehen
sie zeigt mir aber nur das Weisse ihrer Augen und Zähne… –
führt durch die Tastatur links runter, rechts rauf – aber nur, um der schönen Unordnung der Wirklichkeit zu folgen. Im Prosaband Kleiderflug sind 26 poetische Photographien zu finden, die Herbert J. Wimmer von Gerstls Wohn-Chaos mit Fundstücken aufgenommen hat, sie heißen „alfabet des wohnens“. Deshalb gibts hier ein alphabetisches Porträt. Aber: Elfriede Gerstls Texte dröseln alle Scheinordnungen, wie das ABC eine ist, sofort wieder auf: kleine käfrige buchstaben krabbeln natürlich durcheinander. Die Liste ist daher nur eine List aus Not: Elfriede Gerstl läßt sich nicht verbuchen.
Alter: die Trostlosigkeit des Alters: auf seine eigenen (irgendwann mal geglaubten) Sätze vereidigt zu sein und sich nie mehr widersprechen wollen und dürfen
Berlin: hier lebte Elfriede Gerstl von 1963 bis 1970, verfaßte im Literarischen Colloquium gemeinsam mit 14 anderen Autoren den Gemeinschaftsroman Das Gästehaus (1965), gewann ihre eigenen Spielräume (1977), hatte das Verdienst, die ungebräuchliche Mengenbezeichnung 1 Alzerl populär gemacht zu haben und stieß auch auf ein deutsch-österreichischisches Kommunikationsproblem, was Ironie betrifft: man blieb verständnislos gegenüber importierter Dreideutigkeit.
Comic: (ich lese jeden Dienstag, obs schneit oder hagelt, die Micky Maus, ich schon): Komik liegt bei Gerstl in der Reduktion. Die großen Ideen – sinnier, sinnier – erstarren in der Bewegung und entlarven sich als durchsichtige Denkblasen ohne Schrift.
Dialekt, Diminutiv: Elfriede Gerstls regionale und grammatikalische Verkleinerungsstrategien. Kommen dem Pathos rhetorischer und (kultur- )politischer Größe mühelos bei, etwa in folgender Personenliste: ein waschel von intendanten / ein wurschtel von kulturchef / ein wastl von oppositionsboss / ein wichtl von kolumnist
Essay: eine Gattung, die sich weder auf alteingesessene Definitionen noch auf festverankerte Systematiken verpflichten läßt, ist Gerstls Stil höchst angemessen: statt der Direttissima die Schleife, der Umweg, das plötzliche Um-die-Ecke-Biegen. Im stehen und gehen wird das Schreiben zum Flanieren. Diese literarischen Gänge wirken zwanglos, unangestrengt; aber sie führen unversehens zu präzisen Durchblicken und tiefenscharfen Perspektiven.
Frauen: Hinter Gerstls → Essays zur Frauenarbeit und zur medizinischen Vergewaltigung der Patientin sollte man nicht mehr zurückfallen (sollte frau meinen). Hier finden Sie in Kürze alles Wissenswerte zur Abwertung von weiblicher Produktion und Reproduktion und zur Domestizierung der Frau; die Unübersichtlichkeit ihres Geschlechtsorgans provoziere Männer zur Herstellung flurbereinigter Weiblichkeit. – Gegen eine ungeniert veröffentlichte Weinerlichkeit als neue deutsche Frauenmode hat sich Gerstl, undogmatisch auch hier, allerdings entschieden verwahrt.
Grösse: Elfriede Gerstl mißt 1.54 m. Früh weigerte sie sich, zu einer verwendbaren Größe zu werden: und deswegen soll ich groß und stark werden, und wenn ich nicht mag, wenn ich lieber klein und schwach bleib, damit ich an keinen Schreibtisch passe… Im satirischen Understatement ist sie groß.
Hörspiel: In Gerstls Hörspielen (Berechtigte Fragen, 1973) geht es ums Paradox: die Mündigkeit des Hörers. Über Funk protestierten sie gegen die autoritäre Einweg-Kommunikation (horch ins ORFloch… horch doch / gehorch doch).
Ismen: Gerstls bevorzugte Satireobjekte. Kein dogmatisches (wissenschaftliches, philosophisches) System ist vor ihr sicher. Die große Theorie findet sich auf einem unteren Level wieder, meistens auf einem gastronomischen:
Ein Germane mahnt
du ißt zuviel Ismen
Ismen und Istik
machen dick
iß Germanistik
Jandler: von Elfriede Gerstl erfundene poetische Gattung; liebevolle Hommage, aber auch ironische Überbietung aller wiedergekäuten Stile (z.B. „Pansen-Kafka“, Andreas → Okopenko):
EIN JANDLER
angsten
in fremder stadt
aaaaaanachts
vor erbrechen
kranken blindendarmen
einen gliederschütteln
aaaaaaeinen herzenfrost
nie mehr heimenkommen
in amsterdammen (zb.)
den platzen gefunden
für enden
Kunst: auch Antikunst, Aktionskunst: schön stell ich mir auch eine Berliner Mauerbau-Aktion in dieser Form vor: / ein paar tausend Leute, sagen wir Studenten, sich, sagen wir, „wirklichen“ Baustellen und Ziegelschupfketten anschließend, bilden riesige durch alle Stadtteile sich ziehende Schupflinien. und das vielleicht so lange, bis die wichtigsten öffentlichen Gebäude abgetragen und ihre Ziegel in andere Bezirke verschupft sind – auf diese Weise könnte man bei Elfriede Gerstl schupfend Künstler werden. Poetologisches Programm der Gerstlschen Schupfkunst: Die Bestandteile der wichtigtuerischen öffentlichen Diskurse werden demontiert und in andere Sprachbezirke versetzt, wo sie sich so absurd ausnehmen wie Gulliver in Lilliput.
Lesen: Der Leser zieht aus der Literatur den Nutzen, der ihm gemäß ist und zu dem er imstande ist. – Ein ungewohnt strenger Satz, nämlich das Fazit einer Diskussion über die Wirksamkeit von Literatur. Als Leserin war Elfriede Gerstl zu vielem imstande, vor allem zu einer kongenialen Antwort auf die Lektüre, man vergleiche ihre → Essays zu H.C. Artmann, Konrad Bayer, Walter Buchebner, Hertha Kräftner, Otto Laaber, Andreas → Okopenko.
Mode: Larmoyanz über das Diktat der Bekleidungsindustrie, die Zurichtung des weiblichen Körpers und dessen erbarmungslose Veralterung durch modische Zyklen ist von Gerstl nicht zu erwarten. Statt dessen votiert die passionierte Kleider-Sammlerin für den Luxus, sich den Umgang mit dem bekleidungsmenu als semiotisches Spiel zu gestatten. Flugs (Kleiderflug, 1995) reichert sich ihr Zeichensystem Mode mit dem an, was die Modekonjunktur eben verschwinden lassen will, Zeit und Geschichte: Sechs jahrzehnte zeigen sich in kleidern. Im anachronistischen Aufheben und Sammeln, im pfiffigen Zitieren und Kombinieren versteckt sich außerdem ein poetischer Grundsatz (→ Text, Textilien).
Natur: eine gespannte Beziehung (die fraumutter natur und ich / wir haben ein distanziertes Verhältnis). Der propagierten Güte will Gerstl einfach nicht trauen (da hats doch mal Leute gegeben, so kontemplative Romantikhaserls, die geglaubt haben, Natur wär was rundes Ruhiges, wo man seine Hängematte reinhängen kann). Sie besteht konsequent auf Umweltschutz als Selbstschutz.
Okopenko, Andreas: sein Lexikon Roman gehört zu den Texten, auf die Elfriede Gerstl schreibend antwortet (vgl. dort das Stichwort Komposition: Hiermit bestätige ich, daß auch dieser Roman eine Ordnung hat). Solche Dialoge führte Gerstl beispielsweise auch mit Konrad Bayers der sechste sinn und mit Oswald Wieners die verbesserung von mitteleuropa, wie überhaupt mit der Arbeit der Wiener Gruppe, deren Konzeptionen bei Gerstl vielfach reflektiert werden, wenn auch nicht ungebrochen. Gegen die narzißtischen und solipsistischen Exzesse der Gruppe war bei ihr das Kraut der selbstironischen Inkonsequenz gewachsen (verzeih ossi, ich hab es vielleicht nicht so gemeint, vielleicht ist alles alles, ganz ganz, anders anders).
Parenthesen: wie Dialekt und Diminutiv häufig gebrauchtes Verfahren der Reduktion. Was bei Gerstl in Klammern steht, wäre anderswo ein Buch. Eingeklammert wird antithetisch, fragend ([bitte???]), zitierend oder relativierend: wahrlich ich sage euch, ihr seid rechte Trotteln und Trampeln, (oder doch so ähnlich) sprach einst der berühmte jüdische Sozialrevolutionär (oder doch so ähnlich) zu tauben Ohren, sehet die Hippies auf den Feldern (oder doch so ähnlich)
Quantität, Qualität: Die Qualität von Literatur kann nicht ausschließlich an der Zahl ihrer Leser gemessen werden, es kann kein Kriterium der Quantität für ihre Förderungswürdigkeit geben. Auch über das vertrackte Verhältnis Autor – (österreichischer) Staat und die Tücken der Literaturförderung ist in Gerstls → Essays alles Nötige nachzulesen.
Reime, automatisch einverstandene Verse, sind bei Gerstl selten; wenn sie kommen, dann mit Wucht und Widerstand: esse ich speed / werd ich nicht mied. Ihr Gleichklang mischt Politisches und Privates (auf):
aktueller geschlechterkampf
hörns madam
i bin net da saddam
ich nehme sie nicht ein
wanns wolln
führ ich sie heim
zu meiner sag ich – gusch
ich bin dein bush…
Sprachspiel: Gerstls hintersinnige Praxis zu Wittgensteins Tractatus hat nicht nur den Witz und Kalauer auf ihrer Seite, sondern erklärt auch ihre poetische Ökonomie: alles was man sagen kann, muß schließlich nicht gesagt werden. Wittgensteins asketisches Schweigegebot hält Gerstl zwar für plausibel, annehmbar und beherzigenswert, es verwandelt sich ihr aber unter der Hand in ein Lustprinzip: wenn ich Lust habe, kann ich mir heute den Gebrauch der Landes-(Mutti-)sprache versagen
Texte, Textilien: (Kleider-)Sammeln und Schreiben verhalten sich bei Gerstl analog. In den Schichtungen, Ablagerungen (1989), Verwerfungen des Angesammelten entsteht ein poetisches Stratum, der Stoff, und das Textile wird zum Text: der fundus wächst planvoll und chaotisch / einiges wird eliminiert – neues findet sich / es wächst wie ein text wächst / literatur und sammeln entspringt einem mangel / irgendeinem mangel trotzig die fülle entgegensetzen
Übersetzung: Zum Glück sind ausgerechnet die Reisegedichte Vor der Ankunft in drei Sprachen übertragen worden, und das mitunter hinreißend (ein ganz normaler zweitgenesse = an ordinary secontemporary). Allerdings – Lokalitäten lassen sich nicht transportieren:
ratschläge für einen literaten
in wien fall hin
nach berlin kannst ziehn
nach bogota alser toter
faulenz in florenz
in prag tag
in paris an gstiess
in rom
aaasuch den stefansdom
in den abruzzen
aaaaaakauf stuzzen
lieb in leoben
fozen in bozen
hab an lebenswandl
aaaaaaim alpenlandl
und dicht
aaaaaaüberhaupt nicht
Keiner Übersetzung gelingt es, den Stefansdom in Rom zu suchen bzw. zu finden: in rome / see the dome – ja warum nicht? Oder: a Roma / cerca un altro aroma – das will ja gerade der nicht, der dort den Stefansdom sucht. Auf französisch taucht überhaupt das unsittliche Gegenteil auf: à rome / cherche sodome. Ein Wiener Wahrzeichen, ebenso typisch wie die Stefanskirche, ist nämlich bei Gerstl der Stumpfsinn des Einheimischen als Touristen, der anderswo sucht, was er schon kennt (das ist aber fein, wenn in der Fremde alles so ist wie zu Hause). Aber dieses Eigene im Fremden, das Idiotische des Touristen, macht andererseits die unverwechselbare Idiomatik des Gedichts und die crux jedes Übersetzers aus. Gerstls lokaler Eigensinn gehört dialektisch zu ihrem ambulatorischen Schreiben: es ist wohl nur an einem Ort möglich (→ Wien).
Vogel, Vögeln: Seltene Vögel gibt es bei Gerstl genug, beispielsweise die Tabakvögel (kommen in Kaffeehäusern vor, sind meist kurzsichtig, lesen vieles im trüben Lampenlicht auf, brüten in Peluches und Velour). Vor einer psychoanalytischen Deutung ihrer Texte wird aber gewarnt; dazu sind sie zu vögelfrei (aus einer Spruchsammlung in 13 Paragraphen: 5. wenn zwei vögeln freut sich der dritte; 6. er kann nicht bis drei vögeln; 7. von zeit zu zeit seh ich den alten gern / vögeln).
Wien, Wohnen: dieses wurstfleckerlförmige wien, das daliegt wie ein vergessener kaiserschmarrn, ist dort, wo es bizarr und kleinformatig genug ist, das unverkennbare Ambiente, der rechte Topos von Gerstls Texten, das heißt: das Gegenteil von bodenständiger Folklore (wiener mischung, 1988). Heimat denkt sich Gerstl dialektisch: ein neues ambulantes Wohnen, schreibt sie, könnte das feindliche Begriffspaar Heimat – Fremde zum Verschwinden bringen. Das wohnen – und das schreiben – im stehen und gehen macht noch aus dem bornierten Kitsch-Wien einen poetischen Ort:
Schosskind Europas
der Balkan küsst dir
aaaaaaaaaaaaaaain vielen Sprachen
aaaaaaaaaaaaaaa(z.B.)
aaaaaaaaaaaaaaadie Hand
und Y-Chromosom: nicht in den Sternen aber in den Genen stehts geschrieben ob man der Herrenklasse der Penisbesitzenden oder der Domestikenklasse der Besitzlosen angehören wird (→ Frauen).
Zeit: Elfriede Gerstl ist am 16. Juni 1932 geboren, man glaubt es nicht. Ihre Texte werden auch nicht älter. Sie sind jedenfalls sehr viel jünger als die jeweils letzte literarische → Mode. Das kommt daher, weil ihre Zeit-Raum-Koordinaten nicht unbedingt sicher sind –
draußen wird Zeit vorbeigezogen
die Armbanduhr wird gleich Prag schlagen
(hier hat die Zeit gerade wieder braune Blätter)
(kommt Ort kommt Rat)
– und weil sie sich auch sonst nicht festlegen lassen (→ Alter).
Andreas Okopenko, Wespennest, Heft 106, 1997
Ich verlange, dass die Werke Elfriede Gerstls die nächsten hundert Jahre (und noch viel länger) gelesen werden. Das ist eine Stimme in der österreichischen Literatur, die nie verstummen darf (obwohl oder gerade weil die Nazis sich viel Mühe damit gegeben haben, sie als Person verschwinden, auslöschen zu lassen). Diese gellende Leichtigkeit, diese zarten, aber durchdringend leisen Gedanken (ihre Essays sind immer noch viel zu wenig bekannt) dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Ja, das fordere ich. So wie diese Literatur einen fordert, doch ohne dass man es allzu deutlich merkt, denn da schreit niemand Hier!, Elfriede Gerstl schon gar nicht, es ist aber alles da.
Elfriede Gerstl aufgefrischt von Peter Clar, Anna-Lena Obermoser und Herbert J. Wimmer am 8.3.2022 in der Alten Schmiede Wien
Laudatio gehalten am 28.11.1999 anläßlich der Verleihung des Erich-Fried-Preises an Elfriede Gerstl.
Laudatio zum Georg Trakl-Preis 1999 an Elfriede Gerstl.
Daniel Hadler: Erinnern an die „Untertreibungskünstlerin“
Kleine Zeitung, 9.4.2019
Sabine Scholl: Flüchtig, vorläufig, schwer zu fassen
Die Furche, 24.5.2022
Sabine Scholl: Existieren unter prekären Bedingungen: Im Gedenken an Elfriede Gerstl
Der Standart, 30.5.2022
Agnes Heginger performt einen Text von Elfriede Gerstl während OUT OF THE BLUE im Klangturm St. Pölten am 1.10.2011.
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