Elisabeth Borchers: Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Elisabeth Borchers: Gedichte

Borchers-Gedichte

EIA WASSER REGNET SCHLAF

I
eia wasser regnet schlaf
eia abend schwimmt ins gras
wer zum wasser geht wird schlaf
wer zum abend kommt wird gras
weißes wasser grüner schlaf
großer abend kleines gras
es kommt es kommt
ein fremder

II
was sollen wir mit dem ertrunkenen matrosen tun?
wir ziehen ihm die stiefel aus
wir ziehen ihm die weste aus
und legen ihn ins gras

aaamein kind im fluß ist’s dunkel
aaamein kind im fluß ist’s naß

was sollen wir mit dem ertrunkenen matrosen tun?
aaawir ziehen ihm das wasser an
aaawir ziehen ihm den abend an
aaaund tragen ihn zurück

aaaaaamein kind du mußt nicht weinen
aaaaaamein kind das ist nur schlaf

was sollen wir mit dem ertrunkenen matrosen tun?
aaawir singen ihm das wasserlied
aaawir sprechen ihm das grasgebet
aaadann will er gern zurück

III
es geht es geht
ein fremder
ins große gras den kleinen abend
im weißen schlaf das grüne naß
und geht zum gras und wird ein abend
und kommt zum schlaf und wird ein naß
eia schwimmt ins gras der abend
eia regnet’s wasserschlaf

 

 

 

Nachbemerkung

Als wir den Inhalt dieses Buches besprachen, wehrte sich Elisabeth Borchers zunächst gegen die Reihenfolge der Gedichte, wie sie jetzt vorliegt: in keinem Fall wollte sie, daß diese Auswahl mit dem Gedicht „eia wasser regnet schlaf“ beginnt. Natürlich, dieses Gedicht hat den Namen seiner Autorin einmal fast zu einem Marken-Namen gemacht; jahrelang umgab es sie mit der Aura des Skandals, den es seinerzeit ausgelöst hatte, 1960, als es auf der Feuilleton-Seite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum ersten Mal erschien. Wer den Vorgang damals verfolgt hat, wird sich erinnern, wie sich über Wochen der Krieg der Leser-Briefe hinzog, wie sich Wut und Bewunderung zu einer Reaktion vermischten, deren Ausmaß niemand erwarten konnte, der professionellen Umgang mit Gedichten hatte, und das heißt, der mit der Wirkungslosigkeit des Gedichte-Schreibens vertraut war. Dieses Gedicht, dieser sanft surrealistische Kinder-Sing-Sang, schien dagegen zu beweisen, daß mit einigen ungewöhnlichen Bildern und mit unkonventionellem Satzbau durchaus die Stummheit von Lesern zu unterbrechen sei. Elisabeth Borchers entzog sich der Auseinandersetzung nicht; in ihrer berühmt gewordenen Replik kündigte sie freilich zugleich an, sie werde sich jetzt wieder zurückziehen. Und eine zeitlang sah es ja auch so aus.
Wenn dieses Gedicht, mit Zustimmung schließlich der Autorin, jetzt am Anfang des Buches steht, dann alleine aus chronologischem Grund. Es steht auch am Anfang ihres ersten, 1961 im Luchterhand-Verlag erschienenen Gedichtbuches. Das zweite kam erst sechs Jahre später heraus, 1967; und dieses ist nun das dritte: eine Sammlung, deren erster und zweiter Teil eine Auswahl aus den beiden Publikationen gedichte und Der Tisch an dem wir sitzen darstellt; deren dritter Teil zeigt, daß und wie Elisabeth Borchers weiter geschrieben hat.
In gewisser Weise hat sie auch an ihren alten Arbeiten weitergeschrieben. Das zeigte sich an der Art, wie sie auf die Auswahl ihrer Gedichte reagierte, wie sie mit Kommentar und Kritik diesen Vorgang begleitete. Einerseits ist ja ein Gedicht ein abgeschlossenes Produkt, versehen mit Erfahrungen und Einsichten, die unwiederholbar sind und damit auch das Gedicht den Risiken aussetzen, die das Zeitvergehen mit sich bringt: es altert und wird altmodisch, oder es bewahrt seine Aktualität; es wird vergessen, oder es wird wiederentdeckt. Andererseits enthält ein Gedicht so viel an Sprache, wie dem Autor beim Schreiben des Gedichtes zur Verfügung stand, und das heißt auch, daß in dem Maße, wie sich das sprachliche Repertoire eines Autors verändert und erneuert, wie er es kritisiert und korrigiert, auch sein Gedicht sich verändern und erneuern, kritisieren und korrigieren lassen kann. Die Kenner der Gedichte von Elisabeth Borchers werden feststellen, wo sich in dieser Auswahl ein Wortlaut geändert hat, wo Striche und Korrekturen die Spuren einer Arbeit zeigen, die im Grunde nie aufgehört hat. Ich habe dabei gelernt, daß die Konfrontation eines Autors mit seinem Gedicht den schöpferischen Vorgang erneuern kann, der einmal zu einem Gedicht geführt hat, und ich kann mir jetzt eine ganze Anthologie mit Gedichten vorstellen, die aus einer solchen Konfrontation, aus einer Forderung an den Autor, bestimmte Gedichte seiner abgeschlossenen Produktion unter dem Aspekt der Veränderbarkeit zu lesen, entstanden ist. Das moderne Gedicht wird vielleicht auch einmal nach den Generationen beurteilt werden, die es geschrieben haben; nach den Möglichkeiten, die einer Generation zur Verfügung standen, nach dem Stand ihres Bewußtseins, nach ihren Erkenntnissen und Irrtümern. In welcher Sprache eine Generation schrieb, das erklärt die Sprache einer Zeit mit und die Reaktionen der Poesie darauf. Wörterverzeichnisse ließen sich anlegen, die bestimmte Entwicklungsphasen der Poesie spiegelten; und an den Wörtern, die Elisabeth Borchers zum Beispiel in den sechziger Jahren verwendete, ließe sich erkennen, daß es einen Trend zum Fliehen gab, zur Flucht in Spiel- und Märchenräume, ins Versteck der Bilder und Träume. Ein sehr bewußter Trend war das; keine Mystifikationen, sondern kühl kalkulierte, experimentelle Schritte bestimmten den Weg, den Aufenthalt im Paradies der Metaphern. Vielleicht lassen unsere Erfahrungen heute diese poetische Sprache nicht mehr zu; in jedem Fall ist diese Phase, in der ein utopischer Impuls Spiel- und Märchenformen erfinden ließ, abgeschlossen. Elisabeth Borchers hätte damit ihre Poesie auf sich beruhen lassen können.
Wenn man sie, in den vergangenen Jahren, nach neuen Gedichten fragte, wich sie aus. Ihre maßlos intensive verlegerische Arbeit schien die eigene Praxis zu verdrängen, zu ersetzen. Man weiß, wie erfolgreich sie arbeitet, mit ihren Übersetzungen, mit ihren Editionen, deren Gegenstand weiter Träume und Märchen sind. Aber daß sich ihre Kreativität darin nicht erschöpfen wollte, weiß man jetzt auch, wenn man ihre neuen Gedichte liest. Der Untergrund ihres poetischen Bewußtseins hat keine Ruhe gelassen; das Ich dieser Frau hat sich im beruflichen Alltag nicht einebnen lassen von den Bedingungen dieses Alltags. Dieses Ich hat in den Gedichten der letzten Jahre vielleicht erst seine Sprache gefunden, und zwar außerhalb der Spiele und Märchen. „Ich werde so naß wie noch nie“: da ist sie plötzlich, die reale Person. „Zwischen uns die kleinen langsamen Gespenster“: da lesen wir von den Erfahrungen mit den Menschen. „Die winzigen Lichter am Hochhaus, das Grollen des Flugzeugs“: da hören wir Fragen nach der Realität der Poesie. Es ist ganz deutlich im Zusammenhang: eine Lyrikerin hat sich mit ihrer sprachlichen Vergangenheit auseinandergesetzt, und sie hat diese Vergangenheit, indem sie die Formulierung dieser Vergangenheit rekapituliert, beendet. Zugleich teilt sie mit, wie das Ich dabei freigekommen ist, wie es Wörter für seine Erfahrungen gesucht hat. Der Vorgang ist beispielhaft, wie alles, was in der Poesie uns vorgelebt wird.

Jürgen Becker, Nachwort

 

Ein „Experiment mit der Tradition“,

so wurde die Lyrik der Elisabeth Borchers genannt, als 1961 und 1967 ihre beiden Gedichtbände gedichte und Der Tisch an dem wir sitzen erschienen. Damit waren zwei Punkte genannt, zwischen denen sich eine eigenständige Sinn- und Formenwelt der deutschen Gegenwartsliteratur festmachte. Ihre Worte nahmen diese Gedichte gleichermaßen aus der vertrauten Sphäre von Märchen- und Kinderwelt, wie aus der handfesten Wirklichkeit von Situationen: behutsame Verbindungen und Konstellationen, deren preisgegebene Ratlosigkeit betrifft. Die neuen Gedichte, aus der letzten Zeit, vermitteln neue Erfahrungen, mit neuen Wörtern eines verletzbaren, eines widerstandsfähigen Lebens, benennen Irritation und die weitergegangene Zeit.

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2018

 

Es ist ausgeträumt

Elisabeth Borchers hat nicht viele Gedichte geschrieben, seit sie 1960 durch das in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichte maßvoll surrealistische Kinderlied „eia Wasser regnet schlaf“ maßloses Aufsehen bei den Lesern hervorrief.
1961 erschien der erste Lyrikband mit dem Titel Gedichte. Erst sechs Jahre später, 1967, folgte der zweite Band: Der Tisch an dem wir sitzen. Der vorliegende, von Jürgen Becker zusammengestellte Auswahlband umfaßt in zwei Abteilungen wiederum Verse aus den beiden früheren Publikationen. Die dritte Abteilung, immerhin, enthält vierzig „Neue Gedichte“.
Das macht diesen Band interessant. Nicht nur vermag er den Namen der Autorin im Gedächtnis der Leser neu zu befestigen. Man bekommt auch Gelegenheit, das Beste aus der früheren Produktion Elisabeth Borchers’ mit ihren neuen Versen zu vergleichen.
Kaum noch ist nachzuvollziehen, wieso „eia Wasser regnet schlaf“ einst zum Skandalerfolg wurde. Der schon damals jahrzehntealte lyrische Modernismus, mit dem verglichen das Gedicht eine eher zahme, deutsch-romantische Liedvariante darstellt, mußte dem Bewußtsein der Zeitungsleser gänzlich abhanden gekommen sein. Anders läßt sich jene Erregung nicht erklären.
Statt Provokation empfindet man beim Wiederlesen der Verse heute eher distanzierte Bewunderung vor dem literarischen Geschick, mit dem der kindlich-magische Ton getroffen worden ist. Ein Akt virtuoser Mimikry liegt vor, der sozusagen humorvolles Einverständnis des Lesers mit der Täuschung geradezu zu seiner Voraussetzung hat. Elisabeth Borchers’ frühe liedhafte Verse mit ihren Dunkelheiten, ihren Sprüngen und Bizarrerien sind nichts für überernste Leute. Auch und gerade was sich als ernst hier präsentiert, ist zunächst einmal poetisches Spiel. Dieses will genossen, dann erst verstanden sein, und wenn es nicht völlig verstanden wird – um so besser. Das jedenfalls ist der Standpunkt dieser Art Poetik, ob sie einem paßt oder nicht.
Nicht zufällig beschwört Elisabeth Borchers die Erinnerung an zwei Maler, denen sie sich offenbar wesensverwandt fühlt: Chagall und Klee. Den Geist von deren märchenhaften Bildern hat sie sprachlich sehr reizvoll nachempfunden. Das Klee-Gedicht zählt bereits zu den „Neuen Gedichten“ – woraus hervorgeht, daß das phantastisch-poetische Moment aus der späteren Lyrik der Borchers nicht verschwunden ist. Auch die verfremdende Stilisierung ihrer eigenen Befindlichkeiten in kindliche Gemütszustände findet sich partiell noch immer: Das letzte Gedicht des Bandes spricht von der „Angst, die ein Kind hat“: es ist eben die Kinderangst, die schon in dem Eingangsgedicht von dem „ertrunkenen matrosen“ zugleich erzeugt und vertrieben worden war.
In vielen der „Lieder“ bevorzugt E. Borchers eine kombinatorische Technik. Sie bildet syntaktische Reihen, vertauscht Wörter, erzeugt kreisähnliche Vorstellungsstrukturen. Andere Gedichte sind stärker aus der Metaphorik entwickelt. Sie sind konservativ in der sprachlichen Fügung, aber kühn in der Bildlogik. Die Suggestivität der poetischen Aussage kommt hier nicht aus der „Oberfläche“, sondern aus der „Tiefe“. Die Verse mit den Titeln „Sommeranfang“ und „Verlassene Stadt“ sind eindrucksvolle Beispiele für dieses Verfahren. In wenigen Zeilen wird eine ganze Phantasiewelt, ein Universum im kleinen aufgebaut. Ein dramatisch-pathetischer Zug geht zugleich durch die Bilder, ohne daß sie ihre lapidare Dichtigkeit verlören. „Hochzeit“ hat in der herben, auf einen Widerspruch abzielenden Konzentration etwas von einem metaphorischen Epigramm; „Wiederholung“ besitzt die Verhaltenheit chinesischer Kurzgedichte, die die Reflexion ganz ins Bildliche versenken.
Diese Verknappung und Vereinfachung des Ausdrucks nehmen in der zweiten Versabteilung spürbar zu, sie weisen damit auf bestimmte, nicht radikale, aber einigermaßen einschneidende Veränderungen des Stils und der Haltung in den „Neuen Gedichten“.
Was in diesen nicht nur dem Datum, sondern auch der Sache nach „neu“ ist, kann man vielleicht am besten dem Gedicht „Begegnung“ entnehmen:

Manchmal wird es immer kälter
und höchste Zeit, das Wichtigste zu lernen.
Auch bei W.C. Williams,
Armenarzt im Staate New Jersey,
ein ganzes Leben lang.

Als ich ihm das letzte Mal begegnete,
sagte er: Es ist ausgeträumt.
Ich notierte es. Eine Redewendung,
die mir brauchbar erscheint.

Das programmatische Diktum „Es ist ausgeträumt“ fällt in einer sprachlichen Umgebung, die zeigt, daß mit seinem Inhalt offenbar Ernst gemacht werden soll: realistische Benennung von Person und Ort, Stil „epischer“ Berichterstattung, Verzicht auf Spiel und Traum. Elisabeth Borchers macht Anstalten, ihren neuen Vers statt aus der „Magie“ romantisierender Lyrik aus der „Prosa“ unserer Wirklichkeit und unseres gewöhnlichen Sprechens zu destillieren.
Sie ist deshalb noch nicht zur Brechtianerin geworden. Das dem großen dialektischen Materialisten der modernen Lyrik gewidmete Gedicht „Die Kammer des toten Brecht“ läßt bezeichnende Reserve erkennen.
Elisabeth Borchers möchte auf ihre Weise, und auf für sie neue Weise, Realität ins Auge fassen. Sie kokettiert nicht mehr wie einst mit dem archaisch-magischen „wasserschlaf“. Jetzt sucht sie die mechanischen „Abläufe“ des modernen Lebens dichterisch nachzuzeichnen, die dem Individuum „Kein Abschweifen durch Wahrnehmung“ mehr gestatten und es in kalte Eindimensionalität zwingen. Sozialkritisches wird, noch etwas konventionell, in den Blick gefaßt (vgl. „H., einer von vielen“) Der skeptische, spröde Zug, der auf dem Grund dieser Lyrik insgeheim immer schon vorhanden war, tritt hervor. Elisabeth Borchers würdigt neue, gefährlichere „Gespenster“, die „kleinen, langsamen“ des realen Alltags („Das Begräbnis in Bollschweil“).
Mit dem nicht häufigen Mut zur Selbstüberwindung hat die renommierte Avantgardistin des surrealen Gedichts sich auf den langen Weg zu wahrhafter Zeitgenossenschaft gemacht. Vom Ausgang dieses literarischen Experiments wird man hoffentlich nicht erst nach einem weiterer Dezennium des Schweigens Kunde erhalten.

Franz Norbert Mennemeier, 1977, aus Franz Norbert Mennemeier: Spiegelungen. Literaturkritik 1998–1958. 40 Jahre Neues Rheinland. Rhein・Eifel・Mosel-Verlag, 1998

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Karl Krolow: Singsang und nackte Fakten
Der Tagesspiegel, 26. 9. 1976

Jürgen P. Wallmann: „Ein bißchen verzweifeln“
Rheinischer Merkur, 28. 1. 1977

 

 

WENN DER STEIN LIEST
für Elisabeth Borchers

Sie liest:
Moosvater
Achateinlagerung
Aufgebrochenes Sandkorn

Reiben an breitem Strand
Absprengen von Jahren
Daseinsjahrhunderten

Aufrauhen der anhaftenden Prägung

Nora Gomringer

 

 

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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Elisabeth Borchers

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