Elisabeth Borchers: Wer lebt

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Elisabeth Borchers: Wer lebt

Borchers-Wer lebt

DIE VIELEN BÜCHER

und ist ein langes Wort,
sagt Danton.
Da warteten sie.

aaaaaDiese vielen Bücher, denke ich.
aaaaaHeine und Benn
aaaaaund Brecht.
aaaaaDie vielen zuvor.
daaaaDie vielen danach.
aaaaaVerweilen, Lieben,
aaaaaVergessen.

Und das Leben,
sagt Danton.
Da mußte er sterben.

aaaaaIch sehe die weite Landschaft und
aaaaadas die Wärme
aaaaaund Kälte umfassende Haus.

 

 

 

Inhalt

„Ein Dichter“, schreibt Paul Valéry, „hat nicht die Aufgabe, den dichterischen Zustand zu empfinden; dies ist eine Privatangelegenheit. Er hat die Aufgabe, ihn bei anderen zu schaffen. Man erkennt den Dichter an der einfachen Tatsache, daß er den Leser in einen ,Inspirierten‘ verwandelt.“ Und das Gedicht, das dies vermag, kommt nicht mit Pauken und Trompeten daher, kann nicht – es muß leise sein und dennoch eindringlich, still und dennoch intensiv. Es muß, im poetischen Sinne, „wahr“ sein und damit einfach. Es muß „Einfache Dinge“ sagen:

Einerlei geh ich Zweierlei seh ich Dreierlei leb ich
Viererlei freut mich am Tage
Einerlei sag ich nicht
Zweierlei trag ich nicht
Dreierlei hab ich nicht
Viererlei schreckt mich Zu Tode.

Elisabeth Borchers, von der hier, nach vielen Jahren, wieder ein neuer Gedichtband vorliegt, hat die Gabe, die Valéry beschreibt: mit wenigen Zeilen den dichterischen Zustand zu schaffen. In jedem ihrer Gedichte öffnet sich eine andere, eine neue Welt, in die man, von leichter Hand geführt, eintritt – staunend, erkennend. Das Schwere und das Schwerelose, das Schmerzliche und das Freudige. Das, was ist im Augenblick des Lebens.

Suhrkamp Verlag, Ankündigung

 

Elisabeth Borchers: Wer lebt

Elisabeth Borchers (1926) schreibt nicht viel Gedichte, aber man ist dankbar für jeden Band, der von ihrer Hand erscheint. Wie oft wird man das sagen können? Der jetzt vorliegende ist in sechs Abschnitte aufgeteilt, deren Titel etwas über den gemischten Inhalt aussagen: Notizen auf dem Lande; Machen wir uns einen Reim; Kondolationen; Von anderen bedenklichen Anlässen; Vom Öffnen des Fensters; Wer lebt.
Als programmatisch läßt sich das Gedicht „Ich betrete nicht“ bezeichnen:

ICH BETRETE NICHT den Festsaal der Sätze
die Gemächer der vor Grazie
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaasich biegenden Nebensätze
die würdigen Hügel des Partizips.
Ich überlasse mich nicht
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaden geschmeidigen Perioden
dem rauschhaften Absturz
den komödiantischen Untiefen.
Ich verweigere den Müßiggang der Addition
das Manöver der Unklarheit
die Dämmerung der Klarheit.
(…)

Verhalten im Ton, bewegt sich der Text „Trauerbänder“ über Abgründe hinweg:

ALS SIE GEGANGEN WAR
es war nach der achten Stunde
unter den Schnee

ist geblieben die Welt
wie sie ist

Die Kränze haben sich
lange gehalten in der Kälte
die nicht gehen will
wenn Frühling wird.

Wir kehren immer aufs neue zurück
wer aber käme noch heim.

Man liest, und liest immer wieder das Gedicht „Alter jüdischer Friedhof im Mai“:

Wer lebt hier
Ich höre vereinzelt Gesang
und den Sprung des Eichhorns hinab.

Wer ist hier der Herr
Aufrecht horchen die Steine.

Wer wirft das Kleid
Es fällt der Schatten von Bäumen
Es fällt das Licht aus der Hand.

Wer geht durch das Gras
Sieh doch. Die Stille.

Der Band, der im Jahr des Erscheinens eine zweite Auflage erlebte, bekam den Hölderlin-Preis 1986. Selten war eine Auszeichnung so verdient.

Johannes Maassen, Deutsche Bücher, Heft 1, 1988

Übersetzungen des Fremdworts „Leben“

In 25 Jahren hat Elisabeth Borchers nur drei Gedichtbände veröffentlicht. Wer lebt ist ihr vierter. Die Lyrikerin läßt ihre Lektoratsarbeit im Verlag erkennen, wenn sie in einem Morgengedicht schreibt, ich „gehe zur Arbeit. / Sie ist freundlich / und erlaubt mir / Gedichte über den Frühling zu lesen“. Die Sprecherin teilt Stimmung und Wahrnehmungen mit ruhig distanziertem Blick mit. Die Gedichte meiden Pathos, unbeschwerte Nähe, aber auch den experimentellen Ton. Auf die mit besonnenem Auge geschriebenen „Notizen auf dem Lande“ folgen spielerisch distanzierte Reim-Etüden, danach verhaltene Klagen über Vergänglichkeit und Tod.
In Erinnerung an deutsche Landschaft und deutsches Volkslied parodiert sie „In einem stillen Grunde, / da ging ein Mühlenrad“. Der Bach fließt, der Wind weht, das Korn sprießt nicht mehr. Wer bewahrt die Landschaft? Die eigene Person bewahrt das entschlossene Ich „auf Befehl des allerhöchsten Ich“. Novalis-nah wird eine kosmische Ordnung beschworen. In der Nähe der „Vater unser“-Bitten bittet die Sprecherin:

DAS LICHT gib uns heute
und vergib uns die Müdigkeit
wenn der Herbst leuchtet
und die Taubheit
wenn uns das Hören vergeht…

Dieses Ich sondiert Wahrnehmungen, vergegenwärtigt Erinnerungen, wehrt die Gefahr des Sich-abhanden-kommens, sucht beinahe gelassen Gegenwart. Die Sprecherin bewahrt ihre psychische und ästhetische Balance. Die Erfahrene kennt die „falschen Lieder“, scheut „den Festsaal der Sätze“, überläßt sich nicht „dem rauschhaften Absturz“, stimmt nicht an die gemeinplätzigen Klagen flächiger Verderbtheit. Betroffen vom Widerstand, der wir sind, bekennt sie sich zu „irdischer Einfalt / dem Trost des himmlischen Fests“. Sie öffnet sich dem Raum der Zeit, „sieht“ die Stille. Sie versammelt Bilder, Argumente, Vorstellungen in Richtung „Paradies“. Der Titel Wer lebt ist der Betrachtung eines alten jüdischen Friedhofs entnommen.

ALTER JÜDISCHER FRIEDHOF IM MAI

Wer lebt hier
Ich höre vereinzelt Gesang
und den Sprung des Eichhorns hinab.

Wer ist hier der Herr
Aufrecht horchen die Steine.

Wer wirft das Kleid
Es fällt der Schatten von Bäumen
Es fällt das Licht aus der Hand.

Wer geht durch das Gras
Sieh doch. Die Stille.

Die Friedhofsfrage „Wer lebt hier“ ist eine Lebensfrage. Die Leserin liest, die Schreiberin schreibt an der „Übersetzung / des Fremdworts / Leben“.

Paul Konrad Kurz, Bayerischer Rundfunk, 31.12.1986

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Jürgen P. Wallmann: Zünd das Licht an im Verstand
Rheinischer Merkur, 8. 3. 1986

Jochen Hieber: Das Gedicht als Instanz
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. 3. 1986

Arnim Juhre: Machen wir uns einen Reim
Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 27. 4. 1986

Elsbeth Pulver: Lautlos steht es geschrieben
Neue Zürcher Zeitung (Fernausgabe), 6. 6. 1986

Jürgen Jacobs: Vom Zuckerbrot zum Liebestod?
Kölner Stadt-Anzeiger, 22. 8. 1986

Alexander von Bormann: Lautlos geschrieben
Frankfurter Rundschau, 13. 9. 1986

Karl Krolow: Lautlos steht es geschrieben
General-Anzeiger, Bonn, 13. 11. 1986

 

 

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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Elisabeth Borchers

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