Elisabeth Borchers: Zu Rainer Malkowskis Gedicht „Schöne seltene Weide“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Malkowskis Gedicht „Schöne seltene Weide“ aus Rainer Malkowski: Was für ein Morgen. –

 

 

 

 

RAINER MALKOWSKI

Schöne seltene Weide

Manchmal, nach einem Herbststurm,
wenn die Luft still und gefegt ist,
gehe ich im Garten umher und zähle
die abgeschlagenen Äste.
Nur die Weide zeigt keine Veränderung.
Ich bewundere sie lange:
nicht immer sieht es so schön aus,
wenn die Biegsamkeit überlebt.

 

Ein Ort des Schreckens

Der dies geschrieben hat, sagt ganz einfach „Herbststurm“. Stürme sind allenthalben erlebbar, auch tief in der Stadt, wenn lose Dinge rütteln, poltern, zerspringen, wenn sich ein einzelner Baum wie ein Berg Papier abhebt, wütet, zusammenfällt. Als Herbststürme aber erlebt man sie hier selbst mitten im Herbst nicht. Ein Herbststurm ist auf dem Land, mit Wäldern am Rand, leeren Äckern, mit Bäumen am Weg entlang und Gärten, die mit Astern eine letzte Vorstellung geben. So drängt sich das landschaftliche Bild auf, im Herbststurm und wenn er vorbei ist – denn wo anders sollte die Luft sonst „still und gefegt“ sein können, diesen Grad an Beruhigung und Reinheit erreichen?
Wo anders als dort kann man sich vorstellen: einer verläßt sein Haus, geht im Garten „umher“, „die abgeschlagenen Äste“ zu zählen. Zeit haben muß man, um Äste zu zählen, einen Sinn haben muß man für Zerstörungen an Bäumen und für das Heilgebliebene an ihnen. „Nur die Weide zeigt keine Veränderung“. Sie, die allzeit Trauervolle, die nie in den Zustand von Pracht und Übermut gerät, deren feine Zweige ein Vorbild sind für langfallendes Haar, und die so der einzige Baum ist, der gleichermaßen Himmel und Erde berührt. Sie, die Babylonica, „zeigt keine Veränderung“. Und der, der in den Garten gegangen ist, bewundert sie „lange“.
Sechs Zeilen lang spielt sich das Gedicht in der „Natur“ ab, als ginge es um sie und als könne diese Art zu beobachten, sich selbst genügen – bis der Bewunderung ein Doppelpunkt folgt, der Abbruch des Stillebens:

nicht immer sieht es so schön aus,
wenn die Biegsamkeit überlebt

Der Leser hatte sich in Gefahrlosigkeit gewähnt, weil die Gefahr vorüber ist und das Bild der schönen seltenen Weide nichts als das Abbild eines Baumes war. Da muß er begreifen, daß er die Weide mit sich selbst zu vergleichen hat; und er hat sich zu fragen, warum er selbst bisher „überlebt“ hat; und wenn er überlebt hat, welche Eigenschaft es war, der er verdankt, daß er biegsam genug war, auszuweichen. Denn was „schön“ und voller Grazie ist am Weidenbaum, was der Tänzer des Balletts als Kunst vorweist, die Biegsamkeit – hat anderswo andere Ursachen.
Anpassung, zum Beispiel, bei der der Bruch nicht deshalb vermieden wird, weil die Natur zur Biegsamkeit begabte oder aus Gründen der Kunst, sondern weil jedem Widerstand nachgegeben wird, ohne Kraft, vielleicht sogar, weil vermieden wird, Kraft zu entwickeln, um sich dem Widerstand nicht stellen zu müssen. So kann auch dieser sehr klaren, einfachen, emotionslos gehaltenen Beschreibung eines Ortes ein Ort des Erschreckens über sich selbst werden.
Wie so oft – oder wie immer – hat der Leser das Rätsel für sich zu lösen. Wie so oft beginnt die Arbeit nach dem Gedicht, da nichts geschrieben wird, um Sättigung zu erreichen, sondern um den Wunsch nach Sättigung zu wecken.

Elisabeth Borchersaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zweiter Band, Insel Verlag, 1977

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