Elisabeth Endres: Zu Stephan Hermlins Gedicht „Terzinen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Stephan Hermlins Gedicht „Terzinen“ aus Stephan Hermlin: Gesammelte Gedichte. –

 

 

 

 

STEPHAN HERMLIN

Terzinen

Die Worte warten. Keiner spricht sie aus:
Auf ihren Lidern eine Handvoll Nacht,
Ihr Haar wärmt Nest und Brut der Wintermaus.

Aus ihrem Säumnis ist mein Traum gemacht,
Mein langer Tag aus ihrer Endlichkeit.
Die Schwalben sind vom Winde überdacht.

Nur sie sind ganz allein im Fluß der Zeit,
Die Uhren schlagen ihre Namen fort,
Vermächtnis, Schwur und Mahnmal ungeweiht.

Der Regen wäscht aus Tafeln Wort um Wort,
Rinnt auf Mont-Valerien und Plötzensee.
Die Schwalben liegen in der Hand des Nord.

Ich weiß noch, wenn ich dann im Dunkel steh:
Den Blick voll Bläue, Hand und Atemzug,
Die Abende von lauem Gold wie Tee.

Die Unerschrockenheit, die sich betrug,
Als sei die nächste Woche schon gewiß,
Die Stadt erfüllt mit Geisterfahnenflug,

Mit Fahnen, die der Wind der Zukunft spliß.
Geknebelt mit Gesängen gingen sie
Dahin. Jetzt schmilzt ihr Fleisch vom Rattenbiß

Sechs Fuß tief in des Wartens Euphorie,
Wenn sich die Regensäulen auf sie lehnen.
Der Schwalbensturz allein vergißt sie nie,

Die langsam treiben unter den Moränen.

 

Eine Totenklage

Diese Verse schrieb Stephan Hermlin im Jahre 1946; ein deutscher Dichter jüdischer Abstammung, seiner Konfession nach Kommunist. Er hatte Deutschland verlassen müssen, hatte in Palästina, Ägypten und England gelebt. Er war mit den Antifaschisten verbündet in einem Frankreich, das die Nazi-Truppen besetzt hatten. Er floh in die Schweiz, kam in das besiegte Deutschland zurück, nach Frankfurt am Main. 1947, ein Jahr nachdem dies Gedicht entstand, ging er in die sowjetische Zone. Er lebt in Ost-Berlin. Ein DDR-Dichter also? Gewiß. Man liest in den letzten Jahren viel über Hermlin hier, bei uns im Westen. Er protestierte gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, er hielt vor dem Schriftstellerverband der DDR eine Rede, in der er sich für die lebendige Kultur einsetzte und ihre Freiheit.
Stephan Hermlin ist ein deutscher Dichter: Er versteht sich auf die List, die Wahrheit zu sagen. Man soll bei aller Bewunderung für diese List nicht vergessen, daß er Kunst geschaffen, neben wichtiger Prosa Gedichte geschrieben hat, die vielleicht gerade durch die Ungewöhnlichkeit ihres Stils faszinieren.
Die Gedichte der vierziger Jahre sind zu einem großen Teil eine lyrische Hommage für die Toten. Für die von den Nazis hingerichteten, ermordeten Menschen, für das Stück Glück, für das Stück Sehnsucht, das in jedem einzelnen dieser Individuen vorhanden war, das durch den Tod ganz und gar niedergebrannt wurde.
Ein Dichter schreibt Terzinen. Er übernimmt eine kunstvoll verschlungene Reimordnung, die Dante für seine Divina Commedia benutzt, die Hofmannsthal verwendet hatte. Er verbindet damit ihre kühne Metaphorik, in deren surrealen Reiz man sich verlieren möchte. „Ihr Haar wärmt Nest und Brut der Wintermaus“. Es gibt keine Wintermaus. Aber sie lebt in unserem Geist wenn man sich ihr Nest am Körper des Toten vorstellt, der ausgeliefert wurde der Kälte und den Tieren, die in die Erde ihre Löcher graben. Es ist etwas Tröstliches dabei. Das Haar des Vernichteten wird zum Haus für eine frierende Brut. Die Toten haben ihr Stück Hoffnung bei sich. Neben dem Rattenbiß auch „des Wartens Euphorie“.
Die Lebenden vernehmen die Zwischentöne. Manche Verse berichten von den Unerschrockenheiten, von „Fahnen, die der Wind der Zukunft spliß“. Hermlin mag hier an Freunde gedacht haben, die an Fahnen und an die Zukunft glaubten. Wenn sie recht behalten hätten, wäre alles mühelos verlaufen. Aber hätte der Dichter dieser Nuancen der Klage bedurft, wenn sie recht behalten hätten? Hätte er sich dann nicht auf Fanfarentöne verlassen können? Er zieht das komplizierte Naturbild vor, übersetzt die Totenklage in eine andere Welt: Da sind Schwalben, sie sind überdacht…, sie werden vom Nordwind getragen…, der Schwalbensturz wird zum Symbol für das Nichtvergessen.
Der Dichter beschwört ein bißchen Schönheit; das Gold der späten Abende wird mit Tee verglichen. Die Privatheit dieser Impression hat ihren Grund. Die Verse sind von vornherein relativiert. Die erste Zeile lautet:

Die Worte warten. Keiner spricht sie aus:

Der Doppelpunkt widerspricht der Aussage. Einer redet, einer beschwört die Toten. Aber genügt das? Zumal, wenn es sich auch hier um einen Betroffenen handelt, also um einen, von dem gerade nicht letztendlich die erlösenden Worte stammen sollten. Er kann surreal schreiben, er kann realistisch schreiben, Mont-Valerien nennen und Plötzensee, die Hinrichtungsstätten von Paris und Berlin. Schließlich wird er nur klagen können über den Regen, der die Namen langsam unleserlich macht.

Elisabeth Endresaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfter Band, Insel Verlag, 1980

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00