Elke Erb: Sonanz

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Elke Erb: Sonanz

Erb-Sonanz

GESELLSCHAFT

Mir nichts, dir nichts ein paar Wörter,
aus der Luft gegriffen, wo sie geistern,
ununterscheidbar von ihr,

aber ihr Quentchen Willen enthalten,

sinnen auf etwas, so insbesondere
die ausgeschiedenen, die nicht mehr, kaum mehr
aaaaagehörten;
verlassenen Dörfer, überholtes Gerät und Werkzeug.

Vielleicht sind sie auch fremde? Neue? Zukünftige?

Und du selbst bist die Luft,
wo sie sinnen, dringen, zündeln, wellen, fliegen,
ankern, verharren, gründen,

hinaus durch die Dachsparren blicken, Ruinen. Ins Blaue.
Graue. Bewegte. Eine Landschaft mit zügigem Bach.

 

 

Elke Erb liest bei Poetry International 2013 aus dem Band Sonanz „(WAS TUT SIE JETZT?)“

 

Vorbemerkung

Diese Texte sind die Ernten von 5-Minuten-Notaten, die – nach einigen Vorläufern vom Spätherbst 2002 an – im Sommer 2003 begonnen und bis Mitte Juli 2005 kohärent (mehr oder weniger täglich) fortgesetzt wurden, mit einigen Nachläufern bis in den Sommer 2006. In der Regel wußte ein neues Notat nichts von dem davor, es begann aus dem Nichts mit keiner Überschrift, nur dem Datum.
Der Weg aus den Notizbüchern in den Buch-Text (ab Juli 2005) war in jeder Phase überraschend und fesselnd. Unter den sich wiederholenden Motiven zeigten sich schon bei der Niederschrift irritierende Obsessionen. Im Moment ihres Eintritts in das Notat agierten sie autonom.
Der assoziative Ablauf beförderte eine unwillkürliche (oft leidige, weil erlittene, bevormundende) Lautleite von einem Wort zum andern. Oder sie ihn. Unerwartet aber produzierten sie von selbst ideelle, poetologische Reize…
Erst während der Bearbeitung erkannte ich nach und nach, daß diese halbautomatischen Wortfolgen sogar aktuelle, schlechthin existentielle ebenso wie auch theoretische, Themen / Aufgaben behandelten, und zwar an einem Tag um den andern, fortschreitend. Hell und schnell, im Vergleich etwa zur Traumarbeit, geführt von Reiz wie Lust.
Als freigegeben erwies sich auch, was aber voraussehbar gewesen wäre, daß Emotionen wie Angst und erotische Interessen ins Spiel traten. Den Unterschleif der letzteren hatte ich dann öfters aus dem Hinterhalt zu holen. Ohne den Vordergrund-Sinn zu behelligen!
Erst in der letzten Arbeitsphase, als ich noch einmal die handschriftlichen Notate durchzugehen begann, nahm ich in vollem Umfang wahr, was geschehen war: Mit den ersten Lauten hatte sich, wie man bei einem Instrument vor dem Spiel prüfend einige Tasten anschlägt, mein subkutanes Lebewesen hervorlocken lassen und sich selbst angestimmt, sodaß es als leibliches Instrument fortan anwesend blieb!
Gleich darauf begriff ich, woher eine Reihe jener obsessiven Leitmotive kam, die mich verwundert hatten: die Ecke, die Kante, der Rand, die Vertikalen, Waagerechten, die Flächen … Ein Lebewesen stimmt sich an und orientierte sich
Es orientiert sich elementar und rundum, nicht nur räumlich, auch an seinen allgemeinen Bedingungen – bis ins Vormenschliche, Tierliche, Pflanzliche, Erdzeitliche, und es blickt, wie es der Moment der Niederschrift wollte, in die Geschicke der Geschichte, in den sozialen Horizont der ländlichen Arbeit und Existenz, in die Belange der Zivilisation und des Verstands. Die Inschriften unter der Haut waren hervorgerufen worden und übernahmen das Spiel …  Ich sah den Poesien zu, die sie hervorbrachten, und dachte, ich hätte das schwerlich zuwege gebracht.
– Von selbst hätte ich mit dem Gesumm wohl auch nicht angefangen. Eines Tages im Herbst 2002 sagte Ulrike Draesner, sie schreibe jeden Tag fünf Minuten lang etwas nieder. Als ich meinte, ich könnte das nicht, sagte sie: Wenn du nicht weiter weißt, schreibe einfach immer das letzte Wort, bis die Zeit um ist. Eben dies war (nicht die Ermunterung, sondern) der auslösende Reiz: das Nichts, das die Hemmung wegstrich.

Elke Erb

Erstarrte Metaphern sind Diebstahl

− Die Dichterin Elke Erb wird siebzig und schenkt ihren Lesern „5-Minuten-Notate“. −

Nichts ist leiser als Dichten, aus behutsamer Wortfolge kommt der Vers. Elke Erb offenbart in dem neuen Band „Sonanz“ ihr Verfahren: Poesie aus „5-Minuten-Notaten“ werden in einem Warteraum erprobt, bis Silben bildende Laute – „Sonanzen“ – einen neuen, unerwarteten, tieferen Sinn ergeben: „Lautleite von einem Wort zum andern“. Die Dichterin sucht, anstatt fertige Bilder abzurufen. Vergessenes, Unsagbares, Unbotmäßiges wird „Zugetragen. Angelandet. Bewahrt“. Der Titel meidet jeden Verweis auf Gedichte. Aber sie zeigen sich – wie auch die Kurzprosa – in stilfeiner Ausprägung. Verblüffend ist die Opulenz: 300 Seiten Poesie; entstanden aus Notaten vom Sommer 2003 an, zwei Jahre mehr oder weniger tagtäglich. „Ein Lebewesen stimmt sich an und orientiert sich … – bis ins Vormenschliche, Tierliche, Pflanzliche, Erdzeitliche, und es blickt … in die Belange der Zivilisation und des Verstands“, heißt es im Vorsatz.
Jede Dichtung muss ihren Sinn selbst erzeugen, sie ist zur Freiheit verurteilt. „Mir nichts, dir nichts ein paar Wörter / aus der Luft gegriffen, wo sie geistern, / ununterscheidbar von ihr, // aber ihr Quentchen Willen enthalten.“ Alles lebt von den Vorzügen der Absichtslosigkeit. Erst aus dem beweglichen Wortlaut kommen Wille und Einsicht. Aber das tagebuchähnliche Schreiben bedarf mit seiner Flut an Einzelheiten eines Gefühls für Maß und Proportion. Hier wird der Unterschied zwischen Wahrnehmung und Gedicht deutlich. Auch in der Wahl ihrer Mittel bleibt Elke Erb behutsam. Sie weiß, „erstarrte Metaphern sind Diebstahl“. Jedes falsche Bild kann zum Menetekel werden. Im Jahr 1938 in Scherbach/Eifel geboren, kam Elke Erb als Elfjährige nach Halle an der Saale. Als Studentin fand sie Anschluss an die „Sächsische Dichterschule“ um Adolf Endler, Sarah und Rainer Kirsch. Politisch war sie nicht verfügbar. Als Übersetzerin von Achmatowa und Zwetajewa, Jessenin und Pasternak weiß sie mehr als andere von den letzten Dingen in Lenins und Stalins „Neuer Zeit“. Schon in ihrem Debüt „Gutachten“ (1975) wehrte Elke Erb sich gegen die Vereinfältigung der Welt. Die unersättlichen Utopien misst sie auch in den Bänden „Der Faden der Geduld“, „Vexierbild“ und „Kastanienallee“ an ihrer gestalteten Sprach- und Bilderwelt. Das machte sie interessant für die Jungen Wilden vom Prenzlauer Berg. Wie sonst nur Adolf Endler wurde sie hier gehört. Nach den Gedichtbänden „Unschuld, du Licht meiner Augen“ und „Mensch sein, nicht“ ist „Sonanz“ Elke Erbs radikalster Versuch, nur dem Wortlaut zu vertrauen. So bleibt ihr auch vieles, was verloren und aufgegeben scheint, gegenwärtig und sagbar. Formales Experiment geht dabei nie so weit, dass das Interesse an ihren Gedichten erlischt. Am 18. Februar feiert Elke Erb ihren siebzigsten Geburtstag. Alles spricht dafür, an ihre poetische Stimme wird man sich weiter halten können.

Jürgen Verdofsky, Stuttgarter Zeitung, 13.2.2008

Aufstand der Zeichen

− Naturwunder: Zum 70. Geburtstag der Lyrikerin Elke Erb am 18. Februar. −

Das Weltende war für diese Dichterin einst fast mit Händen zu greifen. In Elke Erbs Kinderzimmer in dem weltverlorenen Eifeldorf Scherbach war nämlich das Fenster so hoch angebracht, dass man nur noch den Himmel sah. In diesem fernen Oben müsse die Welt zu Ende sein, glaubte das Mädchen, für das die Welt nur aus den Wiesen und Wäldern rund um die drei Bauernhäuser ihres Dorffleckens bestand. Durch dieses magische Fenster konnte man alle entbehrlichen Alltagsgegenstände hinauswerfen, denn am Weltende, so das Phantasma des Mädchens, können tote Dinge problemlos entsorgt werden. Eines Tages schien aber die reale Apokalypse in der Dorfidylle heraufzudämmern, als plötzlich ein abgestürztes Flugzeug auf den Feldern lag und kurz darauf amerikanische Panzer über die Dorfstraße rollten. Der Kindheitstraum der Elke Erb, der um ihre „Königin Mamma“ und deren verlockenden Hagebuttenkonfekt kreiste, war zu Ende.
Es gibt nur wenige Texte, in denen Elke Erb so eindringlich, in erzählerischen Sentenzen, die Urszenen ihrer Kindheit geschildert hat. In den 1970 entstandenen Eifel-Erinnerungen hat sie diese Bilder des Anfangs aufgezeichnet und einen Satz darin untergebracht, der einen Vorblick auf ihre poetische Praxis erlaubt. „Ein Kind, das weit in die Welt hineingeht, erwartet das Wunder“, heißt es hier an einer Stelle – und tatsächlich ist die Dichterin, die am kommenden Montag 70 Jahre alt wird, noch immer unterwegs auf diesem Weg, auf dem sie mit nicht nachlassender Neugier nach dem „Wunder“ Ausschau hält.
Dieses Wunder erwartet Elke Erb, seit sie in den sechziger Jahren zur Dichterin wurde, von immer neu zu gewinnenden, sich fast auto-poetisch generierenden Konstellationen der Sprache. Im Vorwort zu ihrem neuen Buch Sonanz, das auf stattlichen 320 Seiten ein Archiv von „5-Minuten-Notaten“ angelegt hat, spricht sie im Vorwort vom Schreiben als einem physiologischen Prozess, der ohne Zutun des Autors seine eigenen poetischen Kombinatoriken hervorbringt. Die Sprachverknüpfungen begreift sie als „Inschriften unter der Haut“, die ihr eigendynamisches Possen-Spiel treiben: „Ich sah den Poesien zu, die sie hervorbrachten, und dachte, ich hätte das schwerlich zuwege gebracht.“
Dabei hat sie doch erwiesenermaßen eine ganze Menge an produktiven Sprach-Spielen und Sprach-Entfesselungen zuwege gebracht, seit sie 1966 nach Berlin kam und als Dichterin die DDR-Poesie aufzumischen begann. Als Elfjährige war sie 1949 mit ihrer Familie nach Halle an der Saale übergesiedelt, wo sie nach einigen Jahren der tastenden Selbstsuche und eines Studiums der Germanistik und Pädagogik als Lektorin im Mitteldeutschen Verlag zu arbeiten begann. Nach Begegnungen mit Sarah und Rainer Kirsch, Adolf Endler und Heinz Czechowski wurde sie bald zu einer Art Novizin der „Sächsischen Dichterschule“. In ihren gemeinsamen Ehejahren mit Adolf Endler entdeckte sie das sorbische Dorf Wuischke als primäres Inspirationszentrum – und als Ruhepunkt fernab der Turbulenzen am Prenzlauer Berg.
Seit ihrem ersten Gedichtband Gutachten von 1975 ist das Schreiben für Elke Erb zu einer elementaren Lebensäußerung geworden: „Dichten ist wie Ein- und Ausatmen“, heißt es im Band Die Crux (2003) – und diese existenziale Produktion hat auch Konsequenzen für die literarische Form. Elke Erb liebt das „prozessuale Schreiben“, das auf der Vorläufigkeit der Textgestalt, auf Offenheit und Revidierbarkeit der Form und auf der permanenten Selbstreflexion des Autors beharrt. Der poetische Rohstoff, die Arbeitsskizze und das in Druckform übergegangene Gedicht kommentieren sich hier gegenseitig in einem fortlaufenden Dialog: ein „work in progress“, das kein Risiko scheut.

Das neue Buch Sonanz nennt als Quelle dieses unendlichen, sich immer wieder korrigierenden Schreibens die „ohne-Ziel-hier-Passion“ – eine Passion, die sich in Elke Erbs berühmtestem Buch, dem mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichneten Band Kastanienallee von 1987, als poetische Symbiose von Gedicht und Kommentar manifestiert. Hier geschieht es nicht selten, dass ein dreizeiliges Gedicht von einem assoziativ wuchernden Kommentar von 20 Seiten flankiert wird. So wird das Gedicht auf seine vokabulären Quellen und semantischen Hintergrundstrahlungen hin durchsichtig gemacht – ein Verfahren, das niemand in so rigider Konsequenz durchexerziert hat wie eben Elke Erb.
Drei Jahre vor dem poetischen Coup mit der Kastanienallee hatte die Dichterin gemeinsam mit dem später als begabten Doppelagenten enttarnten Sascha Anderson eine aufsehenerregende Lyrik-Anthologie auf den Weg gebracht: Berührung ist nur eine Randerscheinung. Diese Textsammlung ist einer der wichtigsten Markierungspunkte in der Lyrikgeschichte der DDR – mit ihr waren jene lyrischen Exzentriker und nicht-offiziellen Literaten, die einen „Aufstand der Zeichen“ gegen die ideologischen Sprachregelungen des SED-Staates entfesseln wollten, endgültig durchgesetzt.
Ohne die literarischen Offensiven Elke Erbs hätte dieser Akt der Überschreitung von Sprachgrenzen und der Auflösung von Konventionen in der DDR-Lyrik wohl nie die ihm eigene Dynamik erreicht. Die einstige Mentorin der später unsanft entzauberten „Prenzlauer Berg Connection“ ist ihren Weg der Sprach-Erkundung mithilfe einer offenen Poetik seither immer weiter gegangen; eine Sprachsucht, die ihr mitunter auch spöttische Kommentare eintrug. Wo Erb-Fans das in der Kastanienallee beschworene „Naturwunder Wortspiel“ feiern, da sehen Skeptiker oft nur die „kommunikationsunfreudige Gestalt“ ihrer Gedichte (Christa Wolf) und eine hoffnungslos inkohärente Struktur.
Richtig ist: Elke Erbs Spracherkundung, die auf Abwehr von Klischees bedacht ist, funktioniert nicht als gemütliches, kumpaneihaftes Parlando. Ihre Aufzeichnungen verstehen sich eben als Bewusstseins-Inventur, als Situierung eines ungefestigten Ich in wechselnder Topographie und Sprachlandschaft. In den „5-Minuten-Notaten“ der Sonanz stehen sehr skizzenhafte Texte neben wunderbar sprachbesessenen Wort-Meditationen, die um eine bestimmte Vokabel oder eine Lautstruktur kreisen. Die Fähigkeit zum Staunen über das Rätsel der Sprache wird dieser Dichterin so schnell nicht abhanden kommen: „Ich will nicht über eine Brücke gehen, die pons heißt. / Ein Widerstreben, Sich-Sträuben, chaotisch rundum, jäh / zur Figur verkrampft, Skulptur, ein erstarrter Aufruhr, / verschreckt alle Bewegung zurück in sich! / So? Nein, pons kann nicht sein als Brücke! / Ein Ufer, das andere, darunter Wasser. / Bridge vielleicht?“

Michael Braun, Freitag, 15.2.2008

Rohdiamanten aus Sprache

… „Sonanz“ gibt das wieder, was Elke Erb am liebsten ist: Das Hier und Jetzt. Hier und jetzt riskiert sie einen radikalen Versuch. Einige Jahre lang schrieb sie fast jeden Tag „5-Minuten-Notate“ nieder. In ihrem Vorwort erzählt sie, wie Ulrike Draesner ihr diesen Vorgang empfohlen hatte, und gesteht: „Als ich meinte, ich könne das nicht, sagte sie: Wenn du nicht weiter weißt, schreibe einfach das letzte Wort, bis die Zeit um ist. Eben das war (nicht die Ermunterung, sondern) der auslösende Reiz: das Nichts, das die Hemmung wegstrich“.
So hat Elke Erb für sich das „automatische Schreiben“ entdeckt. Im Unterschied zu den Surrealisten, die bei diesem Verfahren auf Abschaltung jeder Zensur der Vernunft bauten, setzt sie ihre Texte starker Bearbeitung aus. Es sind keine rohen „Notate“. Wie bei der Bearbeitung eines Rohdiamanten wird erst durch den Schliff die verdeckte Eigenschaft sichtbar. Paradoxerweise besitzen diese Gedichte mehr feste Vers- und Bildstrukturen als ihre früheren, bewusst auf die Entfaltung des eigenen Gedanken- und Wahrnehmungsflusses konzentrierten Texte.
Das „Untergedächtnis“ der Lyrikerin befreit das Kulturgedächtnis der Sprache, die Kristallographie des Gedichtes; ihre Rhythmen und Klänge zeigen eine deutliche Neigung zur Wiederkehr – das ist die klassischste und vielleicht die experimentellste Elke Erb aller Zeiten.

Olga Martynova, Frankfurter Rundschau, 18.2.2008

Mit der Wünschelrute

− Elke Erbs „5-Minuten-Notate“. −

Was sie schreibt, kann manchen langen Text mit leichter Hand aufwiegen. Sind es denn Gedichte, die wir lesen, sind es knappe Prosastücke oder gar Notizen, Tagebucheinträge? In erster Linie sind es Texte von Elke Erb. Man kennt ihre Handschrift, ihren Tonfall – und darf dennoch und gerade deswegen immer wieder mit Überraschungen rechnen.

Elke Erbs jüngster Band heisst „Sonanz“ und versammelt Texte, die unter einer strengen Regel entstanden sind. Fünf Minuten täglich schreiben, das war die selbstauferlegte Vorgabe. Fünf Minuten reagieren auf die Welt, auf die Sprache, die auf Welt reagiert, auf alles, was der Fall ist. Herausgekommen sind betörende, mitunter etwas rätselhafte „5-Minuten-Notate“, die immer auch daran erinnern, dass die Sprache tut, was sie sagt. Die Sprache ist Elke Erbs Wünschelrute, und es ist klar, dass die Autorin damit nicht nur überall Wasser findet, sondern diesem auch seine eigenen Wege gönnt. Ständig lässt sie sich überraschen und anregen von dem, was ihr beim Schreiben zustösst. Ihre Schreiblust kann überall ansetzen, bei alltäglichen Vorgängen oder Gegenständen, bei einem Lexikoneintrag oder einer schlichten Kachel, nichts scheint sicher vor ihr, und aus allem wird Text. Elke Erb lässt sich dabei gern von Lauten tragen und treiben, von Assonanzen, von Anspielungen und Echos aller Art. Das beginnt schon beim Titel. „Sonanz“ ist ein mehrdeutiges Wort, und die Bezeichnung „5-Minuten-Notate“ ist natürlich eine Anspielung auf die nicht ganz unbekannte „5-Minuten-Terrine“.
Elke Erbs Notate präsentieren ungewöhnliche Mitteilungen, und sie sind auch dort, wo sie zunächst einfach scheinen, nicht selten angewiesen auf eine starke Eigenbeteiligung der Lesenden, das macht sie spannend. „In den Rücken geschossen / ist ein mündendes Wort. // Lindenblatt Rückenschuss Wort.“ So beginnt das 5-Minuten-Notat „Besiegelt“, und schon auf den ersten drei (von dreizehn) Zeilen wird reichlich Assoziationsmaterial ausgelegt, das beispielsweise von „mündend“ zu Mund und Mündung reicht und von „Lindenblatt Rückenschuss“ bis in die Nibelungensage hinein, in der Siegfried am Rücken eine verwundbare Stelle hat: dort, wo beim Bad im Drachenblut ein Lindenblatt die schützende Flüssigkeit nicht an die Haut liess. Nacherzählen lässt sich hier nichts, zu geniessen ist aber ein witziger und höchst geistesgegenwärtiger Umgang mit sprachlichen Bildern und den Verknüpfungsofferten, welche die Sprache nur dort macht, wo man sie dazu einlädt.
Debütiert hat Elke Erb 1975 mit dem Band „Gutachten“, das war noch zu Zeiten der DDR, und Sarah Kirsch schrieb in ihrem knappen Nachwort: „Ich kann dieses Buch den Lesern nur sehr empfehlen und ihnen versichern, dass sie eines erworben haben, das berühmt werden wird.“ Das Buch ist tatsächlich berühmt geworden, und mit ihm dessen singuläre Autorin.
Mehr als ein Dutzend Werke hat sie seither vorgelegt, die vielen Übersetzungen und Nachdichtungen nicht mitgerechnet, und noch immer ist sie eine, deren Bücher man der geneigten Leserschaft „nur sehr empfehlen“ kann. Elke Erb, in Scherbach in der Eifel geboren, wird heute siebzig Jahre alt.

Martin Zingg, Neue Zürcher Zeitung, 18.2. 2008

Inschriften unter der Haut

− Die Dichterin Elke Erb, die heute 70 Jahre alt wird, zaubert auch in ihren neuen Texten mit dem Klang der Wörter. −

Im Jahre 2002, im Herbst, hat Elke Erb an diesen Texten zu arbeiten begonnen. Seitdem hat die Dichterin sie immer wieder gesichtet und verdichtet. Entstanden ist ein Konglomerat aus Weltbetrachtung und Selbstbetrachtung, Wortwitz und Geistesblitz. Wer aber ist ICH in den Texten? Elke Erb im Vorwort: „Mit den ersten lauten hatte sich, wie man bei einem Instrument vor dem Spiel prüfend einige Tasten anschlägt, mein subkutanes Lebewesen hervorlocken lassen und sich selbst angestimmt.“ Also handelt es sich nicht um die erste Person Singularis.
„Ich ist ein Anderer“, wie es der Dichter Rimbaud so treffend sagte. Bei Elke Erb ist dieses Lebewesen ihr „leibliches Instrument“. Und dass es sich um ein Instrument handelt, dafür gibt es manch ein Indiz. Da sind zuerst die sonanten, silbenbildenden Laute, die Selbstlaute oder die lange auf der Zunge als auch beispielsweise unter dem Geigenbogen gehaltenen Dauerlaute, wie das „s“ beim „pst“ oder das „r“ beim „brr“. Der Selbstlaut „o“ dominiert in der Wortkombination „Gladiolen-wiederholen“, die ein Sich-Erneuern im Jahreskreis wie nebenbei hersagt. Das „u“ schlängelt sich durch „die ungemeinte Unwahrheit der Position, / der ungemeinten“. Ein hintergründiges „ei“ tönt im Gedicht „Schein und Schatten“: Das Auge erhält eine Schneide. / Einen schneidenden Rand. So entscheidend, / daß das Massiv ein wenig nieder / sich senkt wie es scheint.“ Das Nachscheuen und das Anfühlen sind die Vorgehensweise der Dichterin: „Gelegentlich schaut die Figur nach, ob sie diese denn ist.“
Das Ganze wird durch Wortmusik, die ja auch Sprachmusik ist, getragen, durch Erfahrung und Neugier. Dies erzeugt Magie, der man sich beim Lesen schwer entziehen kann. Und man will sich dem poetischen Text auch nicht entziehen, besonders, wen man ihn laut vor sich hersagt. Aber es ist nicht nur die Schönheit der Sprache, die bei genauer Benutzung aufklingt, es ist auch das Wissen um die Endlichkeit und um den Anfang, das in diesen Texten steckt. Hier spricht eine Dichterin mit Selbstverstand. Sie spricht, und jeder, der hört, erfährt.
Aber es ist die Neugier, die überwiegt, die Annäherungen ermöglicht. Zum Beispiel zu allerlei geometrischem Gestänge, das als Zubehör – wie Kante, Fläche und Kegel – eine Orientierung im Raum schafft. Eine Orientierung im poetischen Raum bieten Lautlinien, eine „Wort-in-Wort liegende Musikalität“, wie Elke Erb es mir einmal beschrieb. Diesen sichtbaren und hörbaren Möglichkeiten geht sie nach und verfasst ganz eigene Texte.
„Niemand kann nicht ans Werk gehen“, sagt die Dichterin im Anfangs- und Schlussvers eines Gedichtes zu diesem Thema. Hier schwingt das „ni(e)“ mit – wie bei Goethe, der gesagt haben soll: „Keine Liebe war es nicht.“ Genau so ist es mir mit diesem Buch ergangen. Wer es liest und sich auch auf das Nachschwingen der Laute einlässt, wird dies erfahren.
Elke Erb wird heute siebzig. Die Texte, die nach „5-Minuten-Notaten“, wie sie es sagt, entstanden sind, handeln von den „Belangen der Zivilisation und des Verstands“, also den „Geschicken der Geschichte“ und von den Orten, die ein Lebewesen einzunehmen vermag.

Róza Domašcyna, Sächsische Zeitung, 18.2.2008

Reise unter die Haut

− Ein neuer Gedichtband von Elke Erb, die heute 70 Jahre alt wird. −

Eines Tages im Herbst 2002, so Elke Erb in der Vorbemerkung zu diesem Band, habe Ulrike Draesner ihr gesagt, sie schreibe jeden Tag fünf Minuten lang etwas nieder. „Als ich meinte, ich könne das nicht, sagte sie: Wenn Du nicht weiter weißt, schreibe einfach immer das letzte Wort, bis die Zeit um ist. Eben dies war (nicht die Ermunterung, sondern) der auslösende Reiz: das Nichts, das die Hemmung wegstrich.“
Als ob es eines solchen Anstoßes bedurft hätte! – „Sonanz. 5-Minuten-Notate“ ist Elke Erb ist Elke Erb ist Elke Erb. Mehr als zwei Jahre, mit kurzer Vor- und Nachlaufzeit hat sie sich (fast) täglich diesem Exerzitium ausgesetzt und tagebuchähnlich Lyrik und Miniatur-Prosa verfasst. 320 Seiten (allein 13 Seiten Inhaltsverzeichnis!), 435 Texte, chronologisch geordnete Reise unter die Haut, zum „subkutanen Lebewesen“, das „… stimmt sich an und orientiert sich.“
Sonanz – Klang. Klang, der in eben jenem hervorgelockten Wesen, dem „leiblichen Instrument“, sich formt. „Ein Ding hat, benannt, einen Ton in dem Namen. / Ein Ton ist ein Ton, weil es andere gibt.“ Die Expedition geht in die Geschichte, gar zurück bis zum Faustkeil oder zu den in Gräbern verwahrten Hünen. Ferner winkt, mehrfach, der Berg Czorneboh, südöstlich von Bautzen gelegener, einst kultisch tradierter Ort. Nachfach christianisiert. Christentum – mit Symbolen, die Erb dreht, wendet, in ihr Licht setzt: „Im oberen Rückgrat durchgestrichen, das ist ein / Kreuz.“ Der poetische Ritt durch die Welt- und Kulturhistorie, die Werte markierte und schändlich verwarf, landet im Barock, in der Aufklärung, im verängstigten 20. Jahrhundert der Weltkriege und zieht in die Landschaft der Kindheit. Später sogar durch die einst enthusiastisch aufgebaute („Fort mit den Trümmern / und was Neues hingebaut“) DDR, deren Rest heute versorgte Vorstadt ist, durch die eine Rentnerin schlurft.
Die andere Spur, untrennbar verwoben mit der ersten, zieht die Sprache. Die „Dinge“, nur einen Hauch seitwärts gerückt, sind plötzlich neu zu überdenken, aus- oder anzusprechen. Assoziationen, die im Lesen sich fortsetzen, entwickeln ihr eigenes Leben. Ad absurdum geführte Metaphern kommentieren sich selbst. Anbei liefert Elke Erb immer wieder Ausflüge ins Ländliche (Kulissen: Äcker, Waldränder, Buchen, Birken, Wiesen, Gras; Personal: Schafe, Kühe, Hühner, Katze, Fuchs, Esel und immer wieder Krähen) oder in die Belange zivilisierten Lebens (Interieur: Bügeleisen, Bett, Krankenakte etc.) – nur scheinbar unscheinbar und sich im aufgeschlossenen Leser zu Horizonten öffnend. Diese „5-Minuten- Notate“ fordern heraus, wollen genossen, gedreht und gewendet werden. Und keines ist zuviel! An allen Ecken und Kanten (oh, erbsche Worte!) finden sich Anklänge, Zitate: Christian Wolff, Schiller, Hölderlin & Co, und nicht zuletzt Elke Erb selbst.

Elke Erb wird heute 70. Sie beweist sich mit diesem Band, ihrem mittlerweile fünften im Verlag Urs Engeler, einmal mehr als außergewöhnlicher „poetische Geist“ (Friederike Mayröcker einst in ihrer Laudatio zum Erich-Fried-Preis 1995). Und sie wird wohl auch weiterhin an ihrer Suche nach dem Klang der Dinge teilhaben lassen, denn „ES LOCKT NOCH, / einiges auseinanderzuhalten, / Kompaktes, auseinanderzubringen, daß es / Blicke bekomme, zueinander. Licht falle.“ Zu wünschen wäre eine Gesamtausgabe, die das komplette Schaffen der Autorin in den Zusammenhang stellt.

Katrin Greiner, Neues Deutschland, 18.2.2008

„Trainiert der Wind die Bäume?“

− Pünktlich zum 70. Geburtstag von Elke Erb am 18. Februar 2008 ist ihr neuer Band, „Sonanz“, erschienen. −

Der Sonant bezeichnet den silbenbildenden Laut, und man spricht auch von sonantischen Konsonanten, wenn der Vokal fehlt (zum Beispiel bei Dirndl, gesprochen „Dirndel“). Resonanz wiederum meint das Mittönen oder den Widerhall eines andern Körpers. „Sonanz“, wie der neue Band von Elke Erb heisst, hat ohne Frage mit beidem etwas zu tun: Denn es geht um Silben wie auch sinnbildende Laute, der Körper aber, der zunächst im Vordergrund steht, ist kein fremder, sondern der eigene: „Mit den ersten Lauten hatte sich, wie man bei einem Instrument vor dem Spiel prüfend einige Tasten anschlägt, mein subkutanes Lebewesen hervorlocken lassen und sich selbst angestimmt, sodass es als leibliches Instrument fortan anwesend blieb“, schreibt die Dichterin im Vorwort.

Elke Erb, 1938 in der Eifel geboren, übersiedelte 1949 nach Halle, in die damalige DDR. Seit über dreissig Jahren erscheinen Bücher von ihr. Die Schriftstellerin und Übersetzerin wurde für ihr eigenständiges Werk mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt 2007 mit dem Hans-Erich-Nossack-Preis. Sie lebt heute in Berlin.

Ihr jüngster Band trägt den Untertitel „5-Minuten-Notate“. Eine zeitliche Limite also, zumindest für die erste Niederschrift des jeweiligen Textes. Eine Zeitvorgabe, die es aber auch dann einzuhalten galt, wenn vor Ablauf der fünf Minuten „nichts“ mehr kommen wollte. Würde es nicht sogleich Missverständnisse hervorrufen, man könnte von „Action Writing“ sprechen, bei dem auch das Nichts, wie Erb erläutert, zum auslösenden Reiz wird. Buchstäblich alles kann in ein Gedicht fliessen, Beschreibung wie auch Reflexionen zu diesem Tun im selben Moment: „Eine Spannung Wort zieht Wort nach, mit sich, weiter, / Laut Laut und Sinn auch Sinn, so geht es hin“ – so lautet die erste Strophe eines der Gedichte ohne Titel. „Das Gedicht will sprechen, ansprechen, aussprechen, sich aussprechen“, notierte einmal Rose Ausländer, und diese Erkenntnis ist unzweifelhaft auch Erbs Texten eingeschrieben. Bei diesem Prozess „nur“ von Assoziationsketten zu sprechen, wäre allerdings verfehlt: Sinn und auch Hintersinn bilden sich immer zwingend heraus, springen dem Leser ins Auge oder lassen sich zumindest erahnen. Oder es setzt sich eine einzelne Zeile im Gedächtnis fest und bleibt dort hängen, zum Beispiel: „Ob der Wind die Bäume trainiert?“

Markus Bundi, Mittelandzeitung, 23.2.2008

Blitze aus der Blickhüfte

− Elke Erbs findige 5-Minuten-Notate. −

Über zwei Jahre hinweg habe sie sich eine tägliche Schreibpflicht auferlegt, so Elke Erb im Vorwort zu ihrem neuen Buch „Sonanz“: Fünf Minuten lang galt es, den Stift nicht vom Papier zu nehmen – sei ihr nichts mehr eingefallen, habe sie das letzte Wort einfach wiederholt, bis die Zeit um gewesen wäre. Eine Schreibpflicht, die von etüdenhafter, recht privater Art scheint. Die jüngst siebzig Jahre alt gewordene Elke Erb aber hat durch diese Schreibhaltung zu einer ihrem poetischen Temperament überaus gemäßen Form gefunden. Ihre Texte waren immer schon skizzenhaft, vorsichtig-tastend, aber auch äußerst widerständig und zuweilen sentenzenhaft-knapp, die Grenzen zur Prosa und anderen Formen fließend.
„Gedichte und andere Tagebuchnotizen“ heißt eines ihrer Bücher im Untertitel, und in dem schon fast legendären, kurz vor dem Mauerfall erschienenen Band „Kastanienallee“ führt jedes Gedicht seinen eigenen Kommentar mit sich – wobei sich die Kommentare wiederum mitunter in selbstständige und umfängliche lyrische Texte verwandeln.
Auf viele jüngere Dichter übt Erbs fast kindlich-neugierige und durchaus schrullige Art seit einiger Zeit merklichen Einfluss aus. Sie bildet eine Art Gegenpol zur ausufernden Friederike Mayröcker und dient gleichzeitig als eine Art Ersatzmutter der Avantgarde, nachdem so viele ihrer Protagonisten in den letzten Jahren gestorben sind. Erst jetzt, könnte man sagen, kommt ihre Arbeit richtig zur Geltung, und mit „Sonanz“, so scheint es, erreicht sie einen ganz außerordentlichen Grad an Intensität, als habe die zeitliche Beschränkung ein Höchstmaß an poetischer Konzentration bewirkt: „Wiederum Buchen, / am Ufer unten. Nur zwei. / Doch Riesen, selten dick und hoch, / und straff wie eingenäht in Elefantengrau. / So glatt und gerade können sie nicht alt erscheinen! / Und aber stumm wie nicht von dieser Welt.“
Bei den täglichen fünf Minuten ist es gleichwohl nicht geblieben. Erb hat ihre Texte nachbearbeitet, in Form gebracht, mit Titeln versehen. Die Spontaneität, das Momenthafte aber ist ihnen deutlich anzumerken, vor allem zeigt sich, wie sehr Erb aus dem Klang heraus arbeitet, aus „Sonanzen“. „Bistum, Blitz, blind“, heißt es da, oder „harrender Farn. / Gemarteter / Stadtpark.“ Die sogenannte „Lautleite“ hat Erb eigenem Bekunden nach als leidig und bevormundend empfunden. Der Leser aber merkt, dass die Dichterin nicht an lautmalerischem Spaß oder wohliger Klangharmonie interessiert ist. Der semantische Assoziationsraum wird vielmehr musikalisch geordnet.
Das ist alles andere als eine „écriture automatique“. Elke Erb geht es nicht um Traumzustände, sondern, „hell und schnell“, ums wache, aufmerksame Beobachten: „An den Schrebergärten / reibt sich die Blickhüfte wund.“ Und was diese Blickhüfte zu sehen bekommt, ist zum Beispiel „Novemberlicht“, versehen mit der Erkenntnis: „Die Blässe blutet nicht.“ Von solcher Empfänglichkeit möchte man sein. Täglich fünf Minuten, das scheint kurz. Was Erb aber alles in die meist kaum halbseitigen Gedichte packt, wird dem gemeinen Flaneur nicht in fünf Tagen begegnen. Sei es ein „geil-gelber Geruch“ oder „unfern das zarte / Wegwartenblau.“
Der urbane Alltag wie der Blick auf Natur gehören zu den „Aufgaben“ dieser Dichtung. Aber auch der „Zeitleib“ selbst wird zum Gegenstand, jene „stumm summende Unterhaut“, sprich: Krankheit, Trauer und Tod. Dabei sind diese Gedichte so lebhaft, gegenwärtig und augenblicksnah wie wenig Anderes. Tröstlich-heiter lautet ihr unterschwelliger Refrain: „Morgenglocken wachgeworden“. Möge er ewig erklingen.

Tobias Lehmkuhl, Süddeutsche Zeitung, 1.1.2008

Schwingungsverhalten

Ein Gedichtband, der 2008 bei Urs Engeler erschien, doch von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde, ist Elke Erbs Buch Sonanz. Sie selbst hat ihren Band mit dem ungewöhnlichen Untertitel „5-Minuten-Notate“ versehen, beschreibt in ihrer einleitenden Bemerkung, dass der Arbeitsprozess an den Texten mit einer Niederschrift von Notaten begann, die nach und nach bearbeitet wurden. Im Inhaltsverzeichnis, geordnet wie um eine Symmetrieachse nah an der Seitenmitte, wurde links neben den Gedichttiteln das Datum der Erstniederschrift der Notate vermerkt – womit auch rein äußerlich der Wildwechsel vom Notat zum Gedicht sichtbar wird.
Um das zuletzt Gesagte kurz zu vertiefen: Die Arbeiten in diesem Buch oszillieren nicht zwischen Notat und Gedicht, die Bewegungs­richtung in dieser Hinsicht ist linear und nicht umkehrbar – zumal sich die Dichterin mit dem, was den Lesern in diesem Buch geboten wird, nicht vor dem zu verstecken braucht, was unter der Genrebezeichnung Gedicht in den immer rarer werdenden Buchhandlungen, die wenigstens noch ein Hundertstel ihrer Ladenfläche für neue Gedicht­bücher bereit halten, firmiert.
Ein Gedanke, der mir zu dieser merkwürdigen, im Fall von Elke Erb jedoch resoluten Selbsteinordnung ebenso in den Sinn kommt, ist der Fakt, dass Dichter sich manchmal lieber gleich selbst einer Genrezugehörigkeit entziehen. Mag es sich hin und wieder auch so darstellen, dass die Abgrenzung vom Gedicht für einen Teil der Autoren nur eine zeitweilige ist, später oft genug relativiert und unter Stichworten wie Jugendlichkeit, Experiment und Popkultur abgelegt wird: Bei einer weniger zahlreichen Gruppe, zu der ich Francis Ponge, Philippe Jaccottet, Inger Christensen und eben auch Elke Erb zähle, lässt sich der gewählte Abstand zu dem, was als Gedicht gilt, nur durch ein tiefer liegendes, fast naturwissenschaftlich zu nennendes Interesse an Sprache erklären, das schon von Beginn an Bestandteil des Werks ist. Sie benötigen die Transparenzen, Überlappungen und offenen Strukturen als Arbeitsgrundlage, um ihre komplexen Gebilde überhaupt erst entwerfen zu können, und erschließen dem Genre Gedicht damit häufig Neuland.
Gesehen aus einem Abstand von dreißig Jahren, kam Elke Erb bereits im Osten eine Vorreiter­rolle bei der Erweiterung poetischer Ausdrucksmöglichkeiten zu. Eine Vorreiterrolle, die auch eine Vorbildfunktion hatte, die sie womöglich gar nicht suchte, doch die ihr zukam, wegen des prüfenden, nachprüfenden Charakters, der mit ihrem Interesse am Neuen und Zeitgemäßen einher ging. Unter dederanischen Verhältnissen, gegen Mitte der Achtziger, als das Literaturverständnis an den Hochschulen und Universitäten vor einem Teil der Gegenwartsliteratur Halt machte und vieles, was heute zur Literaturgeschichte gehört, noch ganz und gar ausschloss (so etwa die Literatur der Prenzlauer-Berg-Szene und die Konkrete Poesie), empfahl mir ein Literaturwissenschaftler, der nicht nur Interesse an neuer und neuester Literatur hatte, sondern auch über sprachliche Details nachdachte, Elke Erbs Vexierbild. Der starke Leseeindruck wiederholte sich mit Der Faden der Geduld und Kastanienallee, zwei Veröffentlichungen, die das Vexierbild (vom Erscheinungsjahr her) im Vorher und Nachher flankieren. Ich war von den Büchern so fasziniert wie von Brinkmanns Westwärts 1 & 2, und das aus einem Grund, der bei der Unterschiedlichkeit der Schreibweisen vielleicht verwundern mag, doch mir bis heute schlüssig erscheint. Sowohl Rolf Dieter Brinkmann als auch Elke Erb wichen der gelebten Wirklichkeit nicht aus, sie verstanden es, aus den vielen Ungereimtheiten, die sie im Alltag vorfanden, Texte zu machen, die durch ihren Bildcharakter vorführten, dass die Widersprüche den Dingen (im weitesten Sinn) oft immanent sind, sich gegenseitig bedingen, und in der Literatur nicht ausschließlich mit dialektischer Eleganz darstellen lassen, es sei denn, man nimmt in Kauf, dass die Wahrhaftigkeit, mit der sie im Leben vorkommen, zum Verschwinden gebracht wird.
Dass ich beim Schreiben der Besprechung diesen Weg gedanklich noch einmal zurücklege, liegt sicher am Buchtitel. Denn im ersten Moment mag sich das Wort Sonanz anhören wie eine Reminiszenz an die Literatur des Prenzlauer Bergs, erinnert an den sprachkritischen Ansatz dieser Szene, den Rückzug aus der offiziellen Sprachgebung auf das Sprechen, die Wortherkunft und die Wortstämme, kleine und kleinste sprachliche Einheiten. Ich denke dabei an Buchtitel wie SoJa von Papenfuß, der in sich so spielerisch angelegt ist, dass man dahinter nicht nur eine Vorliebe für Sojabohnen oder eine fleischlose Ernährung vermuten darf, sondern (unter anderen Möglichkeiten der Interpretation) ein zusammengezogenes So, Ja! impliziert.
Assoziationen dieser Art führen hier jedoch schnell auf eine falsche Fährte. Das Substantiv Sonanz mutet nur an wie ein Sprachspiel, weil es uns im Alltag, ausgestattet mit einem der Präfixe, als RE-Sonanz, DIS-Sonanz, KON-Sonanz und AS-Sonanz geläufiger ist, in Kombination mit den musikalischen Termini häufiger vorkommt, davon überlagert und überlappt wird. Elke Erb erwähnt in den einleitenden Sätzen bereits das Problem der „Lautleite“, zielt dabei jedoch eher auf die Vorgaben durch den Eigenklang der Wörter ab – während sich mir bei der Lautleite fast automatisch schon die Leitplanken mit aufdrängen, die zwar im Straßenverkehr eine wichtige Funktion erfüllen mögen, aber für Literatur, die nicht auf Fortbewegung im vorgeschriebenen Straßensystem durch zersiedelte Landschaften aus ist und das Gehen in offenerem Gelände bevorzugt, nicht ganz so notwendig sind.
Ein gutes Stück näher heran an die Eigen­bedeutung kommt man vielleicht erst beim Versuch, Sonanz der Einfachheit halber mit Schwingungsverhalten gleichzusetzen. Ein Thema, ein Wort, ein Gegenstand weckt durch seine Eigenschwingung das Interesse der Dichterin −; und dem Schwingungsverhalten, das ihr „subkutanes Wesen“ herauslockt und herausfordert, folgt der deskriptive Blick auf den Gegenstand, der über die Worte, nach und nach, wieder zum Schwingen gebracht wird. Der Weg vom Notat zum Gedicht ist somit fast dem Stimmen eines Musikinstruments vergleichbar – nur dass die Stimmgabel dazu dient, den Textgegenstand Saite für Saite einzustimmen, auf ein zweites und anderes Musikstück, das von der Reduktion auf wenige Tupfer lebt, die den gesamten Reflexionsprozess widerspiegeln.
In diesem Buch gibt es eine ganze Reihe von Arbeiten, auf die hinzuweisen wäre. Ich werde mich an dieser Stelle jedoch auf einen einzelnen Text beschränken müssen, auf den vieles von dem, was Elke Erb in ihrer Einleitung schreibt, mehr oder weniger exemplarisch zutrifft.
Das Gedicht heißt „Anteilnahme“.

Der Fuchs stubst an die Treppe
mit der Nase. Unten. An die Treppe.
Nein, beim Treppensteigen. An die Stufen.
Stubst er.

Prüft er? Sucht er?

– So die Autorin. Man mag in den Anfangszeilen eine zufällige Begegnung vermuten, das Interesse des Fuchses an einer Behausung, den sie mit ähnlicher Neugier wahrnimmt. Trotz der außergewöhnlichen Situation etwas, das jeder sofort für möglich hält, der weiß, bestimmte Tierarten, deren Lebensraum schrumpft, passen sich auf der Suche nach einem geeigneten Refugium mittlerweile dem Lebensrhythmus der Städte und Siedlungen an. Doch man kann sich des Naturalismus der dargestellten Situation nicht ganz sicher sein. Denn der Fuchs gehört schon seit der Antike zur Personnage der Tierfabeln, und seine Anwesenheit in einem poetischen Text ruft darüber hinaus wahrscheinlich bei jedem dritten Leser Assoziationen zu Saint-Exupérys Der Kleine Prinz hervor.
Ziehe ich in Betracht, dass der Fuchs in der Literatur der zurückliegenden Jahre bei zwei weiteren Autoren auf originelle Weise vorkommt, erlebt Reineke möglicherweise gerade eine Renaissance in der Gegenwartsliteratur. Jan Kuhlbrodt schreibt in seinem Gedicht „Rückkehr“ über die Begegnung mit einem Fuchs, der durch die Straßen der Stadt „schnürt“. Er transformiert den zunächst naturalistischen Ansatz über vier Zeilen aus einem Kinderlied, die dem Gedicht als Motto voranstehen, und fügt dem Text damit eine ganze Summe an zusätzlichen, unausgesprochenen Loops hinzu. Durs Grünbein wiederum thematisiert per Gedicht einen Fennek (Wüstenfuchs) in der Altstadt von Sana, der statt der „Hundemarke“ ein „Vorhängeschloss“ um den Hals trägt, von seinem Besitzer dort angekettet wurde, und erzeugt durch beide Details Verweise auf vielfältige Verwandt­schaften zwischen Fuchs und Hund – bei denen man irgendwann schließlich auch die zu Rainer Maria Rilkes berühmten Panther mit aufgerufen sieht.
Dann aber, in der dritten Strophe des Gedichts „Anteil­nahme“ geschieht plötzlich folgendes. „Denn der Mond scheint wieder. / Mondlicht steht mit hohen Palmen. / Hohe Palmen teilen einen Strand.“ – Sätze, mit denen ein Panorama entworfen wird, das nur angedeutet bleibt. Imagination, Klang, Inhalt finden dabei zueinander wie zu einem Abschnitt Doppelhelix innerhalb eines Gedichts. Zwar wird der Text gleich danach wieder aus der skizzierten Aus­dehnung genommen, doch an der Wirkung und Spannbreite ändert das nichts mehr. Die drei Zeilen strahlen so stark auf die anfangs dargestellte Situation aus, dass die Textlogik das weitere Durch­spielen der Imagination nicht nur erleichtert oder ermöglicht, sondern gegeben erscheint.
Eingerechnet die Tatsache, dass nicht mehr jedes gute Buch seinen Weg zu mir findet: Einen solchen Ton habe ich in der deutschen Lyrik lange nicht gehört. Hin und wieder erinnern die Texte an die Leichtigkeit der frühen Gedichte Rafael Albertis, an anderer Stelle, vom Sound her, an die Gedichte Federico Garcia Lorcas, wie sie uns in den Übertragungen von Erich Arendt und Enrique Beck auf deutsch vorliegen. Übertragungen, die auf ihre Art längst selbst zu Klassikern geworden sind, da Beck und Arendt auch dem Klang dieser liedhaften Poesie Rechnung tragen.
Gewarnt sein soll an dieser Stelle allenfalls vor der (manchmal sehr deutschen) Erwartungshaltung, metrische Orgien vorzufinden, anhand derer die Inhalte mit Metronom, Taktstock und Dirigentenstab abgeklopft werden können, sobald die Bezeichnung Lied fällt. Die Musikalität der Arbeiten ent­steht (unter anderem, auch!) aus dem lustvollen Spiel mit den Ambivalenzen rund um die Lautleite; und ihr Legato besteht darin, dass dort kein Wort vorkommt, weil das Versmaß zu erfüllen ist. Es sind poetische Arbeiten, die dem Leser etwas Geduld abverlangen, manchmal unversehens und unerwartet in einem selbst zu schwingen beginnen. Wenn das geschieht, wird der Leser bemerken, dass er mit dem Gedichtband (aus anfänglichen 5-Minuten-Notaten) eines von diesen Büchern gefunden hat, die er wieder und wieder zur Hand nehmen wird – und die man aus diesem Grund lange bei sich (in der Bibliothek) haben möchte, weil sie von ihrem Konzept her so angelegt sind, dass sich dort immer wieder etwas Neues, Anderes entdecken lässt.

Tom Pohlmann, poetenladen.de, 9.8.2010

Denke: Knall

Als der Idiot Elke Erb zum ersten Mal aus ihren Fünf-Minuten-Texten lesen hörte, die unter dem Titel Sonanz als Band versammelt sind, war das in Lana, Südtirol, am 24. Juni 2006. In dem tiefen Tal stand die Hitze wie ein Drescher und in der Bibliothek, wo die Lesung stattfinden sollte, war sie abendlich konserviert. Es floss uns der Schweiß in die Augen. Inzwischen ist die Bibliothek klimatisiert. Damals war sie es nicht. Wann immer die Raumtemperatur die Körpertemperatur übersteigt, tut sich etwas an den Grenzen. Es zeigt sich, dass zwischen innen und außen eine Membran mit unterschiedlicher Durchlässigkeit wirkt.
Dann begann Elke Erb zu lesen, mit jener federnden Energie, die sie unmittelbar von der Stelle zu beziehen schien, an der Welt und Wahrnehmung aufeinander reagieren, ein ungeheuerlicher Vorgang, der alles Mögliche freizusetzen vermag. Medium und Funkenflug. Da war es, als würden innerhalb eines sehr großen Moleküls – groß genug, um alles zu beinhalten, was wir kennen – chemische Bindungen aufgebrochen und neue Bindungen hergestellt. Welche Courage, sich dazwischenzustellen. Der Idiot konnte es kaum fassen, wie nah diese Gedichte an den Dingen waren, und wie unendlich nah sie dem Denken. Unfassbar. Gleichzeitig ist klar: Wenn es jemals etwas zu fassen gab, dann das. Diese wendige Weisheit, die sich selbst organisiert.
Nun hat Weisheit es an sich, dass sie ein Schwellenwesen ist. Ihre Wohnstatt ist die Tür. Weisheit lehrt nicht – sie konsterniert. Sie konsterniert zum Besseren, und sie ist von einem irren Tempo. Langsam wie ein Baumstamm sich rundet, und schallgeschwind dazu. Unlängst sagte Elke Erb, wer das Assoziative ablehne, verzichte auf den Reiz des Ungebundenen, um dann an den Gedanken aufzuschließen (oder den Gedanken selbst aufzuschließen), dass das Assoziative ja gerade das Verbindende und Verbundene sei – denn woher sonst wäre die Bindung zu nehmen?
An diesem heißen Sommerabend aber schien es dem Idioten, als würde Erb sich an der Weltformel selbst zu schaffen machen. Jene Klarheit wies für ihn mit einem Mal nachgerade apokalyptische Züge auf, als ginge es der Welt jetzt an den Kragen. Gleich stellte sich der Idiot eine geheime Schaltzentrale vor, durch die nun ein plötzlicher Aufruhr gehen musste. Wie dort alles alarmiert aufspringt, wie unzählige Hebel, Schalter und Tastaturen betätigt werden und von überallher Administratoren herbeieilen, um perplex auf die sprunghaften Phänomene auf vierhundert Monitoren zu starren. Dann wieder richteten sich panische Blicke auf diesen kleinen Südtiroler Bergort Lana – ausgerechnet von dort! Wir hätten es wissen müssen! In der letzten Sekunde wird es dem aufgescheuchten Team gelungen sein, den Weltlauf zu stabilisieren. Das ist zumindest anzunehmen, im Rückblick, denn es war gut möglich, nach der Lesung unter großen Bäumen in einem lauen Biergarten zu sitzen, wo indes das Spiel Argentinien gegen Schweden auf Großleinwand übertragen wurde. Woran sich sicher zeigte: Es war alles noch da.
In der jüdischen Mystik gibt es die Vorstellung, das Ende der Welt könne auch mit der leisen Unwucht der geringsten Verschiebung anbrechen, indem man vielleicht ein Glas auf den Tisch stellt. Nicht geheimnisvoll raunend, sondern wie eine Verrichtung am helllichten Tag. Oder, wie es die exakte Wissenschaft definiert:

Eine Reaktion kann also durchaus zu einem Endzustand führen, der dem Ausgangszustand gleicht.

Geht es allerdings, wie hier, um eine im strikten Sinn metaphysische Reaktion, wird zudem das Medium der Erfahrung selbst geschult – und das teilt sich mit. Wie sich überhaupt alles mitteilt, was Elke Erb austeilt. Unverständlich ist das nicht, ebenso wenig wie ihre Gedichte unverständlich sind, als was sie unverständlicherweise lange galten. Aber es kommt dem Idioten so vor, als habe sich das kürzlich leicht geändert. Sicherlich kamen ihre Gedichte nicht schlichtend der Stumpfheit entgegen, nein, es muss umgekehrt gewesen sein. Eine andere, sich selbst erneuernde Lektüre ihrer Gedichte wird begonnen haben.

Monika Rinck, aus Monika Rinck: Risiko und Idiotie. Streitschriften, kookbooks, 2015

Aber es ist eben nicht Melancholie

− Gespräch mit Elke Erb über ihr neues Buch Sonanz. 5-Minuten-Notate. −

Vorbemerkung von Annett Gröschner:

Seit Heft 17 beschäftigt sich BELLA-triste mit der deutschen Gegenwartslyrik. Einen Namen aber habe ich vermisst: Elke Erb. Wer bei der Feier anlässlich ihres 70. Geburtstages war, konnte sehen, wie vielfältig ihre Beziehungen zu jüngeren Dichtern (und Musikern) sind, die sich auf verschiedenste Weise mit ihren Texten auseinandersetzen. Zu den 5-Minuten-Notaten, die den kürzlich erschienenen Band Sonanz bilden, war sie durch eine Bemerkung von Ulrike Draesner angeregt worden. Höchste Zeit also, diese Leerstelle zu füllen.
An einem Montagmorgen besuche ich Elke Erb in ihrer Weddinger Hinterhofwohnung. Dafür dass wir uns mitten in der Stadt befinden, ist es erstaunlich still. Später werde ich Vögel, Flugzeuge im Landeanflug und Kinderstimmen auf dem Band finden. Von der Küche reden wir uns ins Wohnzimmer, wo der Laptop steht, in dem die Datei von Sonanz geöffnet ist und aus der Elke Erb im Laufe des Gesprächs anhand von Begriffen das jeweilige Gedicht sucht, an dem sie ihr Vorgehen und ihre Nachlese beschreibt. Irgendwann stelle ich das Aufnahmegerät einfach an.

Elke Erb: Mit dem Buch habe ich mich verwöhnt. Und jetzt sacke ich wieder ab. Als der Winter kam, dachte ich, ich vertrage es nicht, wenn das Licht aufhört. Und jedes Jahr im Sommer schon so ein Herzweh, wenn die Pappel in Wuischke, weißt Du, anfängt, ihre Blätter abzuwerfen. Und du guckst ausgesprochen ungünstig gesonnen auf diese Pappel. – Lacht. – So mit einem feindlichen Blick hin.

Annett Gröschner: Je älter ich werde, desto mehr geht es mir auch so. Obwohl ich meine, früher wäre es im Winter viel dunkler gewesen, weil in Ostberlin so ein Grundton Grau vorherrschend war. Aber damals hat mich das nicht interessiert.

Erb: Ja, das ist wahr. Aber du hast keine Wahl: Du musst dich dir zuwenden. Und es ist jetzt so, als ob ich jetzt mich gestalte, nicht mehr das da, das Buch. Aber das Buch gibt Normen, es sagt: Das und das und das ist mit dir los. Ich habe noch nie ein Buch gehabt, wo so vielfältig Angelegenheiten aufgetaucht sind, die im Verbund miteinander sind. Und die außerdem im Verbund miteinander eine Arbeit ausführen, das ist unglaublich.

Gröschner: Machst Du heute, nach dem Buch, weiter täglich 5-Minuten-Notate?

Erb: Nein, jetzt habe ich die alte Art. Wenn mir was einfällt, dann schreibe ich das in A5-Hefte, wie vorher auch schon. Für die 5-Minuten-Notate hatte ich A6-Hefte. Ich hole die mal, dann siehst Du das. Zwei Jahre, von 2003 an bis zum Sommer 2005 gab es die kompakte Folge von 5-Minuten-Notaten mit ein paar vorher, 2002, und Ausläufern 2006. Außerhalb dessen, und so mache ich es heute wieder, habe ich, wenn mir etwas durch den Kopf ging, das aufgeschrieben in so ein Heft. Und dann habe ich nachher geprüft: Wie sieht das aus, was kann man da holen? Das Erkennen, dass dir da irgendwie plötzlich was aufgeht, hat etwas zu tun mit Poesie. Du merkst: Poesie ist eine Erkenntniskraft. So sind die vorigen Bände gemacht worden. Und bei den 5-Minuten-Notaten sind die täglichen Niederschriften eben einfach hintereinander eingetragen.

Gröschner: Ich habe irgendwo gelesen, dass du die Zeit mit der Uhr gestoppt hättest.

Erb: Nein, das hat der Norbert Hummel geschrieben, aber das ist einfach nicht richtig. Er kann das nicht von mir gehört haben, weil ich weiß, dass es nicht so war.

Gröschner: Das hat mich auch verwundert, weil ich dachte, das würde ja stören, so eine Uhr.

Erb: Natürlich. Nehmen wir den Anfang, 2002: Hier geht das los. Gucke mal: Da habe ich erst noch so hintereinandergeschrieben. Nachher hatte jedes 5-Minuten-Notat eine eigene Seite im Heft. Das Wesentliche ist nicht unbedingt dieser Platz, der auf solcher kleinen Seite ist, sondern, du hast plötzlich ein inneres Maß aufgenommen und machst es nicht länger. Das ist interessant. Es ist offenbar sehr leicht, in uns eine Art Maß zu setzen, wie auch Leute es schaffen, aufzuwachen zu einer Zeit, die sie sich vornehmen.

Gröschner: Hattest Du feste Zeiten, an denen du dich täglich hingesetzt hast?

Erb: Nein, überhaupt nicht. Ich habe auch mal Tage gehabt, wo ich nicht eingeschrieben habe, manchmal an mehreren hintereinander sogar nicht, und dann musste ich das irgendwie aufholen.

Gröschner: Es fehlen ja manchmal Tage im Buch, haben diese Notate deinem kritischen Auge nicht standgehalten?

Erb: Die Ausbeute liegt ungefähr bei 60 Prozent. Und das ist schon ziemlich hoch. Es formiert sich eben. Das Verrückte ist, wie unterschwellig angesprochen doch eine bestimmte Aktivität gerufen worden ist von mir, schon indem ich das Notizbuch öffne und das Datum drüberschreibe. Und das holt dann sehr, sehr viel Bereitschaften heraus. Was mich sehr verblüfft hat, war, dass es selbständig weiterarbeitet.

Gröschner: Du hast von halb-automatisch geschrieben, wohingegen ja die Surrealisten eine écriture automatique behaupten, also vollautomatisches Schreiben.

Erb: Ich habe keine richtige Vorstellung, wie das bei ihnen lief, denn ganz automatisch kann so ein gekonnt surrealer Text gar nicht sein. Da muss ja eine bestimmte Interessenlage an dem Vermeiden von normalen Fügungen vorgewirkt haben. Und auch wenn ich sage: Das war nicht Oberstübchen-Arbeit, ich sehe doch, dass die Intelligenz während des Niederschreibens schon da ist, dass die fähig ist, etwas von vorgestern weiter zu führen von einer Entdeckung zur anderen. Und das Lebewesen, das da gerufen ist, habe ich erst im Sommer 2007 erkannt, verstehst Du? Weil da dieser Band zum Abschluss kam.

Gröschner: Also in dem Moment, als du die Endfassung schaffen musstest.

Erb: Seit 2005 habe ich die Texte im PC bearbeitet, und nachdem ich durch alles durch war, nochmal und nochmal. Ich habe auch viele Texte immer wieder öffentlich vorgelesen.

Gröschner: Also Du hast ausprobiert, ob die funktionieren beim Vorlesen?

Erb: Ich hatte schon vorher die Meinung, dass die funktionieren. – Lacht. – Nur, die Highlights wechselten. Und dann waren welche immer liegen geblieben. Und die musste ich nun auch noch hochholen und sehen, ob sie gehen oder wo mich etwas störte.
Der allererste Bearbeitungsprozess war sehr großzügig, da habe ich fünf, sechs solche Texte am Tag bearbeitet. Das kannst du dir nicht vorstellen, wie schwindelerregend das ist und wie erschöpfend auch. Aber das ist so ein Sog. – Lacht.

Gröschner: Auch beim Lesen entsteht ein Sog. Es ist mir mit Sonanz zum ersten Mal so gegangen, dass ich ein Buch von dir von vorn nach hinten gelesen habe. Ohne mich beim Blättern darin von Wort zu Wort leiten zu lassen.

Erb: Tatsächlich? Ich höre das auch von anderen, aber ich kann es ja selber gar nicht wissen. Und ich habe auch wirklich eine andere Geschichte damit. Seitdem ich das Manuskript druckfertig abgegeben habe, bin ich nicht mehr die Autorin. Die Texte sind nicht mehr mein Objekt, sondern ich bin ihr Objekt. Und das läuft dann so ab, dass ich auch geschüttelt werde von Erschütterungen, dass das da geht. Du gehst an den Text und denkst, na, den kennst du doch? Und auf einmal siehst du, was der macht. Wenn du an einem Text arbeitest, gehst du in der Furche, du hast keinen Über-Blick, du kannst den nur von unten bauen.
Ich habe in dem Bearbeitungsprozess Inhaltsverzeichnisse angelegt, und da habe ich hingeschrieben: Der Text ist gut, und der ist gut, um es mir zu merken. Denn es ist durchaus so, dass ein Anderer da kommen kann und gar nichts merkt, wie ich das ja auch von mir selbst erlebt habe.

Gröschner: Und verändert sich das, wenn du die Texte nochmal liest, oder bleibt ein Text, der für gut befunden wurde, gut?

Erb: Nein, wenn ich das notiert habe, bleibt das so. Und offenbar, da ich ja erst seit einem halben Jahr ungefähr ihr Objekt bin, werde ich auch besser.

Gröschner: Im Lesen.

Erb: Im Lesen, ja, das ist Wahnsinn. Die Leseenergie ist ja auch eine ästhetische Energie. Irgendwann im Januar musste ich mir klarmachen: Das geht gar nicht darum, dass da was Arges dargestellt ist. Sondern das, was dich wirklich erschüttert, ist, dass du schaffst, es zu benennen, dieses Wunder von Artikulation. So. Und ich bin dann auch wirklich mein eigenes Objekt. Es ist, als wenn du einen Text von jemand Fremdem bearbeitest.

Gröschner: Vielleicht liegt das auch daran, dass es eben wirklich dieses halb-automatische Schreiben war, oder?

Erb: Ja, sicher, natürlich.

Gröschner: Und dass es dieses Unter-der-Haut-Weiterschreiben gibt.

Erb: Du musst es bloß, das sage ich jedem, ein paarmal machen, dann siehst du, wie das läuft. Ich bin ja trainiert, auch durch die Nachdichtungen. Wenn das jetzt losgeht, dann hast du ein Wort, und das nächste Wort schließt sich an, reimt sich blöd, ja, und dann denkst du: Eh, das wird wieder nix, Elend, Elend. Und auf einmal, so drei Zeilen, vier Zeilen später beginnt etwas, sich zu formen. Dann bist du Objekt einer Energie, die du nicht selber bewusst geleitet hast.

Gröschner: Du hast in deiner Vorwort geschrieben, dass Ulrike Draesner dir den Rat gegeben hat, wenn du während der fünf Minuten stockst und nicht weiterweißt, du immer das gleiche Wort aufschreiben solltest. Ist dir das öfter passiert?

Erb: Zweimal vielleicht, höchstens dreimal auf ungefähr 700 Notate, aus denen dann 450 Gedichte wurden.
Die positive Idee war, alles zu überlisten und einfach nur dasselbe zu sagen. Das war für mich das, was ich die Null nenne. Ich habe solch eine eine Begeisterung für Null – Lacht –, weil in der Null kannst du wieder umkippen. Genau das hat mich gereizt. Nicht etwa der Ehrgeiz, jeden Tag was aufzuschreiben, ich bin so nicht zu locken. Es war auch nicht etwa so, dass Ulrike Draesner mir angeraten hat, wie ich meine nächsten Texte zu schreiben hätte. Sondern sie hat mir nur von den 5-Minuten-Notaten erzählt, und ich starre und denke: Nee, das könnte ich nicht. Ich wäre nicht imstande, ich kann ja schon bei arger Krankheit nicht regelmäßig Tabletten nehmen. – Lacht. – Und es ging dann aber doch.
Und viel entstand nachts. Also sie hat es am Tage nicht geschafft, da hat sie in der Nacht was geschrieben, sie hat am Morgen geschrieben, sie hat beim Einschlafen geschrieben. Wenn der Tag vorbei war, hat sie sich erinnert, dass sie da noch was abzugeben hat.

Gröschner: Und bei dir war das dann auch so?

Erb: Bei mir? Ich habe jetzt von mir geredet. Der unmittelbare Grund, der in einem Lebewesen ist, der meldet sich.Das ist das Verrückte.

Gröschner: Es gibt von Christa Reinig den Band Müßiggang ist aller Liebe Anfang. Da hat sie über längere Zeit auch jeden Tag Notate geschrieben, immer so in Rede-Gegenrede, immer vierzeilige Verse.

Erb: Es gibt wahrscheinlich sehr verschiedene Formen des täglichen Notierens. Ich habe ein dickes Buch von Elfriede Czurda, die auch zwölf Zeilen jeden Tag gemacht hat, und zwar regelmäßig. 365 im Jahr, wenn sie nicht ein bisschen gepfuscht hat, und zwar nicht bearbeitet. Ich habe ein bisschen reingeguckt, um zu sehen, wie sie das macht. Es beginnt mit so einem Mischmasch, und das verschärft sich. Wahrscheinlich kann man Prozesse ablesen, wo dann plötzlich ein Text vollkommen klar Gedicht ist. Weil: das Lebewesen ist mit Zieltalenten versehen. Es ist zielstrebig, es will wohin. Dass der Mensch ein lernendes Wesen ist, habe ich viel früher schon verstanden. Dazu gehört allerdings, dass er ein Ziel nicht aufgibt. Das heißt, wenn du das jetzt nicht abtötest in dir und abstumpfst, das kannst du auch machen, dann bist du hin. Dann willst du einkaufen. – Lacht. – Also dieses Abtöten in sich ist ja manchmal stärker, manchmal weniger stark. Aber das Tolle ist, wenn man so ganz bei sich sein kann, und ich finde, meine Texte sind ganz oft bei sich.

Gröschner: In einem deiner jüngsten Bände Mensch sein, nicht, da wechselt das zwischen Notaten und Gedichten. Bei Sonanz dagegen ist das so ganz gebunden, bis zum Reim.

Erb: Mensch sein, nicht hieß im Untertitel Gedichte und andere Tagebuchnotizen. Worauf ich übrigens stolz war. Es hat mich dann geärgert, dass da Leute kamen und sagten: Aber das ist doch ein Gedicht! Wenn ich es Prosa nenne, ist es Prosa. Da hat keiner mir zu erzählen, das ist ein Gedicht. Sie hören nicht, was man ihnen hinsetzt. Die Verehrung verdummt, von vornherein betreten sie einen heiligen Bezirk, und das verdummt. Wenn ich Gott wäre, würde ich sie rausschicken aus meinem Tempel. Hör mal! Das geht nicht! Sie infantilisieren sich und dann wundern sie sich, wenn sie nichts verstehen.
Es kann allerdings auch Tausende andere Gründe haben, nicht mitzukommen. Ich kann ja unter Umständen auch selber plötzlich blind sein gegen ein Gedicht, von dem ich sogar weiß, dass es mich schon erschüttert hat.

Gröschner: Deine Texte brauchen Zeit, um gelesen zu werden. Mir geht es jedenfalls so. Und das ist auch das Problem für Rezensenten. Das ist ein schnelles Geschäft. Es ist doch oft so: Man bekommt das Buch und soll es bis übermorgen besprochen haben. Da hat man es vielleicht innerlich noch gar nicht erfasst.

Erb: Man kann doch nicht von einer ungegessenen Mahlzeit aufstehen!

Unterrichtung 1: Rundum

Erb: Ich meine jetzt aber selber: Man kann nicht jeden Text verstehen. Ich gehe jetzt mal im Computer in die Datei „Gesamt“ und hole „Mais“. Da ist es:

Rundum

Siebengestirn eines Vogels Bootes
Das Wasser des Quais oder Morgens
Unbeseelt nicht Niemand /
rudert Es lodert

ludert Bootskiel Schiffskiel Bug
Wie jener Jungfrau Profil (Fischfrau
Fischschwanz das Bäuchlein kugelrund
tanzt) Sie ruhten nicht wenn der Mond

schien Sie hatten die
Sinne beisammen Rechts Links
wie unlängst Ergrauen-
der Hain Gebüschrest

am Hügel Wie Wolkenriff
Am Hügelrücken am Mais
kam der Abend Rötete ihn

Die Ilma Rakusa gibt eine poetologische Unterrichtung für Studenten, da hat eine diesen Text mitgebracht. Und dann hat Ilma mich gefragt, wie denn der Zusammenhang ist, sie hätten ihn nicht finden können. Das ist doch interessant, nicht. Ich wusste es ihr nämlich auch nicht zu sagen, verstehst du? Ich habe mich danach gefragt: Wie läuft denn das jetzt hier? Ich habe auch im Notizheft nachgeguckt: Es ist auch hier schon gewesen. Wenn du bewusst arbeitest, bringst du Dinge zusammen, die eigentlich in deinem Wesen nicht zusammengehören. O.K., darfst du machen. Dann musst du aber ein ziemlich guter Verwalter von beiden Seiten sein, meine ich.
Also hauptsächlich haben sie nicht begriffen, wie ich plötzlich auf den Hügel komme. Dann haben sie auch gewisse Zeichen nicht beachtet. Ergrauender ist groß geschrieben, das heißt: Da beginnt die neue Setzung. Und dann ist da Ergrauen und dann ein Bindestrich, und dann kommt der Hain. Das habe ich die ganze Zeit gemacht: Ich habe immer Teile aus Verbunden gelöst und selbständig werden lassen, immer wieder und immer wieder. So etwas, wenn du das massiv tust, immer wieder tust, das weißt du doch nicht, dass du das tun willst. Das kannst du dann nur feststellen hinterher.

Gröschner: Ich habe es als schweifenden Blick gelesen: Man sitzt in dem Boot, der Blick kommt so über die Wolken zum Ufer, und dann sind da…

Erb: … Hügel. Du hast dir also so eine Art Laufsteg unter die Füße gedacht dabei.

GRÖSCHNER: Ja…

Erb: Aber es ist eben nicht von außen etwas, sondern von innen zusammenhängend. So, jetzt habe ich begriffen, was das verbindende Wort ist, es ist das Wort ‚lodern, – Es lodert. – Das Wasser des Quais oder Morgens, offenbar sogar Morgenlicht. Und dann kommt am Ende Abendlicht: kam der Abend Rötete ihn ist eine deutliche Klammer. Und außerdem am Hügel Wie Wolkenriff. Der Himmel ist da. Dann die anderen Sachen. Dieser Text hier ist natürlich nicht für einen Normalverstand die günstigste Anlage. – Lacht. – Ja, aber es ist…

Gröschner: Das macht aber auch den Reiz aus, nach Verbindungen zu suchen.

Erb: Es sind da Verbindungen, sicher. Kam der Abend Rötete ihn. Wenn du das nimmst und würdest das umdenken in eine skulpturelle Veranstaltung, dann wäre das sogar leichter.
Ich habe selber vielleicht zweimal, nein dreimal im Leben bei jemandem gedacht, den ich las, sehr schwierig, einmal bei René Char und jetzt zuletzt bei Ilse Aichingers Gedichten. Davor war noch Thomas Bernhard. Aber bei Bernhard war es noch etwas anderes. Da habe ich Texte gelesen und gedacht: Das kann man nicht lesen, das muss man tun. Bei den anderen beiden war die Lösung, ich muss das stereo lesen, ich muss Stereoräume wahrnehmen.
So, also nimm mal Stereo, eine nicht-plane Verteilung, wenigstens die eine Ebene mal abgelöst in den Raum. Und dann kannst du ja noch weitergehen. Vielleicht wirst du dann dazu kommen, dass du siehst: Da ist ein Lodern. Und irgendwie läuft dann dazwischen was. Dann kommt ja auch der Mond noch, ja? Der Mond als das pure Licht. Sie hatten die / Sinne beisammen. Da kommt ja schon eigentlich Ergrauen- / der Hain Gebüschrest // am Hügel Wie Wolkenriff. Ich ergehe es ja auch, es entwickelt sich ja auch: Am Hügelrücken am Mais / kam der Abend Rötete ihn. Da geht die Sonne also unter. Und auf einmal wird der Mais gerötet. Das haben wir in Wuischke gesehen, da sind wir abends noch oben auf dem Hügelrücken gegangen, Brigitte Struzyk und ich, das war irre. Da war so ein Maisfeld und die Sonne ging unter. Und auf einmal gucke ich, da ist das ganze Maisfeld rot geworden, enorm. Es lodert, wieso lodert es? Man kann auch einfach den Eingebungen folgen, man lässt das jetzt eben lodern.
Wieviel Figur und Gestalt ist in vier Worten drin? Siebengestirn. Das hat der Vogel zur Orientierung, das hat das Boot zur Orientierung, dann kommt Das Wasser des Quais, wo sie liegen, oder das Wasser des Morgens. Aber was ich jetzt beim Lesen wiederfinde, ist: Unbeseelt nicht. Sowas Interessantes, ja? Da ist schon Seele, das ist auch so im anti-hierarchischen Trotz. Es ist da schon etwas. Was jeder kennt, der irgendwie in diese grüne Angelegenheit eingetaucht ist, seelisch. Wenn du das dann aber aktivierst, dann sieht es so aus: Es lodert. Und da das jetzt offenbar der Morgen ist, ludert der Bootskiel, weil das Boot ja noch rumliegt. Und dann geht es in die Aktivität nachher. Das war das einzige, was ich Ilma sagen konnte, die Fischfrau, die Jungfrau, das ist eine Galionsfigur, das ist eine unerklärliche Obsession. Ich habe immer wieder und immer wieder diese Galionsfigur. Dahinter sind natürlich Meerfahrt-Phantasien, da wusste ich auch nicht, dass ich die habe. Das ist wirklich so, dieses Lebewesen nimmt einen Kontakt zu vorkulturellen, vorbewussten Beziehungen oder Gegebenheiten auf. Das auf das Meer fahren beginnt eigentlich mit Siebengestirn. Siebengestirn heißt Orientierung. So. Und dann Sie hatten die / Sinne beisammen Rechts Links / wie unlängst ist auch toll. Noch kann man sich doch leicht erinnern.
So. Ergrauen- / der Hain, jetzt geht nämlich Abend los, ja? Da ist unter alles das unter einen Tag gelegt, mit allerdings unterschiedlichen Landschaften.

Gröschner: Ich habe die zusammengedacht.

Erb: Ja, geht ja auch. Es könnte die Sonne untergehen am Meer, und dann steht auf dem Hügel Mais.

Gröschner: Ich dachte an Seenlandschaften vor Endmoränen, in Mecklenburg beispielsweise, jeder sieht ja andere Landschaften.

Erb: Schiffskiel und Jungfrau Profil ist eher schon Meer. Und: Sie ruhten nicht wenn der Mond // schien Sie hatten die / Sinne beisammen heißt: lange Fahrten, die mussten doch sonstwas tun, die mussten doch ständig auf der Hut sein und wach sein. Das kommt öfter: Alle diese Seefahrtsachen, feindliche Angriffe, feindliches Meer. Die längste Zeit war das Meer feindlich. Ich habe jetzt auch noch mal gelesen, dass in der Antike die Kombination zwischen Seeräuberei und Handel manchmal richtig halbe-halbe war. – Lacht. – Sie waren sowohl Seeräuber als auch Händler.
Du hattest mehrere Fragen, wir müssen ein bisschen dran denken, dass du etwas Verwendbares zusammenbekommst.

Gröschner: Ich finde es besser, assoziativ vorzugehen, als Fragen abzuarbeiten. Was mir aufgefallen ist, dass in diesem Lebewesen, von dem du sprichst, was da so unter der Haut auch schreibt, so wenig, ich sag mal, politisch-ideologischer oder technischer Wortschatz ist. Es gibt nur wenige Ausnahmen, einmal, wo zwei Frauen sich unterhalten, kommt z.B. Das Rad der Geschichte zurückdrehn vor. Aber sowas ist eher selten.

Erb: Ja, das ist in Zwei Plaudertaschen auf dem Bahnhof. Aber normalerweise hat man doch die Polit-Ideologie nicht in den Knochen?

Gröschner: Aber doch die Worte, die ständig wiederholt werden in der Öffentlichkeit, die man aufschnappt aus der Zeitung, die so im Unterbewusstsein präsent sind, aus der Kindheit noch oder weil man täglich mit ihnen konfrontiert wird, ein Wort wie Computer beispielsweise.

Erb: Du meinst den Zivilisations-Wortschatz insgesamt. Da habe ich mir manchmal Mühe gegeben, den extra zu holen. Was kann ich dafür? Zum Beispiel hier dieser Text fast am Ende, dieser Sven Hedin-Text da, Im Hof. Natürlich geht der auf die Kindheit zurück. Und die Kindheit stellt die stärksten Ansprüche an Orientierung, nachher verliert sie sich und du wirst geleitet. Zum Beispiel ist es mir unangenehm, auf einen Flughafen zu gehen. Weil etwas Ungeheures beginnt: Du gehst in die Luft. Und da wird eigentlich der Orientierungssinn doch scharf angesprochen. Stattdessen wird so eine Logistik-Abfolge eingebaut, der du zu folgen hast, also wird dein eigentlicher Orientierungssinn sowas von abgewiesen, da ist das In-der-Liebe-Verlassensein ein Scheißdreck dagegen.

Gröschner: Das wird ja in Den Flughafen Kopenhagenthematisiert.

Erb: Ja, und in dem Text Im Hof sind die Milchkannen ein großer Eindruck. Da ist so ein kleiner Tisch aus Holz, steht vielleicht unter dem Kastanienbaum. Und da haben sie aus dem kleinen Ort die Milchkannen hingestellt, so kniehohe. Und dann kommt der Kutscher und scheppert. Das Ohr hast du voll davon. Ich hörte sagen: // Blech an Blech gestellt es scheppert aufgeklärte Welt. Milchkutscher Milchkannen im Dorfe.

Gröschner: Das Wort Milchkanne ist mir nicht aufgefallen, aber es gibt so eher geometrische Worte, wie Kante.

Erb: Richtig. Das Auftauchen der Kante hat mich sehr verwundert, ich wusste nichts von dieser Obsession.

Gröschner: Zweimal taucht Elektromast auf. Einmal in der Verbindung mit Schweinemast. Das Wort Straßenbahn kommt mehrfach.

Erb: Auto und Autoreifen, Kühlerhaube und sowas kommen mit Absicht. Was ganz fehlt, ist wohl Computer, Technik und alles, was die neue Generation jetzt ganz leicht gebraucht.

Gröschner: Das war nicht „Unter der Haut“, oder hast du das bei der Bearbeitung weggestrichen?

Erb: Nein. Das war nicht drin. Ich hatte anfangs schon einen Widerstand gegen Wolken und Waldrand. Und dann habe ich gedacht, wenn ich jetzt hier mit diesem Prozess fertig bin, dann muss ich dasselbe nochmal unternehmen und Wolken und Waldrand vermeiden. Ich weiß nicht, ob ich es nochmal mache. Und dann diese Obsessionen. Unter denen ist am ehesten noch die Kante ein wirklich zivilisatorischer Begriff. Denn da hast du die Hauskante, Haus kommt oft, zum Beispiel, es gibt etliche regelrecht die Zivilisation angreifende Texte, über Architektur zum Beispiel.

Unterrichtung 2: Einsicht

Einsicht

Die an die Scheunenluke gestellte Leiter und
das Stroh unter ihr. Unkraut unten. Das alte Lied!
Was? Ländliches Ambiente, wie kann ich so
halsstarrig sein?

Städtisches taugt nicht. Zur Einsicht. Mir nicht.
Wozu, wozu? Dazu, dazu. Ein Stroh-Wort ist das.

Kaum weiß ich den Sinn, noch. Habe mit seinem Laut
nicht mehr Kongruenz als ein Schaf.
(Das Schaf freilich ist das Maß).

Das Wort Einsicht, es ist eine Himmelsspore.
Es ist nicht mehr als der Himmel selber.
Eisenbahn, ja sie fährt.

Gröschner: Es gibt eine Zeile in Einsicht, die mich beschäftigt hat: Städtisches taugt nicht. Zur Einsicht.

Erb: Mmh, richtig.

Gröschner: Da habe ich mich gefragt, hat das Lebewesen das geschrieben, oder ist das im Nachhinein bei der Bearbeitung dazugekommen?

Erb: Dann werden wir ganz genau nachgucken, ob das beim Niederschreiben schon da war. Ich würde meinen, ja. (Holt das Notizbuch mit den Urtexten) Die Stadt aber ist da in den Texten. Das ist nicht nur Naturbereich.

Gröschner: Nein, das meine ich auch nicht.

Erb: Immer wieder habe ich das Ländliche. Ich schwöre dir, ich habe Dinge erlebt beim Abschreiben, da musste ich nachgucken: Bin ich jetzt in Wuischke? Nein, das habe ich im Dezember geschrieben, da war ich in Berlin. Es ist eine starke Eintragung von der Natur in mich passiert, was gar nicht anders möglich ist, wenn du bis zu deinem elften Jahr, wo schon fast der Kopf beginnt, auf dem Land aufgewachsen bist. Alles wird dekliniert durch das Land, da hat die Stadt überhaupt keine Chance.

(Sucht unter dem Datum 11.11.04 im Notizbuch. Der dort notierte Text ist, bis auf die fehlenden Zeilensprünge, die Überschrift und drei, vier, in der Druckfassung weggelassene oder ausgetauschte Worte, identisch mit Einsicht im Buch.)

Erb: Genau. Na, guck dir das mal an. Da kriegst du einen Eindruck von der Authentizität eines solchen Textes, ich habe das wirklich geholt. – Lacht.

Gröschner: Ich dachte, die halbautomatischen Texte seien weniger ausgereift.

Erb: Warum sollte ich da stören, wenn das O.K. ist? Und was die Bearbeitung betrifft, was als Rest blieb dann im Sommer 2007, waren alle diese Listen-Gedichte, die mit Wortfolgen arbeiten, aus denen sich manchmal eine Figur löst. Einen Teil davon habe ich verworfen und einen anderen gelassen. Plötzlich, wo ich versuchte, da etwas zu ersetzen, begriff ich, welche Leistung ein solches Listen-Gedicht darstellt, was Rezensent Sowieso wahrscheinlich als roh bezeichnet. Wie gesagt: Während du arbeitest, bist du klug, wie du bist, aber du siehst es nicht. Du bringst alles heraus wie die Muschel die Perle, wobei die ja nicht arbeitet, die sondert ja bloß aus. Erst viel später kannst du das sehen.
Ende September 2007 hat einer aus Leipzig ein Interview gemacht. Und da habe ich dann gesagt: Diese Listen-Gedichte, die haben mir noch am längsten Sorgen gemacht. Und fing an, ihm den Anfang des Buches mit Nobel // Perlen Stieben Brunnen-Stäube / ferne Nebel widrig lies sie // in der Klause die im Walde aber / einem Klosterbruder usw. vorzulesen. Dann kommt als zweites Brandmauer Haufenwolken Eklektizismus / Seine Wangen röteten sich // Abraham Salomon Abrakadabra. Weißt du, ich lese ihm vor, auch das dritte mit der Anfangszeile Regenbogen, nein Geigen wie gelogen, und sehe, das ist der Typ, woraus sichdann etwas entwickelt. Abraham Salomon Abrakadabra / aber die Straßenbahn fuhr – und übrigens hier, was hast du hier? Die Straßenbahn, die Zivilisation läuft.

Gröschner: Brandmauer Haufenwolken Eklektizismus ist eines meiner Lieblingsgedichte, weil da das wunderbarste Wort des Buches steht: Umkehrbogen. Für mich ist das anders. Ich bin in der Stadt aufgewachsen, und ich gucke auf Urbanes. Für Wendeschleife Umkehrbogen zu nehmen, ist für mich eine Entdeckung. Das habe ich mir jetzt mitgenommen.

Erb: Ich hab es dir gegeben von dem lebenden Eiweiß, das wir in uns haben, und nicht vom Sachbuchsortiment her.
Wendeschleife ist ja nun wirklich auch sehr ungenau, Umkehrbogen ist viel ökonomischer gesagt.

Gröschner: Eine Straßenbahnendstelle bildet nur ganz selten eine Schleife, es ist fast immer ein Bogen.

Erb: Genau, es ist eindeutig das bessere Wort.
So. Jetzt lese ich also dem Interviewer diese Listen-Gedichte vor und dann mussten wir beide lachen. Da habe ich gedacht, dann muss es geschafft sein. Und da erst habe ich gedacht, so, jetzt gehe ich da nicht mehr ran und ändere das nicht mehr. Du musst in etwas sehr weit hineingehen, du musst dich lange damit beschäftigen, wenn es aber den Effekt gibt, dass man dann lachen kann, dann ist offenbar das geschafft, was zu schaffen war.

Gröschner: Du hast geschrieben, dass du die von dir so bezeichneten Lautleiten von einem Wort zum anderen als bevormundend empfunden hast.

Erb: Das Lebewesen empfindet die Bevormundung. Das nächste Wort, durch das erste bestimmt, bestimmt, wie das nächste Wort lautet.
Sagen wir mal, du fängst an mit Glauben, und dann sagst du: Rauben, was ja schon nicht ganz dumm ist, ja? – Lacht.Dann sagst du: Trauben, und dann sagst du: Klauben. So eine Reihenfolge ist eine Bevormundung. Das „au“ bestimmt. Du hättest es auch eine Maschine machen lassen können. Es findet vieles so statt, auch im Gedicht. Andererseits sind solche Maschinen ja nun auch nicht unbedingt der letzte Dreck. Ich habe ja öfter im Text mich wieder bekannt zu festen Gestellen, zu festen Bindungen, Bildungen, so eigentlich was die Ratio kann.

Gröschner: Du sprichst von: Zugetragen. Angelandet. Bewahrt. Das finde ich sehr treffend formuliert für das, was du gemacht hast.

Erb: Übrigens, im Klappentext des Buches steht die Begründung für den Hans-Erich-Nossack-Preis: „Elke Erb versteht es wie kein anderer Schriftsteller Dinge und Wahrnehmungen zu betrachten und zu bedenken und nicht nur zu benennen und zu deuten.“ Das habe ich sehr interessant gefunden. Bei mir hat sich der Satz allerdings verkürzt zu: „Elke Erb versteht es, Wahrnehmungen wahrzunehmen.“ Ich gucke mir an, was tut die denn da? Das ist nicht das Naivchen vom Lande, was sich da bewegt, sondern es studiert alles, was geschieht, mit sämtlichem Know-how, das es hat oder zu entwickeln fähig ist aus diesem Lebewesen.

Gröschner: Wahrnehmen ist für mich ein wichtiges Wort im Zusammenhang mit deinen Texten. Für mich ist das bei jedem neuen Buch ein Abenteuer, deiner besonderen Wahrnehmung zu folgen. Manchmal gelingt es mir und manchmal nicht. Und wenn es mir gelingt, kann das ein Glücksmoment sein. Das erste Gedicht von dir, bei dem es mir so ging, war in dem Band Kastanienallee, gleich das erste, das endet mit den toten, selbstvergessenen Mäusen.
Das Wort selbstvergessen im Zusammenhang mit Mäusen, das war deine ganz besondere Wahrnehmung.

Erb: Richtig. Wie kriegst du das zusammen?

GRÖSCHNER: Es gelingt mir, oder es gelingt mir nicht. Dasselbe war es bei Winkelzüge, mit dem die Treppe hochzählen, da war es allerdings auch durch eigene Erfahrung gedeckt. Also der Punkt ist immer, wie komme ich rein: Bei Sonanz gab es beim ersten Blättern zwei Eingangspforten. Die eine war das Wort Umkehrbogen, die andere Das obere und das untere Haus im Gedicht Cadenabbia.

Erb: Aber übrigens: Mit dem Wahrnehmen von anderer Wahrnehmungsmöglichkeiten beglückt man sich. Das ist so schön, weil du dann nicht mehr alleine bist, weil dann jemand auch wahrnimmt. Indem er eben anders als du wahrnimmt, ist er der andere, der auch wahrnimmt. Dann ist es beglückend, das zu sehen. Da reißt man die Augen auf und staunt.

Gröschner: Mir ging es auch so in dem neuen Band bei dem Gedicht Spiegelung, bei der Zeile: Ich will nicht über eine Brücke gehen, die pons heißt.
Das meine ich ja mit der anderen Wahrnehmung. Jeder andere würde sagen, ich geh nicht über die Brücke, weil sie schief und krumm ist. Das ist ja eine Erweiterung.

Erb: Das ist so schön, das ist so schön. Das nährt das Herz. Das ist dann Beweis für das Leben.

GRÖSCHNER: Ja, auch für ein Leben, das man selber so nicht hat. Aber dann kommt jemand und macht es einem begreiflich.
War das eine bewusste Entscheidung, die Entstehungsdaten ans Ende des Buches zu setzen und nicht unter die Gedichte, wie in anderen Bänden von dir?

Erb: Die Gründe weiß ich jetzt nicht mehr genau. Aber es gab, wenn ich das einfach mal als Zeugin sagen kann, Überlegungen, es zu tun. Ich glaube aber, wir haben uns dagegen entschieden, um die Gedichte nicht zu stören.

Gröschner: Eine Frage ist für mich: Würde es etwas verändern, wenn ich nicht wüsste, dass das Fünf-Minuten-Notate sind? Ich kann das jetzt nicht genau sagen, weil es mir ja von Anfang an bekannt war.

Erb: Wenn ich jetzt mal selber überlege, dann würde ich meinen: Ich betrete einfach ein quickes Gebiet. Das Ganze ist sehr quick, da kommt das, dann kommt das, dann kommt das. Warum solltest du jetzt überlegen, wo es herkommt? Es ist Lebendiges. Quick ist das Wort eigentlich. So, gucke, wie ich jetzt wieder neu anfange in Einsicht, das ist die Gestik von jemand, der sich etwas überlegt. Und dann kommt: Habe mit seinem Laut / nicht mehr Kongruenz als ein Schaf. Gut, was? Und da hast du auch noch Habe und Schaf. Und dann kommt Maß, weißt du? Das ist wirklich eine entschiedene Laut-Bedienung, ein Laut-Ablauf, das wird geschrieben wie auf Laut-Partituren. (Das Schaf freilich ist das Maß). Nochmal ein Gedanke, aber ganz anders angesetzt. So wie ich auch das Kamel habe. Wo war das jetzt? In Puls Da kommt ein Kamel, und dann sehe ich das, und dann ist das ein Schiff. Und ich schwöre dir, dass das Wort Wüstenschiff für Kamel während der Notiz nicht in meinem Kopf war. Das Kamel hat diesen Bauch, und auf einmal hast du das Schiff. Das heißt, dass du in dir das Kamel und das Schiff hast. Und vielleicht taucht ein Kamel auf, weil du ein Schiff vor dir hast innerlich, weil das Schiff so eine Präsenz hat in dir.

Gröschner: In den Schulaufsätzen über die Kriegszeit, die ich herausgegeben habe, haben die Kinder das Leben im Luftschutzkeller beschrieben und versucht, Metaphern zu finden für das Gefühl während eines Luftangriffs. Und dann kam so etwas wie: Der Keller schwankte wie ein Schiff auf tosendem Meer. Die Kinder waren alle nie auf dem Meer, die meisten hatten es noch nicht einmal gesehen.

Erb: Richtig, richtig, richtig.

Gröschner: Heutzutage kannst du dir ja alles auf den Bildschirm holen, aber damals hat man vielleicht Robinson Crusoe gelesen oder Die Schatzinsel. Trotzdem war es diese Metapher, um das Gefühl des Schwankens zu beschreiben.

Erb: Die spielten ja auch sicher auf Pfützen mit Papierschiffchen, oder?

Gröschner: Aber auf hoher See waren sie nie.

Erb: Es ist auf jeden Fall gegenwärtig. Und du siehst ja, dass ich es richtig hole, das Meer. Da kommt das, wo man auf die Gestade blickt, wenn man vom Meer her kommt, und solche Dinge. Und dann dieses Feindliche, das ich durch Lektüre habe. Du musst Sieben gegen Theben lesen oder über die Römer, die die Etrusker besiegt haben. Da spielten schon Schiffe eine Rolle. Ich musste jetzt die Schiffe entgegennehmen. Und dann auf der anderen Seite immer obenauf auf dem Meer, immer obenauf mit meinen Witzen, die ich übrigens auch als Rheinländerin habe.

Gröschner: Aber um auf das Wort „quick“ zurückzukommen, quicklebendig, ich finde, ja, dass der Tod wenig präsent ist.

Erb: Mmh, mmh? Nein, er wird ständig, er wird sehr oft dekliniert. Er wird behandelt.

Gröschner: Ja, er taucht immer mal auf, als Vergänglichkeit.

Erb: Wenn ich sage, dass ich bei den Bearbeitungen nach und nach wahrgenommen habe, dass diese Notate intelligenter sind als ich, als ich bewusst mich erlebe, dann geht es auch darum, dass sie existentielle Probleme behandeln. Und da ist, dass man stirbt, ein ganz wesentliches Ding für mich. Zu begreifen, bei allem was ich anfange, irgendwie sind es vielleicht noch 15 Jahre. Und diese Sache bearbeiten diese Texte mit einem sehr interessanten Umgang mit der Zeit. Die Zeit wird unterbrochen. Es werden Zeiten übereinander und miteinander verquirlt. Dazwischen ist immer die Null-Zeit, der Null-Abgrund, wo nichts ist. Das ist die ganze Zeit gegenwärtig. So intensiv habe ich das vorher nie bearbeitet. Wodurch ich auch kapiere, was vorher für mich nicht selbstverständlich war, dass Worte eine Kultur-Tat sind, eine angenommene, fiktive Geschichte, die nicht bedeutet, dass irgendein Versprechen von ihnen gehalten werden muss. Also die Existenz einer Sprache bedeutet nicht, dass du für alle Zeiten gesichert bist.
„Di rider finirai / Pria dell’ aurora“ / Das Lachen wird dir vergehn / bevor der Morgen graut. (Aurora) Das ist der Tod: Ich liege ich scheue den Spruch den Ton-Strich / liege auf dem Rücken lache nicht //  Es zu hören (plus Vergehn) ist gescheiter als: / Ich höre den Wind man lebt besser so. Klasse, was? – Lacht. – Sage mal! Und da ist das, was ich vorhin auch sagte, wenn ich da manchmal erschüttert bin und weine. Es geht nicht um das, was wirklich erschütternd ist, es ist diese Trefflichkeit im Ausdruck.

Gröschner: Ich meine jetzt auch nicht, dass der Tod nicht vorkommt, sondern der Tod überwältigt nicht. Es gibt ja eine Menge Alterslyrik, die nur darum kreist. Und das, finde ich, ist da nicht drin. Das ist alles sehr lebendig, der Tod steht nicht im Mittelpunkt.

Erb: Jetzt hast du gesagt: Ich jammere nicht, ja?

Gröschner:

: Ja.

ERB: Wie ich jetzt denke, wie habe ich den Tod behandelt, denke ich plötzlich an das Gedicht Reisesegen. Vielleicht weil ich begreifen muss, dass ich sterbe, habe ich dieses verschärfte Mitleid-Denken, dieses soziale Moment. Und natürlich musst du dir vorstellen, da oben über den Hügel kann man verschwinden, in das Dahinter, in die Welt hinaus. Dieser Punkt ist überall, in jedem Leben. Du hast recht, es ist dem Leben wieder zugewendet worden. Ich habe es von dem Null-Ausgang zurückgeholt und das alles unbewusst natürlich, nicht direkt.

Unterrichtung 3: Reisesegen

Reisesegen

Ich sehe noch die Schulter. Wegbiegung.
In das Dahinter. In die
Welt hinaus.

Unverzeihlich. Schulter. Schultern. Weine nicht.
Lindenblatt. Achillesverse. Sterblich.

Feigenblatt am Feigenbaum.
So laß ihn ziehn. Mit Segen –

was will er hier. Im Kreis des Horizonts.
Unverdaulich. Unbekömmlich. Gegessen wird.

Topf. Tropf.

Armer Tropf. Zieht aus. Pursch.
Gesicht. Gesicht.

Die unterhaltendste Fläche auf der Erde
für uns ist die vom menschlichen Gesicht.*

Der Gedanke war:

Ich sehe noch die Schulter. Das Gesicht
hilft ihm weiter …

* Georg Christoph Lichtenberg. Sudelbücher, F 87.

Erb: Weine nicht. Ja? Da kommt ja sogar das Wort Sterblich. Da ist es ja irgendwie mit Lindenblatt. Achillesferse. Sterblich. // Feigenblatt am Feigenbaum. Lasse die Kirche im Dorf, heißt das. Feigenblatt hat da auch nix zu suchen, ja? So laß ihn ziehn. Mit Segen −, so.

Gröschner: Also für mich ist ja eher so eine Verletzlichkeit. Bei Lindenblatt. Achillesferse.

Erb: Ja, ja, das ist Verletzlichkeit.

Gröschner: Abschied.

Erb: Natürlich, da ist ein Lebewesen geschädigt. Und geschädigte Stellen sind bei mir öfter die Schultern, Schulter. Schultern. Die ziehen sich zusammen, sehr sensibel. Ich kann in der Schulter begreifen. Das ist übrigens durch das Älterwerden gekommen, dass der ganze Körper von mir begriffen wurde als solche Stellen. Am Nabel ist Scham, ja? Und Enttäuschung und Reue und sowas, ganz viele Sachen wusste ich plötzlich körperlich zu bestimmen. Da dachte ich: Schau an, was das Oberstübchen nicht leistet, übernimmt der arme Körper. Er hat doch keine Schuld, er hat doch damit nichts zu tun. Er übernimmt es einfach, weil der Kopf es nicht leistet, mit seinem Anspruch, der oben herrschen will.

Gröschner: Und die Haut? Du sagtest ja, dass die Haut auch etwas mit dem Schreiben zu tun hat. Unter der Haut schreibt es auch.

Erb: Da habe ich gerade die Stelle in Jäger und Sammler. Wo das beginnt mit: Das Leder nicht der Handtasche, der Hüfte / nimmt entgegen, Haut nur. So entlegen! – // den der stumme Umkreis kantet – jeder Rand! / um mich, die stets aus dem Gesicht verliert das Land. Das hat einen ungeheuren Drive, dieses Ding. Ich meine, die Haut soll begreifen und verwandelt sich prompt in Leder. Ich sage ja, zwar es ist nicht die Handtasche, die ja ohne Schmerzen was einsteckt. Ja? – Lacht. – Die Hüfte übrigens ist Erkenntnisplatz, und das tut auch weh. Das war ziemlich von Anfang an so ein Highlight-Text. Und wie ich ihn hatte, habe ich Ulf Stolterfoht angerufen, habe ich ihm gesagt: „Höre mal zu, das musst du jetzt mal hören.“ Das ist wie so ein Fund, weißt du, als ob du ein Wunder findest.

Gröschner: Und war das vor der Bearbeitung, also im Notatstadium, oder als du es dann fertig hattest?

Erb: Als ich es bearbeitete. Vorher hast du kein Bewusstsein in dieser Weise.
Wenn ich mich jetzt wieder dem Buch zuwende, hat das wesentlich damit zu tun, dass ich nicht richtig weiß, was da alles drin ist. Bei 450 Gedichten kannst du keine Übersicht haben. Und bei den früheren Büchern waren es etwa 100, und die waren noch sehr unterschieden in der Art, da gab es auch Theoretisches und Miszellen. Da hatte ich nicht das Gefühl, dass ich Objekt bin. Wenn ich das jetzt lese, bin ich das Objekt von diesen.
In diesem Text Reisesegen sind ja Zitate, und weißt du, ich behalte immer keine Zitate. Und das Verrückte ist, dieses Lebewesen kriegt die. Ich habe einfach kein Sortiment im Kopf, außer es kommt von unten. Das habe ich immer vertikales Gedächtnis genannt.

Gröschner: Aber man nimmt doch so Sachen auf, die ganz unbewusst sind. Und bei gegebenem Anlass kommt wieder hoch, was man vielleicht vor Jahren abgespeichert hat.

Erb: Weißt du, wieviel Arbeit das nachher kostet?

GröschnerDas Originalzitat zu suchen?

Erb: Aber ja. Und wenn du dann noch so einen Verstand hast, dem es egal ist, ob er so sagt oder so sagt, weil er sozusagen demokratisch ist. Da kann das andere ja auch gelten. Du hast unendlich Arbeit mit Zusammenstellen.

Gröschner: Das kenne ich gut. Aber es ist jetzt einfacher geworden dadurch, dass du vieles im Internet findest.

Erb: Da siehst du mal: Das Eiweiß-Feld vergisst nichts. Das ist verrückt.

Gröschner: Wie ist der Titel Sonanz zustandegekommen? War der plötzlich, mitten im Schreibprozess da oder gab es ihn von Anfang an.

Erb: Als das Manuskript durch war, bin ich nochmal alle diese Hefte durch. Und da habe ich erst begriffen, warum das Summen öfter vorkommt, ein Kehrreim dort kommt. Da habe ich noch eine Nachlese gemacht. Es ist, als hätte man ein Instrument ein paarmal angetippt, da und da und da, ein paar Probeschläge auf dem Papier – und mit einmal war es gestimmt. Es hat sich selber gestimmt. Und dann hab ich gedacht, es ist Sonanz. Das Wort habe ich rausgelöst aus den Verbindungen. Es gibt Assonanz und Resonanz, auch Dissonanz. Und das war dann pure Sonanz.

Gröschner: Ich habe gestern nachgeguckt in meinem Fremdwörterbuch, da steht Sonanz nicht drin.

Erb: Gibts nicht oder nur in der Fachsprache.

Gröschner: Ich habe dann das Internet konsultiert. In der Musiktheorie ist es im Zusammenhang mit Helmholtz’ Schwebungstheorie ein ,sensorischer Wohlklang‘, eine ‚graduelle Abwesenheit von Störung‘.

Erb: So? Im Internet habe ich nicht geguckt. Ich habe aber gedacht, wenn das eine Spezialwissenschaft nimmt und für sich behauptet, dann kann man es von dort auch wieder wegnehmen und sagen, das gehört nicht ihr. Das ist mit vielen Dingen so. Da ist das Wort da gelandet und jetzt soll es da verhaftet bleiben? Wieso denn? Woher nimmt sich irgendeine spezielle Wissenschaft das Recht, das Wort zu verhaften bei sich? Du kannst das doch auch benutzen. Nun gut, wenn das niemand tut, dann tut es niemand, aber jetzt ist es da als Titel.

Gröschner: Für mich gab es so eine Verbindung zu Harm, das ja mal ein Titel eines Bandes von Bert Papenfuß war. Bei Harm ist es ja ähnlich. Das wird heutzutage nur mit harmlos in Verbindung gebracht, also dem Gegenteil.

Erb: In ‚verhärmt‘ steckt es noch.

Gröschner: Ja, da auch. So ähnlich fand ich das bei Sonanz auch. Es wird immer nur in den Ableitungen verwendet. Dabei ist es so ein schönes Wort.

Erb: Eben. Das geht doch wohl nicht. (Schaut im DUDEN nach) Hier steht nur konsonant = ‚silbenbildend‘.
Du musst dir vorstellen, Sommer 2005 ging ich an diesen ganzen Packen ran. Bis dahin hatte ich hauptsächlich abgeschrieben. Und auf einmal siehst du eine Logik in der Entwicklung. Vorher war nur der einzelne Text. Ich schrieb ihn in den PC und schrieb Reiz oder Elend oder Reiz, holen! Ja? Dann ging das so weiter. Nach und nach habe ich die Qualitäten, das heißt die Eigenschaften dieser Sachen entdeckt. Seitdem hört das nicht auf. Jetzt sehe ich, dass die grundsätzliche Orientierung, die bis in die Eiszeit langt, oder überhaupt geometrischer Art ist und sehr streng, dass sie später diese Weiten entwirft, d.h., ich bringe einen Text dahin, der inneren Weite mehr zu entsprechen als ein enger gebundener Text.

Gröschner: Gibt es eine Dialogizität im Augenblick des Schreibens oder jetzt, nach der Veröffentlichung, mit Kollegen?

Erb: Nö. Ich habe nur gelegentlich etwas wiedererkannt. Aber das ist aus meinem eigenen Grund und nicht in Reaktion. Allerdings setze ich mich oft mit Texten auseinander und dann gehe ich in sie hinein und bin dialogisch. Vergiss die Übersetzungen nicht. Ich habe auch Interesse für Melancholiker, sie sind für mich etwas Fremdes. Ich finde, ich habe keinen melancholischen Zug. Aber ich habe ein Interesse für die.

Gröschner: Aber es gibt doch die Gegenbewegung, die Abwehr: Man arbeitet gegen seine eigene Melancholie.

Erb: Vielleicht. Etwas Trauriges haben wir alle in uns, glaube ich, aber ich bin dem Temperament nach nicht melancholisch. Klar, es gibt Verlustangst oder Verlassenheit. Aber es ist eben nicht Melancholie. Das ist etwas Geschlossenes und will auch nicht raus.
Aber weißt du was, wie ich sehr oft jetzt gucke? Wie Ann Cotten. Ann Cotten hat ein sehr stark wirksames Verhalten, wie sie sich trägt. Und ich merke, jetzt gucke ich wieder wie Ann Cotten, ist vielleicht gesund jetzt mal zu so gucken wie sie. Ich wandle das schon ab, aber ich habe mir das nolens volens angeeignet regelrecht.

Gröschner: In einer Rezension stand, du seiest die Ersatz-Mutter der Avantgarde.

Erb: Jaja. Eigentlich beschreibt der Rezensent doch ganz vernünftig, was die Texte sind. Und dann so ein Satz. Ich habe gedacht: Was ist los mit denen? Müssen die sich so wie trimm-dich-fit erstmal eins-zwei-drei zeigen und ihre paar Banalitäten loswerden? Weißt du was? Es läuft auf so ein Standard-Bild raus: Die ist so eine hutzlige Alte und schrullig. Das sind so Klischee-Dinger, auch das mit der Ersatzmutter. Dichter sind selbständige Menschen, auch die aus dem Prenzlauer Berg waren das. Das ist doch völlig absurd. Bert Papenfuß, Schedlinski, der Anderson, der Faktor, da ist überhaupt nichts ist zu sehen, was von mir übernommen worden ist, jemals. Während ich andererseits ja auch niemals etwas von irgendjemandem übernommen habe. Das ging aber auch nicht, weil die Tradition erschöpft war. Krieg und Holocaust als Zusammenbruch der Zivilisation, das wirkt bis heute.

Gröschner: Ein anderes Klischee ist ja auch die Behauptung, deine Texte seien hermetisch.

Erb: Es gibt immer wieder die Behauptung, ich kümmere mich nur um mich, ich sei egozentrisch. Wobei da drunter noch immer das DDR-Wort von dem elfenbeinernen Turm und der Nabelschau liegt, – die kümmert sich nicht um unseren Scheiß, ne? Ich musste meine Eigenschaften entdecken, eine nach der anderen. Da ist keine Abgeschlossenheit und keine Melancholie.

Nachtrag:

Das Gespräch ist ein Auszug aus einem mehr als doppelt so langen Interview, mit dem wir das ganze BELLA-triste-Heft hätten füllen können. Am Ende des Bandes gibt es folgenden Dialog:

Gröschner: Ich glaube, ich gehe jetzt mal. Ich habe jetzt drei Stunden und 29 Minuten aufgenommen.

Erb: Oh, so lange haben wir gemacht.

Gröschner: Erstaunlich.

Erb: Na ja, wie machst du das denn jetzt? Du musst das beim Abwaschen abhören, beim Bügeln, bis dir das zusammengerinnt.

Dank an Ralf Schluckwerder für die Hilfe bei der Transkription.

BELLA triste, Heft 21, Sommer 2008

 

„…landgreifend wort an wort“

− Zum 70. Geburtstag der Dichterin Elke Erb. −

(O-Ton Elke Erb; Rezitation des Gedichtes „Start“; DAT 1, 02:52 – 04:15)
„Start. Das erste nach der Schulausbildung war wohl das Schreiben, jene Tätigkeit, in der der Harmonie-Erfolg schließlich eintrat, so daß der gesamte Weg bis zu ihm auch sein Zubringer-Weg genannt werden kann. Der Sinn des Schreibens war, daß es die empfangene, übernommene Lehre weiterzubringen versuchte, zur Anwendung, Anwendbarkeit hin. Zur Anwendbarkeit und Anwendung hin. Das Schreiben war didaktisch, der Lehre gegenüber, lebensnotwendig für mich. Ich brauchte eine für mich sprechbare Sprache, eine für mich verständliche, bekömmliche Interpretation. Was ist das? Ein gangbarer Weg, ein tauglicher Anfang. Was ist ein tauglicher Anfang? Die dir mögliche Fortsetzung des Vermittelten. Du weißt von nichts. Du fragst dich für dich nach dem Leben. Auch das weißt du nicht…“

„Ich brauchte eine für mich sprechbare Sprache“, so erinnert sich die Dichterin Elke Erb an ihre Anfänge mit dem Schreiben, das sie für sich als lebensnotwendig bezeichnet. Der Ort dieser Anfänge war Halle an der Saale. Hierhin war die am 18. Februar 1938 in der Eifel Geborene im Jahr 1949 übergesiedelt, dem Gründungsjahr der DDR. Sie folgt mit ihrer Mutter und ihren beiden Schwestern dem in Halle lebenden Vater. Bevor die Familie endlich eine gemeinsame Wohnung beziehen kann, lebt Elke Erb zusammen mit den Schwestern lange in einem Heim in den Franckeschen Stiftungen. In ihren Erinnerungstexten beklagt sie eine düstere, schwermütige Stadt, die Abwesenheit des Vaters, die eigene Einsamkeit und Sprachlosigkeit: „Mir verschlug die fremde Umgebung die Stimme“, heißt es einmal. – Nach der Schulzeit, mit dem Beginn des Schreibens, führt ihr Weg aus der persönlichen Sprachlosigkeit hinaus ‚in die Sprache‘. In eine erst noch zu findende Sprache. In eine Sprache, die Elke Erb von Anfang an als eine persönliche Entgegnung auf die offizielle, scheinbar objektive Sprache der Gesellschaft versteht. Eine eigene Sprache, die sie der allgemeinen Sprache abringen muß, und die sie in den Jahren nach dem Krieg verarmt vorfindet. Verarmt, und von den Sprechweisen der Diktatur überformt:

(O-Ton Elke Erb; DAT 1, 42:04-43:33)
„Aber die Alltagssprache war auch sehr im Schatten. Und überhaupt hat diese Form von einem Gesellschaftswesen das Normale und Alltägliche nicht blühen lassen, wovon man sonst lebt, eigentlich in jeder Gesellschaft. Da kuckste doch, was der jetzt und was der… und das kam irgendwie nicht. Ich habe einen anderen Text gemacht, bei diesen… wo ich sogar behaupte, wir haben weder Elstern gesehen, noch Krähen, noch etliche Vögel. Die waren irgendwie nicht da, die kamen erst nach einer ganzen Zeit. Und nur die Tauben waren immer da. Die Tauben für die Tauben. (Lacht.) Das habe ich wirklich so erlebt. Das war: Ach jetzt sind ja schon Elstern auch wieder da. Als ob durch den Krieg ein Kahlschlag… und dann die Machtübernahme. Und irgendwie als müsse man es aushalten und abwarten. Das. Ein Titel heißt doch so: Faden der Geduld. Als müsse man es abwarten, bis es sich ausgewachsen hat, das Tote.“

„Bis es sich ausgewachsen hat, das Tote.“ – Es klingt, als hätte es da auch für Elke Erb eine persönliche Stunde Null gegeben. Und so beschreibt sie ihren eigenen Weg beim Finden einer für sie „bekömmlichen Sprache“, gerade in den Anfangsjahren, aber auch generell im Schreiben, als einen immer wieder neuen Aufbruch aus dem Nichts.

(O-Ton Elke Erb, DAT 1, bei 36:50)
„…Ich weiß, daß in dieser Zeit ich mich niemals als Schriftstellerin gefühlt habe, als ich anfing. Es kam nur eben etwas aus diesem Lehmboden heraus, und dann war wieder gar nichts, und dann nacher kam wieder etwas aus diesem , – und die haben sich nicht gekannt, und die Texte haben miteinander keinen Verbund und der hieß nicht mit meinem Namen oder irgendeinem anderen. Da haben Sie nocheinmal das Null dazwischen, dieses Null. Nichts.“

Auf eine radikale Weise fühlt sich die Autorin Elke Erb beim Schreiben einem Anfangs-Nichts ausgesetzt. Aber sie versteht dieses „Null“ als eine positive Null. Auch weil sie bis heute immer wieder erlebt, daß aus diesem Nichts etwas entsteht. Es bleibt nicht Null. Da kommt etwas. Und vielleicht ist es gerade diese Null-Erfahrung und das beständige Ringen um die Sprache, die zu ihrer Art des Schreibens geführt haben, für die Elke Erb geschätzt wird: Ihre sprachkritische, analytische Schärfe. Ihre unmittelbare, sinnliche, spielerische Intuition. Ihr kompromißloser Weg zu einer persönlichen und sprachlichen Wahrhaftigkeit im Text. Ihre hohe Aufmerksamkeit für die gesellschaftliche Sprachverwendung und -verblendung, die sie in der DDR mit Jüngeren wie Gert Neumann und Wolfgang Hilbig teilte; später mit den Dichterkreisen im Prenzlauer Berg und anderswo.
Nach der Schulzeit, in den Jahren 1957 bis 1963, studiert Elke Erb zunächst Geschichte und Germanistik. Bald stellen sich Krisen-Zeichen ein, so daß sie 1958 für ein Jahr in die Landwirtschaft flüchtet: in die Oberlausitz, wo sie bis heute ein Sommerhaus hat. Nach dieser Auszeit wechselt sie ins Pädagogik-Studium, wählt Geschichte ab und studiert Russisch, eine Sprache, aus der sie später zahlreiche Übersetzungen vorlegen wird: Marina Zwetajewa, Aleksander Blok, Jessenin und viele andere.
Lehrerin aber, wie es ihre Ausbildung eigentlich vorsieht, wird sie nicht. Nach dem Studium arbeitet Elke Erb zwei Jahre als Lektorin im Mitteldeutschen Verlag, wo sie an der Seite von Heinz Czechowski Gelegenheit hat, ihr literarisches Urteil zu schulen, gute Manuskripte von schlechten zu unterscheiden. Künstlerisch und kulturpolitisch gerät die angehende Dichterin in eine spannende Situation, denn seit Anfang der 60er Jahre ist eine heftige Lyrikdiskussion entbrannt, an der sich die damals junge Dichter-Generation intensiv beteiligt. Vor allem über eine Reihe von Anthologien setzen sich  in diesem Jahrzehnt die entscheidenden neuen Stimmen durch: Adolf Endler, Sarah Kirsch, Karl Mickel, Heinz Czechowski, Volker Braun, Wulf Kirsten, Reiner Kunze.
Aber Elke Erb hält es im Lektorenalltag auf Dauer nicht aus. Nach zwei Klinikaufenthalten wirft sie ihren Job im Verlag hin: „Kündigung aus Sorge ums Ganze“, wie sie einmal schreibt. Obwohl sie von allen Seiten davor gewarnt wird und auch selbst große Ängste aussteht, beschließt sie, als freischaffende Autorin nach Berlin zu gehen.

O-Ton Elke Erb (Laschen; zusammengeschnitten: 22:15-23:00 und 31:36-32:10)
„Ich hab monatelang ein beschleunigtes Herzklopfen vor Angst gehabt, ja, jetzt sozusagen auf die freie Wildbahn zu treten. Monatelang hatte ich Angst. (…) Es gab keinerlei Bestärkung, ja. Das war einfach die Klarheit, daß es in dem geregelten Ablauf und Arbeitsablauf nicht geht mit mir. Und wenn das da für mich nicht geht, kann ich mich ja benutzen, um eine Art Überlauf zu machen. Also irgendwie das Risiko darzustellen, ne? Also auf der einen Seite ist das geregelte und auf der anderen Seite ist das Risiko. Das Risiko müssen auch welche ausleben. So ungefähr. (…) Ich kam aus dem Mitteldeutschen Verlag und bin nach Berlin gegangen. Hab mir erkämpft ein Dachboden-Kämmerchen am Rande von Berlin und ich hatte im Kopf so: Du bist Germanist, es gibt lebende Dichter, die mußt du jetzt natürlich kennenlernen, was soll sonst bitteschön deine Germanistik. Ne. Und dann hab ich die nacheinander aufgesucht und dabei hab ich den Adolf Endler kennengelernt. So war das. Ja? Und die andern natürlich auch, und so sind wir…die hingen auch sowieso schon zusammen.“

Ohne eine einzige publizierte Zeile wird Elke Erb freischaffende Autorin, zieht nach Berlin und findet bald freundschaftliche Aufnahme in ihrer Generation: in der sogenannten sächsischen Dichterschule und anderswo. 1967 heiratet sie den Dichter Adolf Endler, mit dem sie einen gemeinsamen Sohn hat.
Bis zum ersten eigenen Buch dauert es allerdings noch einige Jahre. Im Jahr 1975 erscheint schließlich im Aufbau-Verlag der Band Gutachten, freundlich begleitet mit einem Nachwort von Sarah Kirsch. Sofort mit diesem ersten Buch profiliert sich Elke Erb als wichtige und eigenständige literarische Stimme. Mit den folgenden drei Bänden, Der Faden der Geduld, Vexierbild und Kastanienallee etabliert sie sich neben Sarah Kirsch als bedeutendste Dichterin ihrer Generation in der DDR. Für Kastanienalle bekommt sie 1988 den Peter-Huchel-Preis, ein Jahr nach Wulf Kirsten, dem sie sich eng verbunden fühlt.
Von Beginn an irritiert Elke Erb mit ihrem Schreiben aber auch ihr Publikum. Denn es ist etwas ganz außergewöhnliches, was sie da in der DDR mit ihren Gedichten und ihrer Kurzprosa macht: Sie schreibt widerständige, experimentelle Texte. Oftmals sind es komplizierte Anordnungen, Konstruktionen, die Zeit brauchen, um sich zu erschließen. Gedichte, die jenseits der in der DDR verordneten Ästhetik stehen. Dabei entwickelt Elke Erb einen so eigenständigen Ton, daß es bis heute schwer ist, sie in der Tradition der Moderne einem bestimmten Lager zuzuordnen. Diese Eigenständigkeit betont Elke Erb auch selbst immer wieder. Im Unterschied zu vielen anderen Dichtern sieht sie für ihr Schreiben kaum Einflüsse von anderen Autoren.

O-Ton Elke Erb (DAT 1, 16:58 – 17:31; Gedicht-Rezitation)
Der heimliche schon unbekannte
nie zu stillende Jammer zeigt sich

Über eine Felswand, das Ragen
die Wasser schlagen, große, geteilte, ein
Wasserfall Steinschlag Wasser-Quadrate,
hineingeschlagen in das Wagen

zerrissen im Wasserfallschlagen das dauert
an Steinwand, kahle, das dauert das dauert
das kahle Schlagen & einsam, Jammers
Wasser-Quadrate, das Klagen.

Wie in diesem Gedicht ist es die Arbeit am sinnlichen Sprachkörper, das Spiel mit der Materialität der Laute, das Konkrete, das Persönliche, aus dem bei Elke Erb ein Text entsteht. Sie faßt das Gedicht nicht als magische Größe, sondern als etwas Gemachtes auf, mit Hilfe von Rhetorik, sprachlichen Figuren. Und doch ist es zugleich etwas, das sich im Arbeitsprozeß, den Elke Erb oft in ihre Gedichte mit hineinholt, verselbstständigen kann. Wer sich um die Sprache bemüht, dem schenkt sie sich dankbar zurück:

O-Ton Elke Erb (DAT 2, bei 1h 21):
„Und es ist jetzt öfter so, und ich hab nie soviel gereimt, wie hier, daß die, diese Lautlichkeit der Sprache in ihre Würde geholt wird, und die erweist sich als sehr spendabel, was Sinn und so weiter betrifft. Das ist nicht die… Umgekehrt hat man einen… kargen Eindruck, da wird herumgegeizt. Wenn der Sinn Laute verwendet, dann ist er sehr egoistisch. Während, wenn die Laute zum Sinn führen, dann sind sie freudig, gesellig, sie sind wie Dinge körperlich da. Kein Ding bringt ein anderes Ding um, nicht? So.“

Es geht im Gedicht nicht zuerst um eine Aussage, um die Vermittlung eines Inhalts. Der Sinn entsteht gewissermaßen über die Korrespondenz der Sprache mit sich selbst. Immer hat Elke Erb dabei Wert darauf gelegt, daß es offene Systeme sind, die sie dem Leser anbietet. Offene Vollzugstexte, prozessuale Texte, wie sie es selbst früher genannt hat. Darin erblickt sie bis heute ihr Eigenstes, ihren Beitrag zur Geschichte des Gedichts:

O-Ton Elke Erb (DAT 2, bei 48:04):
„Diese entdeckenden Abläufe, ja. Das gibts nicht. Das gibt es, glaub ich, nirgendwo. Dieses wirkliche Entdecken während des Schreibens, während des Prozesses. Wer macht das? Gibt es nicht, glaub ich. Es ist nicht da. Und übrigens ist das wirklich ein Unterschied zwischen dem geschlossenen und dem offenen Text. Der offene kann so gehen, der geschlossene muß insgesamt einprägen, einwirken.“

Früh hat Elke Erb zu diesem Programm gefunden und es über die Jahre immer weiter und klarer ausformuliert. Mitte der 80er Jahre beginnt sie an einem umfangreichen Buch zu schreiben, das heute eines ihrer Hauptwerke ist: Winkelzüge, oder nicht vermutete, aufschlußreiche Verhältnisse. Auf eine für Elke Erb typische Weise, aber mit neuer Konsequenz, experimentiert sie in diesem Buch mit einer Mischform aus Gedicht, Reflexion, Kommentar und Erinnerung. Zu den entscheidenden Zügen von Elke Erbs Schreiben gehört dabei die radikale, schonungslose Auseinandersetzung mit der eigenen Person und der Schreibexistenz. Der Text wird hier zu einem Erkenntnisinstrument, das sich mit den seelischen Erkundungswegen stetig wandelt und neue Einsichten hervorbringt. Schreiben sei geistiges Atmen hat sie einmal gesagt. Bei Elke Erb kommt hinzu: Geistiges Atmen – und sich selbst dabei zusehen.

O-Ton Elke Erb (Winkelzüge; 03:45-04:10; 04:18-05:24; mit Auslassungen):
„Ja und insgesamt ist sehr viel, was ne ganz wesentliche allgemeine Nachricht in diesem Manuskript ist, sehr viel erarbeitet worden darüber, was wir eigentlich unbewußt arbeiten, während wir vielleicht sogar denken, wir tun nichts, und ein Schuldgefühl deswegen tragen. Mit dem Schuldgefühl wird ein großer Kampf ausgefochten. (…) Eigentlich war der Angriff der: ich will jetzt wissen, was in mir stagniert. Das ist auch eine politische Geschichte, ja? Es war eine gesamte Stagnation in der Gesellschaft und die Folge war für mich die Konsequenz, ich gehe jetzt hinein, d.h., ja, ich wollte wissen, in mir, ich wollte das angreifen, was man den blinden Fleck nennt. Ich wollte angreifen, was in mir selbst Herrschsucht ist, ein Umgehen mit Macht, eine Blindheit. Und das ist auch wirklich exzessiv betrieben worden. Und hat auch Scheitern erzeugt, so daß ich die vorher triumphal erreichten neuen Möglichkeiten des Schreibens zum Scheitern brachte und andere finden mußte. Und da mußte ich sehr bauen und war auch über Jahre in einer großen Unruhe deswegen […] Also wenn man nicht an die Grenze geht des Möglichen, dann sollte man es vielleicht lassen, nicht?“

Aus der Dynamik solcher Prozesse entsteht auch die Dynamik von Elke Erbs Texten. Auch wenn sie in der DDR keine wirklich politische Schriftstellerin war, so war sie doch politisch durch die Radikalität ihrer inneren Haltung, mit der sie das empfindende und denkende Ich in einer politisierten Gesellschaft behauptete. Damit hat sie sich nicht nur Freunde gemacht. Ihre Publikationsmöglichkeiten waren eingeschränkt, auch sie wurde von der Staatssicherheit beobachtet. Die Widerständigkeit ihrer Texte wurde als impliziter Widerstand gegen die Gesellschaft verstanden.
In den bewegten literarischen Jahren vor dem Zusammenbruch der DDR wurde Elke Erb zu einer wichtigen Figur für die nachfolgende Generation, für die Prenzlauer-Berg-Szene und verwandte Bewegungen in Dresden oder Karl-Marx-Stadt. Auf noch radikalere Weise als die Älteren, von jeglicher sozialistischer Utopie weitgehend befreit, suchte diese neue Generation von Autoren nach ihren Sprachmöglichkeiten jenseits des Offiziellen: Durs Grünbein, Sascha Anderson, Bert Papenfuß, Ulrich Zieger, Stefan Döring und andere. Jetzt ging es in künstlerischer Hinsicht endgültig um die Verweigerung gegenüber dem aktuellen politischen Diskurs, um eine neue, radikale, an den Avantgarden geschulte Sprache jenseits des Systems. Und hier fand die junge Generation in Elke Erb eine Figur, von deren sprachlichem Widerstand sie lernen konnte.
Sie selbst sieht sich freilich keineswegs in der Rolle einer Mentorin, die ihr immer wieder zugesprochen wird. Aber Elke Erb ist eine der wenigen aus der älteren Generation, die in dieser Szene, ihren Zeitschriften und Anthologien, immer hoch präsent gewesen ist. Die Entwicklung im Prenzlauer Berg versteht sie rückblickend als eine Bewegung, die von den älteren Avantgarden und den experimentellen Schreibweisen in der Bundesrepublik und in Österreich, weitgehend unabhängig gewesen sei:

(O-Ton Elke Erb, DAT 2, bei 18:00):
„Ich denke, daß die Entwicklung, die sich da zugetragen hat, autochton ist. Im Ernst. Und es gibt Berufungen von einigen zu dem oder zu dem, die haben eigentlich weniger innovativen Charakter. Wenn Sie dieses Buch haben
Berührung ist nur eine Randerscheinung dann da ist auch einiges dazu gesagt worden. Nicht daß ich hätte Mayröcker, oder Jandl schon sowieso nicht, em als Ausgangspunkte oder Anregung oder so aufzufassen gehabt, oder so. Das war nicht so. Und ich glaube auch, die Friederike Mayröcker würde mir zustimmen. Die sagt: Du machst etwas, was niemand macht. Das hat nichts… nichts Herkünftliches. Ich weiß nicht genau, die anderen, die jetzt meine Generation sind, die haben vielleicht wie Mickel oder – Aufnahmen oder Bestärkungen empfangen von Brecht, oder Sarah von Alberti oder Bobrowski vielleicht. Bobrowski hat mir schon nicht ausgereicht, übrigens. Brecht übrigens auch nicht (lacht). So und dann die anderen: Ich denke, daß diese … Als wir das Buch machten, dieses „Berührung“, da sagten die. Das war schon, ja, bei manchen Sachen. Und ich hab dann gedacht: Die hatten ihre Spielphase und dann ist die Spielphase vorbei. Und jetzt kommen wir und spielen neu. Die haben aber nicht begriffen, daß das keine Spielphase ist, sondern eine andere Art von Text, eine andere Textarbeit. Ja. Es hieß doch immer alles, was etwas so oder so machte, hieß dann: Jandl. Das hieß doch immer Jandl. Das ist doch bekloppt gewesen. Und ich hab gedacht, die haben die Spielphase gehabt und jetzt sind se’s satt. Und aber ihre Leute haben ja auch noch weiterexistiert, die das gemacht haben, wie Franz Mon und so, Gomringer ne. Natürlich sind da haben bestimmte Dinge ein bißchen aufgehört, aber das ist eine Korrektur gewesen der üblichen Sangesweisen.“

Etwas eigenes, Neues wäre da also in der DDR entstanden. Bis zu ihrem Zerfall, und dem Zerfall einer Szene, mit dem Elke Erb sich in zahlreichen Texten nach der Wende auseinandergesetzt hat. Ebenso kritisch, wie vorher mit der DDR, die sie überhaupt vor allem als Herausforderung verstanden hat, in einem die individuelle Freiheit bedrohenden, deformierenden System eigene Wege zu gehen.

(O-Ton Elke Erb, DAT 2, bei 12:40):
„…weil der wesentliche Punkt, wenn man jetzt fragt, du wirst immer mal wieder gefragt, was war in der DDR und so weiter, heißt, das System hat mich dahin geführt, daß man etwas drehen konnte und neu durchdenken mußte. Und übrigens ja, diese Prenzlauer-Berg-Leute haben so gedacht, sie haben neu gedacht.“

Wie fast alle Autoren der untergegangenen DDR bleibt auch Elke Erb von den Diskussionen und Verwerfungen der Nachwendezeit nicht verschont. Sie beteiligt sich mit Essays und kleineren Beiträgen an den erhitzten Debatten über den Wert der DDR-Literatur nach dem Untergang ihres politischen Schauplatzes, über Christa Wolf, an den Diskussionen über die Stasi, mit den prominenten Fällen Anderson und Schedlinski im Prenzlauer Berg. Eine besondere Herausforderung bereitet ihr die Aufdeckung der Stasi-Mitarbeit von Sascha Anderson, mit dem sie in den 80er Jahren bei Kiepenheuer & Witsch die vielbeachtete Anthologie Berührung ist nur eine Randerscheinung herausgegeben hat. Auch hier nimmt sie in mehreren Beiträgen Stellung und erlebt schmerzlich den Konflikt, in der hart geführten polemischen Auseinandersetzung eine Position zu finden, die sowohl den Tatsachen, als auch einem Menschen gerecht wird, den sie persönlich kennt:

O-Ton Elke Erb („Die Schriftstellerin…“; 15:15-15:42; 16:44-17:06):
„Ich bekam ne Neuralgie, hat ewig wehgetan und… Es waren gewisse Voraussetzungen da. Also wenn ich höre, jemand ist bei der Stasi gewesen, und es ist ein Bekannter von mir, dann habe ich keinen Grund sofort zu denken, er IST die Stasi. Und über diese Klippe konnte ich mit meinen Nerven nicht kommen. Es war eigentlich eher das Umfeld, das mich geschafft hat.“ (…) „Als das anfing, waren wir mit Endler bei ihm und fragten ihn: Warst du, oder warst du nicht? Das mußt du klar sagen. Weil ja alle sagten, merkwürdigerweise, ich muß erst diese Akten sehen. Und er sagte, er war es nicht. Und danach ist keine Bewegung mehr zwischen uns , keine Begegnung mehr gewesen. Allerdings gehöre ich wieder nicht zu denen, die sagen, er soll aus der Welt verschwinden.“

Anders als viele Vertreter der DDR-Avantgarden ist Elke Erb nach dem Mauerfall nicht aus der literarischen Szene verschwunden. Im Gegenteil. Nach einer Übergangszeit bei Steidl, dem Hausverlag von Günter Grass, begann sie Ende der 90er Jahr ihre Bücher bei dem Basler Verleger Urs Engeler zu veröffentlichen. Fünf Bände in den letzten zehn Jahren zeugen von einer ungebrochenen, lustvollen Produktivität.
Auch nach dem Untergang des Systems DDR, den sie für sich als befreiend erlebt hat, plädiert Elke Erb dafür, mit Hilfe des Gedichts neu denken und fühlen zu lernen. Auf die wiederkehrende Frage, ob die Lyrik bald endgültig zum Tod verurteilt sei, weil die Gesellschaft sie scheinbar nicht brauche, reagierte sie schon in den 90er Jahren mit erfrischendem Optimismus. „Kunst hat die Zukunft für sich“, ist da in einem Interview zu lesen. Und: „Wenn die Menschen sich ihrer Zeit stellen wollen und das müssen sie, sonst sind sie ihrer Zeit nicht gewachsen, wird in der Zukunft die Kunst an Bedeutung gewinnen.“ –
Elke Erb hat in ihren Bemühungen um ihre Sprache und das Gedicht nicht nachgelassen. Ihr jüngstes Projekt, das unter dem Titel Sonanz zu ihrem 70. Geburtstag bei Urs Engeler erscheint, sind die sogenannten „Fünf-Minuten-Gedichte“. Kleine, in regelmäßigen Abständen niedergeschriebene Texte, die auf eine Notizbuchseite passen und in denen es darum geht, vor allem das Unbewußte arbeiten zu lassen, möglichst ohne jede Absicht und ohne Ordnungswillen. Über vierhundert solcher Texte sind in den letzten Jahren entstanden. Und immer noch geht es Elke Erb um das Erleben des Wachsens von Texten aus dem Nichts heraus. Ein beglückendes Erleben:

(O-Ton Elke Erb:)
„…das war, als ich das wieder gelesen habe, die Handschriftlichen, als ob du ein Instrument hast, und du bist jetzt der, der es spielt. Und du tippst nur mal so da und da an. Und auf einmal lädt sich das ganze Instrument mit all seiner Sonanz auf. Und das ist passiert, mit dem Ich, das ich da gerufen habe. Erst nur das Datum und so und von einem zum andern, und ziemlich bald hat sich das…es ist gerufen worden und ist gefolgt. (…) Ich hab nachher gesehen, mit dem Sonanztheater, mit der gerufenen und sich entfaltenden Sonanz kam auch eine örtliche, eine räumliche Orientierung. Dieses Wesen war wie Nullwesen und orientiert sich: Was ist hoch, was ist waagerecht, was ist senkrecht, was ist daneben, was ist dahinter; ganz einfache da gibt es sehr viele oder ich meine so Texte, wo der Acker vorkommt als Ausdehnung. Und du holst die kindlichen Eindrücke ab, die du hattest. Wirklich. Und dann beginnt dieses, das hast du ja nicht bewußt gemacht. Du hast es instrumentiert und jetzt beginnt das. Das war jetzt wirklich im Sommer das entscheidende Erlebnis.“

Nachrichten aus dem Inneren des Gedichts sind das. Aus dem Nullwesen heraus in das Leben des Textes. Aus einer Bodenlosigkeit heraus sich einen Weg erschreiben. Sich einer kreativen Bewegung anvertrauen. Immer wieder beschreibt Elke Erb in ihren Gedichten diesen Schreibprozeß. Wie sich ein Individuum, das mit Sprache begabt ist, aus der Verunsicherung, in der es steht, Schritt für Schritt vorwärtsbewegt. Nicht unbedingt in eine Sicherheit oder Geborgenheit hinein. Eher tastend, an den Zeilen entlang, landgreifend Wort an Wort. So entsteht das Gedicht:

(O-Ton Elke Erb, Rezitation des Gedichts ‚Schritt für Schritt‘)
„Schritt für Schritt. Wie das Wachsen? Zelle für Zelle? – Nein. Wie erwandern? Nein. Und nicht nach und nach. Kein sich fröhnender Fleiß. Nicht Bescheidenheit. Schritt für Schritt nach dem kleinsten Maß, landgreifend. Und nicht nach und nach, Lineal ins Nichts. Du Zurqual-Bürokrat. Nein, kein Unterschleif. Nicht Bescheidenheit. Nein, kein Unterschleif. Nach dem kleinsten Maß, wie man Gold abwiegt, wie man Gift dosiert. Landgreifend, und so aufmerksam, wie man den alten Verband von der Wunde löst, mit dem Pinsel den Staub von der Scherbe hebt. Präzision, die lohnt. Jedesmal und sofort. Keinen Schritt ohne Lohn. Und streng kontrolliert, nach dem kleinsten Maß. Wie man lauscht. Wie man liebt, das Vertraute versteht. Einen Schimmer von Hoffnung sieht. Keine Illusion. Einen Schimmer von Hoffnung sieht. Präzision, Schritt für Schritt, die sich lohnt, sofort. Die erwidert wird, wie ein Wort das andre gibt. Nicht im Streit. Präzision, Schritt für Schritt. Wie man ahnt, wittert, spürt. Wie man merkt, nicht merkt und nicht wissen will. Wie man stichelt, spitz. Nach dem kleinsten Maß. Wie man unmerklich lügt. Täuschend ähnlich ist. Wie es möglich ist, wie es gehen kann. Landgreifend, Wort an Wort.“

André Rudolph, Mitteldeutscher Rundfunk, 17.1.2008

Kommt Elke Erb zu Besuch

Mein Raum ist immer voll mit zwei Sprachen – der russischen, die ununterbrochen bei mir im Kopf tönt, und der der Vögel (falls sie eine gemeinsame Sprache haben sollten und nicht jede Vogelart ihre eigene), die von außen, aus dem Frankfurter Zoo kommt – als ob es keinen Winter auf der Welt gäbe.
Kommt Elke Erb zu Besuch – was eigentlich bedeutet: zum Arbeiten, denn das Arbeiten ist die Grundform ihrer Existenz und auch die Grundform jeglicher Kommunikation mit ihr –, kommt auch die ganze deutsche Sprache mit.
Das ist keine gestelzte Personifikation, obwohl ich in diesem Falle auch solche nicht scheuen würde, sondern hier meine ich es vollkommen sachlich: Kommt Elke bei uns, bei Olga Martynova und mir, in unserer Wohnung mit Blick über die Mauer des Frankfurter Zoos für ein paar Tage vorbei, beginnt das ,Arbeiten‘ beinahe sofort. Man spricht eine Stelle in einem Gedicht an, eine kleine Übersetzung will geprüft werden, ein neuer Text gelesen und besprochen und vielleicht geändert sein. Etwas macht ,klick‘, und Elke ist eingeschaltet, sie arbeitet, und bei ihr bedeutet das: Sie berät sich ununterbrochen und unermüdlich mit der gesamten deutschen Sprache. Dieser Prozess ist überwiegend mündlich. Elke spricht mit der Sprache. Das hören wir aus ihrem Zimmer, aus dem Flur, aus dem Badezimmer… Die Sprache antwortet. Das können wir später lesen.
Jeder, der einmal mit der arbeitenden Elke Erb in einem Raum eingeschlossen war, weiß: Sich in einem Raum mit der arbeitenden Elke Erb zu befinden, ist, wie mit einem kleinen, leisen, unermüdlich zwitschernden, wispernden, klappernden – schlagenden! – Vogel in einem Raum eingeschlossen zu sein. Jedes infrage kommende Wort, jede Phrase, jede Zeile wird in den Mund genommen, in allen möglichen Tonlagen wieder und wieder wiederholt – mündlich geprüft. Bis eine richtige Lautfolge, eine richtige Intonation, ein richtiger Rhythmus da ist. Bis die Sprache ihr OK gibt. Oder bis Elke sagt:

Sprache, du bist blöd. Das ist besser so, wie ich es dir sage!

Seit ich Elke kenne, glaube ich nicht mehr, dass die wirklichen Vögel da in den Bäumen einfach so ,singen‘, um ihre überschäumende Lebensfreude mitzuteilen (romantische Version, war noch nie meine Sache), oder um fioriturenbegierige Fräuleinvögel anzulocken (die Version meiner Leningrader Biologielehrerin Lenina Fjodorowna). Jetzt höre ich: Vögel arbeiten da in den Bäumen des Frankfurter Zoos. Sie beraten sich mit ihrer Vogelsprache – oder mit ihren Vogelsprachen; sie prüfen ihre Texte, wieder und wieder, ohne Ermüdung, ohne Verzweiflung.
Seit ich Elke Erb kenne… Und seit wann kenne ich Elke?
Das ist keine zu komplizierte Frage, der Weg unserer Freundschaft ist durch Bücher gekennzeichnet, wie der Weg eines Trecks in der Steppe durch Skelette gegessener Kühe, und Bücher haben bekanntlich Erscheinungsjahrangaben.
1995 konnte Christian Pixis, der gerade dabei war, einen vielversprechenden Verlag zu gründen, Elke dazu überreden, meinen „sechseckigen Roman“ Der Frankfurter Stier in Übersetzung zu nehmen. Elke ließ sich darauf ein, weil sie – ihren späteren Worten nach – habe wissen wollen, was „diese Russen“ so schrieben, und das Übersetzen sei immer noch die gründlichste Form des Lesens. Das kenne ich allzu gut: Um in meiner Jugend Four Quartets von T.S. Eliot zu lesen (was nötig war, um zu sehen, was diese Engländer da so schrieben), musste ich das halbe Wunderwerk ins Russische übertragen. Gott sei Dank ist diese Nachdichtung im Wirrwarr der Geschichte verloren gegangen. Gott sei Dank sind Elkes Übersetzungen alle erhalten. Der Frankfurter Stier ist 1996 erschienen.
So begann es, und jetzt, mehr als 20 Jahre und vier dicke Bücher später, kann ich das gestehen, was Du, liebe Elke, wahrscheinlich inzwischen längst gemerkt hast: Du hast nicht viel über „diese Russen“ erfahren, indem Du meine Bücher übersetztest, nur über mich. Und ich war auch damals, Mitte der 1990er, nicht besonders typisch für das, was sie da schrieben. Heute bin ich es noch weniger. Du wolltest die neue russische Literatur kennenlernen und hast Olga und mich kennengelernt, die wir selbstverständlich in einem gewissen Sinne eine kleine, aber ganze russische Literatur, eine ganz eigene, darstellen, bei uns in der Wohnung mit Blick über die Mauer des Frankfurter Zoos. Und wir dachten, wir lernen eine wunderbare Lyrikerin und eine wunderbare Übersetzerin kennen, lernten zusätzlich jedoch die ganze deutsche Dichtersprache kennen, in Person sozusagen, als unsichtbare, aber gut hörbare Person, die immer mit Elke unterwegs ist, um mit ihr bei Bedarf sprechen und streiten zu können.
Es war nie leicht, mit Elke zu arbeiten, vor allem am Anfang. Elke ist stur, ich bin es auch. Ab und zu flogen die Fetzen! Vielleicht waren das die Fetzen der Sprache, oder zweier Sprachen sogar – der russischen und der deutschen; sie schwebten in der Luft und wollten sich zu einem Ganzen verknüpfen. Ich hoffe, das ist ihnen gelungen, auf jeden Fall beneide ich mich selber als jemanden, dessen Texte ins Deutsche von Elke Erb und Olga Martynova übersetzt wurden, ich bin bestimmt der am besten übersetzte Autor der Welt, wenn es ums Deutsche geht. Darüber, wie man mit Elke Erb zusammen übersetzt, oder wie man von Elke Erb übersetzt wird, könnte ich noch sehr lange und abenteuerlich erzählen.
Jetzt aber ist mir etwas anderes wichtig: dass nicht nur die Vögel in den Bäumen des Frankfurter Zoos ein Anrecht auf Poesie haben, sondern auch wir, die Literaturgemeinschaft des deutschen Sprachraums, des ganzen fahrenden Volkes, das von Greifswald bis nach Bozen und von Bremerhaven bis nach Klagenfurt fliegt und fährt in den Bäuchen silbriger, zur Verspätung neigender Lindwürmer, mit Flügeln und ohne, um die Menschen und sich selbst mit dem gesprochenen, gezwitscherten, gewisperten Wort zu erfreuen und sie daran zu erinnern…
Sprechen wir deshalb über die Lyrik.
Kann man überhaupt über das lyrische Gesamtwerk Elke Erbs sprechen, wie es der gemeine Germanist ausdrücken würde? Besonders wenn wir über eine Dichterin sprechen, die sich seit mehr als fünf Jahrzehnten ununterbrochen und unermüdlich mit der Sprache berät?
Wenn ich das Allgemeinste und Kürzeste über diese mehr als fünf Jahrzehnte ,des Arbeitens‘ sagen müsste, wäre es das Folgende: Es war und bleibt ein unermüdlicher und ununterbrochener Prozess des Selbstbeobachtens, -begreifens und -artikulierens, in dem Elke Erb ihre, die ihr gegebene Sprache immer weiter verfeinert, schleift und spitzt, als ein Werkzeug, als ein Skalpell beispielsweise, mit dessen Hilfe sie sich selbst seziert, jede Bewegung ihrer eigenen Wahrnehmung festhält, jedes Gefühl, jeden Gedanken. Von Anfang an, ab den frühesten Büchern kann man diese Selbsterforschung verfolgen, die keine Details, Färbungen, Untertöne, und seien es auch nur die kleinsten, einer äußeren Räson, zum Beispiel jeglichem Formzwang, opfern will oder kann. Unter anderem deshalb kommen die berühmten Erb’schen Kommentare und Kommentare zu Kommentaren zur Entfaltung, die bei ihr zum Bestandteil des poetischen Textes wurden: Jede genau festgehaltene Regung will noch weiter erklärt, präzisiert, unter einem anderen Blickwinkel gesehen werden. Die Geschichte des Schreibens bei Elke Erb war immer eine Geschichte des Selbstbegreifens und der Selbstkommentierung. Und weil ich kaum eine andere Person kenne, die sich so oft und so grundlegend geändert hat, wie Elke Erb es im Laufe der zwei Jahrzehnte tat, die wir uns kennen, musste das Feld für dieses Verfahren immer vorhanden sein, immer unerschöpflich, immer neu. Musste und muss. Wahrscheinlich hängt das auch damit zusammen, dass etwas Genanntes, besonders wenn es so genau genannt wird und so ausführlich kommentiert, nicht weiter so existieren kann – es muss sich ändern. Diese ständige Änderung löst eine beschleunigte Selbsterneuerung der Dichterin aus.
Unter diesen vielen Selbsterneuerungen gab es allerdings einen Moment, an dem Elke Erb nicht nur sich änderte, sondern ihr lyrisches Verfahren umkehrte, um nicht zu sagen umstülpte, und damit eine lyrische Konterrevolution beging, deren Auswirkungen sich in der Geschichte der deutschen Lyrik noch zeigen werden. Ich spreche jetzt über Sonanz, für meine Begriffe eines der bedeutendsten Lyrikbücher der deutschen Sprache.
Jeder weiß heute, wie Sonanz entstand. Über ihre 5-Minuten-Notate sprach Elke Erb oft, und manchmal, zum Beispiel in der Vorbemerkung zu Sonanz, ziemlich ausführlich. Aber ich möchte das jetzt ganz einfach, ganz technisch haben: „… automatisch aus mir heraus gelockt worden. Fast jeden Tag. Kein Thema, nur ein Datum. Keine Vorgabe am besten. Keine Idee vorher, was du schreiben wirst…“ – so habe ich in einem Gespräch mit ihr im Schweizer Radio gehört.
Über das altgediente Verfahren des automatischen Schreibens sagt treffend eine russische Literaturwissenschaftlerin, die Oberiuten-Spezialistin Anna Gerassimowa: „Das automatische Schreiben ist nicht so einfach, wie es scheint. Es setzt das Vertrauen in die eigene innere Stimme voraus, die Fähigkeit, diese Stimme ehrlich, ohne Beschönigung und ohne besondere Verluste und Verzerrungen zu fixieren, und – die Hauptsache! – es setzt eine Bedeutsamkeit dessen voraus, was hinter der inneren Stimme steht. Ist diese dritte Voraussetzung nicht erfüllt, wird das Ergebnis des freiesten und authentischsten automatischen Schreibens für niemanden interessant sein, abgesehen vielleicht von einem Psychiater.“1
Ich sehe eine gewisse Ironie darin, dass Elke Erb in ihrem ewigen Streben nach Verfeinerung, zwecks Erkundung ihres Selbst, ihres Instruments, der Sprache, eine Umkehr ihrer Verfahrensweise – anfangs, vermute ich, unbewusst – vorgenommen hat. Bedingt durch das besondere Procedere der Notation hat sie in Sonanz nicht mehr die Sprache gespitzt und geschliffen, sondern sich selbst ,instrumentalisiert‘. Entsprechend erreichte sie, wie sich herausstellte, statt des eigenen Unterbewusstseins das Unterbewusstsein der Sprache (die Sprache, und wahrscheinlich auch die Elke, hat nichts ,Unbewusstes‘ in sich, nur diese immer breiter werdende Schicht unter dem Bewussten und Definierten, nur deshalb verwende ich dieses von den Freudianern ungeliebte Wort). Also, zum Werkzeug, zum Skalpell wurde in Sonanz das Ich der Autorin, und die Sprache wurde zu demjenigen, dessen Unterbewusstsein erkundet wird, seziert und stimuliert. Und am Ende sich artikuliert.
Und was sehen wir in Sonanz, welche Erkenntnisse brachte uns dieses Buch? Sehr viele, ich kann sie nicht alle auflisten! Eine der wichtigsten: Das Unterbewusstsein der Sprache ist voll von ,kristallografischen‘ Strukturen, von metrischen, strophischen und ,reimischen‘ Elementen, Spuren der Kultur- und Literaturgeschichte. Ich unterstreiche: von Elementen, nicht von fertigen Sachen! In keinem anderen von Elke Erbs Büchern erinnern ihre Gedichte stellenweise so an ,Gedichte‘, nirgendwo sonst in ihren Texten singt sie von Zeit zu Zeit so harmonisch und bitterlich. Was für eine Ehrlichkeit, oder sagen wir besser: Fairness war hier von einer Autorin verlangt, die fünf Jahrzehnte lang alles ,Künstliche‘, alles ,Kulturkonservative‘, alles ,Singende‘, alles ,Literarische‘, was in Bezug auf die Lyrik alles ,Verstechnische‘ bedeutet, kurz gesagt, alles ,Persönlichkeitsfremde‘ wegräumte, um die maximale persönliche Authentizität ihrer Texte zu erreichen, und jetzt, beim Bearbeiten, beim Nachfeilen ihrer 5-Minuten-Notate, diese Vers-Elemente nicht nur hinnehmen, sondern sogar noch deutlicher, klarer, präziser, ausgeprägter fassen musste!
Dieses umgekehrte Kommunizieren mit der Sprache stelle ich mir nicht einfach vor. Elke ist stur, und die Sprache ist giftig:

Sprache, du bist blöd, sagt Elke. – Recht hast Du, sagt die Sprache. Du hast mir eins meiner größten Geheimnisse entlockt: Ich bin blöd, und das ist das Schönste an mir!

Sonanz zeigt in so noch nicht dagewesener Weise, was für ein ungeheures Potenzial das ,Verskonservative‘ in der deutschen Sprache, der deutschen Lyrik immer noch hat. Welche Möglichkeiten noch vorhanden sind, die im Unterbewusstsein der Sprache konserviert sind und danach verlangen, ausgelebt, ins Bewusstsein gehoben zu werden. Die Auswirkung, die Re-Sonanz dieses Umstands wird sich in den kommenden Generationen zeigen, und entsprechend wird dieses Buch mit ziemlicher Sicherheit einmal als eines der einflussreichsten, schicksalsträchtigsten Lyrikbücher der deutschen Literaturgeschichte geführt werden.

Oleg Jurjew, in Text+Kritik: Elke Erb – Heft 214, edition text+kritik, April 2017

 

WAS ÜBER DIE DICHTERIN ELKE ERB ERZÄHLT WIRD

In ihrem Schloss würden fünfundzwanzig Kronleuchter brennen
Und drei Goldfische habe sie in ihrem Aquarium schwimmen
Und sie bekomme viertausend Mark für einen Vers
Und arbeite an sechs Zeilen ein Jahr
Und jeden Morgen könne sie sich nach dem ersten Ei auch noch
Ein zweites leisten ganz wie sie wolle ein Ei oder zwei

Clemens Schittko

 

Kathrin Bach (unter Mitarbeit von Annekathrin Walther): „Poesie ist nicht unerklärlicher als irgendetwas anderes Lebendiges“
republik.ch, 28.10.2020

 

Elke Erb Dankrede zum Erich-Fried-Preis 1995
Monika Rinck: Denke: Knall

 

Gedichtverdachte: Zum Werk Elke Erbs. Im Rahmen der Ausstellungseröffnung In den Vordergrund sprechen Hendrik Jackson, Steffen Popp, Monika Rinck und Saskia Warzecha über Elke Erbs Werk.

 

Urs Engeler: Fünf Bemerkungen zu E. E.

Franz Hofner: Hinter der Scheibe. Notizen zu Elke Erb

Elke Erb: Die irdische Seele (Ein schriftlich geführtes Interview)

Elke Erbs Dankesrede zur Verleihung des Roswitha-Preises 2012.

Im Juni 1997 trafen sich in der Literaturwerkstatt Berlin zwei der bedeutendsten Autorinnen der deutschsprachigen Gegenwartslyrik: Elke Erb und Friederike Mayröcker.

 

 

Klassiker der Gegenwartslyrik: Elke Erb liest und diskutiert am 19.11.2013 in der literaturWERKstatt berlin mit Steffen Popp.

 

Lesung von Elke Erb zur Buchmesse 2014

 

 

Zum 70. Geburtstag der Autorin:

Steffen Popp: Elke Erb zum Siebzigsten Geburtstag
literaturkritik.de

Zum 80. Geburtstag der Autorin:

Waltraud Schwab: Mit den Gedanken fliegen
taz, 10.2.2018

Olga Martynova: Kastanienallee 30, nachmittags halb fünf
Süddeutsche Zeitung, 15.2.2018

Michael Braun: Da kamen Kram-Gedanken
Badische Zeitung, 17.2.2018

Michael Braun: Die Königin des poetischen Eigensinns
Die Zeit, 18.2.2018

Karin Großmann: Und ich sitze und halte still
Sächsische Zeitung, 17.2.2018

Christian Eger: Dichterin aus Halle – Wie Literatur und Sprache Lebensimpulse für Elke Erb wurden
Mitteldeutsche Zeitung, 17.2.2018

Ilma Rakusa: Mensch sein, im Wort sein
Neue Zürcher Zeitung, 18.2.2018

Oleg Jurjew: Elke Erb: Bis die Sprache ihr Okay gibt
Die Furche, 8.3.2018

 

Annett Gröschner: Gebt Elke Erb endlich den Georg-Büchner-Preis!
piqd.de, 27.6.2017

Zum Georg-Büchner-Preis an Elke Erb: FR 1 & 2 + MOZStZSZ +
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Zur Georg-Büchner-Preis-Verleihung an Elke Erb: BaZBZStZ +
AZ + FAZ + SZ

 

Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2020 an Elke Erb am 31.10.2020 im Staatstheater Darmstadt.

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + KLGIMDb + Archiv +
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Georg-Büchner-Preis 1 & 2
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Im Universum von Elke Erb. Beitrag aus dem JUNIVERS-Kollektiv für die Gedenkmatinée in der Volksbühne am 25.2.2024 mit: Verica Tričković, Carmen Gómez García, Shane Anderson, Riikka Johanna Uhlig, Gonzalo Vélez, Dong Li, Namita Khare, Nicholas Grindell, Shane Anderson, Aurélie Maurin, Bela Chekurishvili, Iryna Herasimovich, Brane Čop, Douglas Pompeu. Film/Schnitt: Christian Filips

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Die Elkeerb“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Elke Erb

 

Elke Erb liest auf dem XVII. International Poetry Festival von Medellín 2007.

 

Elke Erb liest bei OST meets WEST – Festival der freien Künste, 6.11.2009.

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