Else Lasker-Schüler: In Theben geboren

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Else Lasker-Schüler: In Theben geboren

Lasker-Schüler-In Theben geboren

GEBET.

Ich suche allerlanden eine Stadt,
Die einen Engel vor der Pforte hat.
Ich trage seinen großen Flügel
Gebrochen schwer am Schulterblatt
Und in der Stirne seinen Stern als Siegel.

Und wandele immer in die Nacht…
Ich habe Liebe in die Welt gebracht,
Daß blau zu blühen jedes Herz vermag,
Und hab ein Leben müde mich gewacht,
In Gott gehüllt den dunklen Atemschlag.

O Gott, schließ um mich Deinen Mantel fest.
Ich weiß, ich bin im Kugelglas der Rest,
Und wenn der letzte Mensch die Welt vergießt,
Du mich nicht wieder aus der Allmacht läßt,
Und sich ein neuer Erdball um mich schließt.

 

 

 

Nachwort

Wer sich auch nur flüchtig mit Else Lasker-Schülers Lyrik abgibt, wird nach Sinn und Zweck der Verkleidungen und Maskierungen in ihrem Leben und Werk fragen. Beim Blättern durch ihre Briefe fällt auf, wie selten sie ihren bürgerlichen Namen verwendet. Lieber unterschreibt sie als Prinz Jussuf von Theben, ihre Lieblingsmaske, oder Tino, Prinzessin von Bagdad, oder als Indianerhäuptling, blauer Jaguar und so fort. Dieses Spiel mit der Identität wird oft belächelt, doch in Lasker-Schülers Fall ist es wesentlicher Bestandteil ihrer Selbstfindung und daher ihrer Dichtung. Um aus der konservativen Beschränkung auszubrechen, die für Frauen als selbstverständlich galt, bedurfte es besonderer Strategien. So prägen Verstellungskunst und Ironie ihr Werk. „Ironie muss zum Hintergrund Hunger haben muss schmerzlich sein aber nicht albern“, schrieb sie einmal an einen Bekannten, der sie geärgert hatte. Verstellung ist aber auch Verwandlung, eine Form der Zauberei, ein Zusammenschweißen von Andersartigem, das man doch als verwandt erkannt hat. Auch ihren Freunden gab sie neue, „passendere“ Namen, die ihr wahres Wesen zum Vorschein bringen sollten, einmal erfand sie sogar einen neuen bürgerlichen Namen, als sie ihren zweiten Mann Georg Levin in Herwarth Walden umtaufte, der Name, den er beibehielt und unter dem er bekannt wurde. Der Bilderreichtum der Gedichte, der auf den ersten Blick Disparates zusammenbringt, also Äpfel und Orangen zu vergleichen scheint, öffnet dem Leser auf einmal neue Fenster, ähnlich wie Lasker-Schülers Freunde, die expressionistischen Maler. Wer in der Lyrik das Schlichte liebt, dem werden nur wenige der vorliegenden Gedichte gefallen. Doch der postmoderne Geschmack, der uns gelehrt hat, dekorative Bauteile neu einzuschätzen, wird Else Lasker-Schülers Kunst gerechter, als man es noch vor ein paar Jahrzehnten war.
In Spiel und Anspielung, in unverbindlichem Experimentieren mit Sprache und Kulisse sehen wir heute oft wieder das eigentlich Literarische, das überdies eine soziale Funktion ausübt dort, wo es die festgefahrenen Räder der Tradition ins Rollen bringt.
1869 im nordrhein-westfälischen Wuppertal in eine wohlhabende jüdische Familie geboren, gehörte sie einer Generation höherer Töchter an, beschützt (oder scheinbar beschützt), gut erzogen (oder scheinbar gut erzogen, denn Studieren galt als unweiblich), aber auf jeden Fall gebildet, denn Bildung (vor allem die Kenntnis der Klassiker der Weltliteratur) war ein fanatisches Anliegen der jüdischen Bürger. Später, in Berlin, wurde sie zur einzigen expressionistischen Dichterin, die ihre männlichen Kollegen (gelegentlich) gelten ließen. Als Frau hatte sie keinen leichten Stand und auch kein rechtes Vorbild, wie man sich zu geben hatte. Manche, darunter Franz Kafka, fanden ihre Selbststilisierungen unerträglich. Nach dem zweiten Weltkrieg beschrieb Gottfried Benn seine ältere Freundin, wie er sich an sie erinnerte: „Man konnte weder damals noch später mit ihr über die Straße gehen, ohne daß alle Welt stillstand und ihr nachsah: extravagante weite Röcke oder Hosen, unmögliche Obergewänder, Hals und Arme behängt mit auffallendem, unechtem Schmuck, Ketten, Ohrringen, Talmiringe an den Fingern, und da sie sich unaufhörlich die Haarsträhnen aus der Stirn strich, waren diese, man muß schon sagen: Dienstmädchenringe, immer in aller Blickpunkt.“
Mit dem Wort „Dienstmädchenringe“ verrät sich Benn. (Wenn sie doch wenigstens diese Ringe versteckt gehalten hätte!) Was ihn an Lasker-Schülers Auftreten stört, ist das Unbürgerliche, das er nur auf eine Art zu deuten weiß: es ist declassé, es gehört sich nicht. So zieht sich eine anständige Frau nicht an. Es fällt ihm nicht ein, daß sie sich nicht nur in ihrer Lyrik, sondern auch in ihrer Erscheinung neu konstituieren wollte. Heute, nachdem ganze Töchter- und Enkelinnengenerationen uns erzogen haben, Gefallen zu finden am Spiel mit billigem Schmuck, ganz zu schweigen von auffallenden „Obergewändern“ zu Hosen und Röcken, heute ist es leicht zu sehen, daß Lasker-Schüler ebenso wenig an Geschmacksverirrungen litt, wenn sie „unechte“ Steine trug, wie die expressionistischen Maler farbenblind waren, wenn sie grüne Gesichter malten. (Eine Geschmacksverirrung war schon eher ihre Verliebtheit in Gottfried Benn, den Antisemiten und zukünftigen Nazianhänger.)
Man muß aus Fairneß den letzten Satz von Benns Charakterisierung hinzufügen, nämlich: „Und dies war die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte.“ In der Lyrik verstand Benn Stilisierungen, Paradoxien und intertextuelle Anspielungen und Verkehrungen. Da wußte er, wann er originelle, kreative Sprachschöpfungen vor sich hatte, und hielt Lasker-Schülers Gedichte nicht für Dienstmädchenkitsch oder, wie andere Kritiker, für „schwülstig“, „brünstig“ und „peinlich“. Und doch ist auch hier bei Benn Vorsicht geboten. Die Steigerung „größte“ („größte“ Lyrikerin) nimmt er zurück, indem er andere deutsch dichtende Frauen abwertet. Er hält es nicht für nötig, sie mit Dichtern zu vergleichen, mit denen sie tatsächlich Gemeinsames verbindet, sondern eben nur mit solchen, die gleichgeschlechtlich sind. Auch fällt ihm kein Wort des Bedauerns ein über das Unrecht, das seiner alten Freundin und den anderen Vertriebenen angetan worden war.
Als die Nazis an die Macht kamen, mußte die Jüdin Lasker-Schüler emigrieren, zuerst in die Schweiz, dann nach Palästina. Sie starb 1945 noch vor Kriegsende in Jerusalem, in einem Exil, mit dem sie sich nie zurechtfand, unbeheimatet in einem Land, wo sie sich trotz angestrengter Versuche, mehr jüdisch als deutsch zu sein, nie akklimatisierte. Wie „ein Bündel – manchmal begeisterten – Elends“ habe sie damals in Zürich und Jerusalem ausgesehen, schreibt Heinz Politzer, einer ihrer Bewunderer, im Zusammenhang mit dem Gedicht „Die Verscheuchte“. Vielleicht aber war die äußerliche, scheinbare Verwahrlosung eine neue Rolle, in die sie sich einspielte, die Rolle der Vertriebenen. Denn geistig war sie in jenen Jahren auf der Höhe ihres Könnens.
In ihren Kindheitserinnerungen erzählt sie, wie sie mit Jungen aus der Nachbarschaft Kriegsspiele veranstaltete. „Aber ich mußte Feind sein“, schreibt sie, „weil ich ein Mädchen war, zur Strafe… und ich fügte mich drein, freiwillig ein französischer General zu werden, denn die Feinde behaupteten, sie könnten dann besser richtig schimpfen, da ich unter meinen Röckchen eine weite, rote Flanellhose trage, ,Franzos mit der roten Hos.‘“ Das Kind hat zuerst nichts dagegen, den Feind zu spielen, aber kurz darauf wird sie von einem Heer kleiner Jungen überfallen. „Sie rissen mir den Schulranzen vom Rücken, warfen mich zur Erde und traten und pufften mich: ,Franzos mit der roten Hos. Franzos mit der roten Hos.‘“. In ihrer ersten „Rolle“, die sie „zur Strafe“ spielen mußte, scheitert sie, und zwar weil sie ein Mädchen ist. Hier ist zum ersten Mal die Grenze, an die sie immer wieder stoßen wird. Der Ausweg führt in die Kunst, in die Künste, vor allem in die Lyrik, die sie am besten beherrschte, aber auch zum Drama, zur Prosa und zum Zeichnen und Malen. Sie charakterisiert sich bündig in der Kurzbiographie, die sie für Kurt Pinthus’ expressionistische Anthologie Menschheitsdämmerung (1920) schrieb: „Ich bin in Theben (Ägypten) geboren, wenn ich auch in Elberfeld zur Welt kam im Rheinland. Ich ging bis 11 Jahre zur Schule, wurde Robinson, lebte fünf Jahre im Morgenlande, und seitdem vegetiere ich.“ Ohne Wehleidigkeit wird hier in einem kleinen Prosagedicht die Flucht aus der Einsamkeit in die Phantasie angesprochen. Trotz aller Erfolge bleibt sie ihr Leben lang ausgegrenzt als Frau und als Jüdin und erfindet die Identitäten und Identitätsspiele, die den Kern ihrer Dichtung ausmachen.
Sie ist vor allem Deutsche und Jüdin erst in zweiter Linie. Judentum war etwas, womit man sich auseinandersetzen mußte, wenn man so wie sie mit deutschem Bildungsgut, doch im antisemitischen Deutschland aufwuchs, es war kein gemachtes Bett, in das man sich legen, keine alten Pantoffel, in die man mit wunden Füßen schlüpfen konnte. Man hatte sich von diesen Ursprüngen zu weit entfernt. Ein Urgroßvater war immerhin noch Rabbiner gewesen, aber das war lange her. Deutsch war primär, jüdisch sekundär. In dem Gedicht „Mein Volk“ schafft sich Lasker-Schüler eine jüdische Maske, die wie eine seltsame Selbstentfremdung wirkt. Das heißt, das lyrische Ich sieht sich zwar als Jude oder Jüdin, doch aus einer Entfernung, die die vermeintliche Zugehörigkeit wieder in Frage stellt. Das Problem der Assimilation wird umschrieben als „abgeströmt“ sein von „meines Blutes Mostvergorenheit“. Auf eine so originelle und gerade in ihrer Verstiegenheit grandiose Metapher kommt man nur, wenn man praktisch nichts mehr zu tun hat mit einer Gemeinschaft, in die man trotzdem von anderen eingewiesen wird und die man auch zögerlich als eigene, wenn auch schwache Tradition erkennt. Das jüdische Volk ist ihr unheimlich („schauerlich“ und „morsch“), wie es die eigenen Leute einem nie sind. So sieht eine Deutsche die Juden, und doch – das ist ja das Besondere dieses Gedichts enthält es die Anstrengung einer persönlichen Identifikation. Obwohl Jüdin, sieht sie sich als Jüdin eine Rolle spielend, in einer Art von Orientalismus, der sich das exotisch Fremde aneignen und es sich doch vom Leibe halten möchte. Ähnlich ist „Der alte Tempel in Prag“ konzipiert. „Staubfällig“ (nicht baufällig!) und „ergraut“ erscheint er, doch der „zerborstene Synagogenstern“ erwacht, als die jungen Juden in den Krieg ziehen, das heißt, am Leben der Mehrheit teilnehmen.
Das Judentum wird wieder aufgenommen von denen, die scheinbar im Begriff sind, es abzustreifen. Die Väter haben versagt („Und die alten Väter schlossen seine Gitter“), doch die Frauen finden zum Synagogenstern zurück: „Hinter seinem Glanze beten wieder Mütter“ – eine unvermutete Aufwertung der Frauen im Judentum, wie wir sie bei dieser Dichterin als Überraschungselement oft finden.
Auch ihre biblischen Gedichte können als jüdische Gedichte gedeutet werden, obwohl dieselben Sagen ja auch dem Christentum zugrunde liegen und christlichen Dichtern gedient haben. Um so auffallender ist es, wie Lasker-Schüler ihre Vorlagen vereinnahmt, die Geschichten neu interpretiert und vor allem erotisiert, sie mit Ironie und als Maskierungsmöglichkeiten behandelt. Dem Erzvater Jakob, dem Hirtenpatriarchen, stülpt sie eine Tiermaske auf („Jakob“), und er, der Ehrwürdige, wird zum Alpha-Tier der Herde, zum Büffel, zum Urtier im Patriarchen, degradiert: „Jakob war der Büffel seiner Herde.“ Der biblische Jakob ist der große Liebende unter den Erzvätern, der die zu Recht berühmte zweimal siebenjährige Geduldsprobe einer Brautwerbung bestand. Doch die Affenbisse, die er im Gedicht im Flußwasser kühlt, sind kein Sinnbild einer edlen Leidenschaft, eher einer verächtlichen, zumindest lächerlichen Sinnlichkeit: Der geile Affe ist seit je ein Gemeinplatz in Kunst und Literatur.
Schließlich vertauscht die Dichterin in der letzten Zeile Ochsen und Büffel, wohl weil ein Rindviehgesicht wie das andere aussieht. Dieser endgültigen Verunglimpfung folgt jedoch unvermutet die Rückverwandlung ins Menschliche. Indem sich auf Jakobs Tiergesicht ein Lächeln, vielleicht das erste überhaupt (es heißt ja, er „erschuf“ es), abzeichnet, steht er wieder an einem Anfang, ist wieder unsereiner. Denn kein Tier kann lächeln. Zwischen dem ersten Wort, seinem Namen, und dieser überrumpelnden, schwer vorstellbaren Mundverzerrung am Ende war die Würde des Patriarchen, die Manneswürde und wohl auch die Menschenwürde schlechthin, durch eine Tiermaskerade in Frage gestellt worden. Die Anspielungen untergruben den Autoritätsanspruch des Bibeltextes. In der letzten Zeile findet beschwichtigend eine Menschwerdung statt. Das Gedicht „Jakob“ enthält zwar keine direkte Ablehnung des Patriarchats, aber doch einen deutlichen Abbau patriarchalischer Wertvorstellungen.
Und nun die biblischen Frauen: Eva in „Evas Lied“ spricht nicht nur für sich, sondern auch für Adam und übernimmt die Verantwortung für die Vertreibung aus dem Paradies sowie für Angst und Genuß des irdischen Lebens. In „Die Stimme Edens“ ist Eva nicht etwa die Mutter Kains und Abels, sondern der „Gottseele“; und ihre Angst, wenn sie „den Rücken Gottes“ herabrollt, entspringt der Gottesnähe. Adam kommt hier gar nicht ins Blickfeld; Eva ist allein mit Gott. In „Eva“ ist unser aller Mutter auch dem Gatten gegenüber fast mütterlich, ein Gestus, den wir oft in Lasker-Schülers Liebesgedichten finden. Sogar in dem an Gottfried Benn gerichteten „Giselheer dem Tiger“, wo das weibliche lyrische Ich dem Geliebten in der einen Hälfte des Gedichts ganz ausgeliefert zu sein scheint („Rote Küsse malen deine Messer / Auf meine Brust – // Bis mein Haar an deinem Gürtel flattert“), trägt sie ihn in der anderen Hälfte des Gedichts, wie ein Junges, zwischen den Zähnen herum.
Augenfällig ist die starke Erotisierung der Bibel sowie die Profilierung und Betonung weiblicher Gestalten. In dem Gedicht „Jakob und Esau“ wird die Bibelgeschichte in einer einleuchtenden, wenn auch gewagten Neuinterpretation umgedichtet, indem Esau sein Recht als Erstgeborener nicht um ein Linsengericht verkauft, wie geschrieben steht. Was er begehrt, ist der „Dienst der Magd“, die die Linsen zubereitet und seiner Mutter Rebekka gehört. Diese Magd hat Süßigkeiten in ihrem Schoß („Die sie in ihrem Schoß zum Mahle bricht“) und ist eine „Engelin“ und eine „himmlische Fremde“: „Der Bruder läßt dem jüngeren die Jagd / Und all sein Erbe für den Dienst der Magd“. In „Pharao und Joseph“ sind die Titelfiguren ein Liebespaar, dessen homoerotische Bindung nach dem ersten Vers, in dem Pharao seine „blühenden Weiber“ verstößt, außer jedem Zweifel steht. Die Unbefangenheit, mit der die Dichterin das heikle Thema angeht, ist kein Ausrutscher, denn sie wiederholt es in den beiden Gedichten „David und Jonathan“, deren „Freundschaftserklärungen“ eben auch zu erotisch sind, um nur als solche zu gelten. Von Anfang an war die gewagte Erotik ein Kennzeichen ihrer Gedichte. Schon das Gedicht „Schamröte“, mit seiner offenen Liebeserklärung und halb vertuschten sexuellen Bedeutungsebene, aus dem frühen Band Styx (1902) war für eine Frau zumindest äußerst ungewöhnlich.
Für Lasker-Schüler ist die Bibel kein heiliges Buch, im konventionellen Sinne, sondern ein primitives, voller schöner alter Fabeln, die sich auslegen lassen, je nach Bedarf. In „Abraham und Isaak“ ist von kindischer Tierquälerei die Rede und gleichzeitig von einem nicht minder primitiven Verlangen, den Altar, auf dem ein Menschenopfer gebracht werden soll, mit Muscheln und Schwämmen zu schmücken. Märchen- und bilderbuchartig mutet das Gedicht „Hagar und Ismael“ an, das von der Trennung der Halbbrüder Isaak und Ismael und von des einen Verbannung in die Wüste handelt und gleichzeitig von Kinderspielzeug und der erheiternden Vorstellung von Menschen, die mit „Straußenhähnen“ um die Wette rennen. „Du Ring in meiner Lippe Haut“, als Liebeswort von David an Jonathan gerichtet, malt weiter an dem Sittengemälde eines primitiven, wenn auch hochpoetischen Volkes. Ein Vers wie „Als Moses im Alter Gottes war“ kommt aus einem kindlichen Bewußtsein, für das die Ewigkeit unvorstellbar ist, und reduziert den Herrgott zu einem sehr, sehr alten Herrn. Gott wird zu Moses, nicht nur Moses zu Gott. Im Kontrast rühmt derselbe Text, der ja eigentlich von Alter und Jugend handelt, den jungen Josua nicht etwa für seine Heldentaten, sondern wegen seiner Lieblichkeit und erotischen Attraktivität. Nicht anders ergeht es Esther, die zwar der König, aber auch Gott und Götzen und sämtliche jungen Juden lieben und nach der sogar die jüdischen Feiertage duften, vermutlich wie ein heiteres Purimfest, Esthers Gedenktag und der ausgelassenste der jüdischen Feiertage. Dazu kommt die Betonung der weiblichen Gestalten. Ein so buntes, eigenwilliges Bibelbuch, wie es in der Phantasie von Else Lasker-Schüler entstand, hatte es noch nie gegeben.
Über der Diskussion der Liebesgedichte an Liebhaber wird häufig übersehen, daß die Liebe der Dichterin auch ihrer Mutter und ihrem Sohn Paul (Vater unbekannt) galt, der als junger Mann an Tuberkulose starb und den sie monatelang selber gepflegt hatte. Ihrer Freude an Schwangerschaft und Geburt, zwei Themen, die in der Literatur so wenig behandelt werden, wie sie im Leben häufig vorkommen, gibt sie Ausdruck in „Meinlingchen“, in dem sie das Blut der Schwangeren, das das Kind nährt, „lenzensüss“ und die Geburt einen „Muttersturm / Aus süssem Dunkel / Von meinen Herzwegen“ nennt, ein Jubelgedicht, das seinen eigentümlichen Reiz auch dem Kontrast zu anderen, pessimistischen Versen über Einsamkeit und Tod verdankt. Ebenso vertrauensvoll glücklich mutet das Mutterschaftsgedicht „Und suche Gott“ an. Hier münden die Gottsuche und aller Egoismus („Ich habe immer vor dem Rauschen meines Herzens gelegen“) in der Betrachtung des „goldgedichteten“ und „goldgelichteten“ Kinderkörpers. Diese zu wenig beachteten Gedichte bringen, in ihrer Körperbezogenheit, einen ganz neuen Ton zu einem im Biedermeier arg verkitschten Motiv. Um so stärker wirkt im Kontext der frühen Gedichte an das lebende Kind die späte Klage um den Verstorbenen. In „An mein Kind“ heißt es: „Und ich liebe des Zimmers Wände, / Die ich bemale mit deinem Knabenantlitz.“ Da ist die Kunst ein eher armseliger Ersatz für den verlorenen Menschen, denn der Schmerz der Mutter übertönt deutlich den Trost der Wandmalerei. Ähnlich im Gedicht „Mutter“, der Klage des „mutterseelenallein“ gebliebenen alten Kindes, das sich nach Wärme sehnt, und in dem Prosagedicht „An mich“, das gar nicht so sehr von der Dichterin selbst handelt als von den liebsten verlorenen Menschen: der Mutter und dem zu früh verstorbenen Kind. Die Sprecherin sieht sich als „noch heute sitzengeblieben auf der untersten Bank der Schulklasse“. Beide Gedichte sind im Zeitalter der Psychoanalyse ein sehnender Rückgriff auf die unvergängliche Kindheit in der Psyche des Erwachsenen. Und vielleicht gehört hierhin auch das viel frühere biblische Gedicht „Abigail“: dort ist die Tochter Sauls der Mittelpunkt aller Sorgen des mächtigen Königs („Melech“ auf hebräisch, wohl das einzige hebräische Wort, das die Dichterin öfters gebraucht). Dieser Saul ist einer kleinen Tochter Wunschtraum von einem großen, schützenden Vater. Als der stirbt, scharen sich Engel und Tiere um die Zurückgebliebene, wie zu einem Urbild menschlichen Leidens.
Von den eigentlichen Liebesgedichten ist „Ein alter Tibetteppich“ wohl zu Recht das berühmteste. Der Tibetteppich, der zum Teppichtibet wird, also zum exotischen Land des Liebesvollzugs; die Zeiten, die wie ein Teppich als „buntgeknüpft“ erscheinen, so daß Zeit und Raum verschmelzen; der Neologismus „maschentausendabertausendweit“, der einen ganzen Vers in Anspruch nimmt: all diese sprachschöpferischen Novitäten „orientalisieren“ die Liebe, verfremden sie, so daß sie als etwas ganz Neues erscheint, nämlich als ein „himmellanges“ Wunder. Aus diesem farbenfrohen Textil der Zeiten wird in dem späten Gedicht „Hingabe“ ein Gewebe der Hoffnungslosigkeit: „Mit einem Kleid aus Zweifel war ich angetan, / Das greises Leid geweiht für mich am Zeitrad spann.“ Dazu das frühe „Weltende“, das eine pessimistische Stimmung ins Kosmische überhöht oder, wie man es liest, das Wissen um das Universum in menschlichen Gefühlen widerspiegelt. Grab, Sarg und sterben sind die tonangebenden Wörter der jeweiligen Strophen, aber das eigentliche Subjekt ist der liebesuchende Mensch, der bei einem anderen Trost findet: zehn Verse, die das expressionistische Lebensgefühl aufs kompakteste ausdrücken. Zu den Varianten der Liebe gehört auch die zufriedene Idylle von „Heim“ und die sehr späten Gedichte „Ein Liebeslied“ und das klangschöne „Ihm eine Hymne“, in dem die Liebe die Flucht aus der unerträglichen Welt verspricht. In dem einen heißt es: „Wir wollen wie zwei seltene Tiere liebesruhen / Im hohen Rohre hinter dieser Welt“; in dem anderen: „Ich lausche seiner Lehre, / Als ob ich vom Jenseits höre…“ Die Liebe oder das Liebesgedicht ist in diesen späten Versen ein Halt in einer Welt, die ihr sonst nichts mehr zu bieten hat. „Ich erinnere mich meiner näher… / In seinem heiligen Schwang“: das bedeutet, das geschwächte Selbstgefühl erstarkt in der Nähe des Anderen. In dem lautlich perfekten Gedicht „So lange ist es her…“ steht ganz ähnlich: „Im Marmor deiner Gebärde / Erinnert mein Leben sich näher“, aber hier folgt der Vers: „Doch ich weiss die Wege nicht mehr“, und das Gedicht endet mit einer trostlosen Gebärde des Alterns und Sich-Verlierens: „Ich aber greife ins Leere.“ In diesen späten Versen wird die Angst vor dem Ichverlust spürbar, den kein Rollenspiel mehr aufhalten kann.
Lasker-Schüler hat an denselben Gedichten oft jahrelang gefeilt und immer wieder neue Versionen geschrieben. So spontan emotional sie beim ersten Lesen klingen mögen, sie sind mit viel Überlegung und in strenger Auswahl der Ausdrucksmöglichkeiten entstanden. Der vorliegende Band enthält als Beispiel die zwei Versionen von „Selbstmord“. Die erste Fassung spielt mit Unregelmäßigkeiten in der Zeilen- und Strophenlänge und betont die schaurige Landschaft. Die spätere Fassung weist ein geglättetes Versmaß auf und ist in fünf gleichmäßige Dreizeiler gegliedert. In beiden Fassungen wird das Wort „Lustmord“ zum nicht ernst zu nehmendem Verbum umgestaltet, und in beiden sind die sechs originellsten Verse des Gedichts enthalten:

Ich wollt, ich wär eine Katz geworden;
Der Kater schleicht sie lustzumorden
Im vollmondblutenden Abendschein.

Der Tod selbst fürchtet sich zu zwein
Und kriecht in seinen Erdenschrein,
− Aber ich pack ihn mit meiner Tatze.

Die Unterschiede sind gering, und doch hinterlassen die beiden Gedichte einen verblüffend unterschiedlichen Eindruck, der erste gespenstergeschichtenhaft, der zweite psychologischer und nostalgischer.
Ein weiteres Beispiel heißt in der späteren, hier wiedergegebenen Fassung „Die Verscheuchte“. Es geht um das Bild der Vereinsamten, Vertriebenen, die sich an ihren früheren Geliebten erinnert, der auch ein Dichter war oder ist. In der endgültigen Version verklingen die Verse in Resignation und Trauer. Die erste jedoch, schon 1934 in Zürich mit dem Titel „Das Lied der Emigrantin“ veröffentlicht, endet mit zwei Versen, die es in sich haben, die nämlich die ausdrückliche Feindseligkeit des Geliebten ansprechen:

Und deine Lippe, die der meinen glich,
Ist wie ein Pfeil nun blind auf mich gezielt.

Mit diesen Endzeilen entsteht – wiederum verblüffend – ein ganz anderes Gedicht.
Lasker-Schüler hat eine ganze Reihe von Gedichten über andere Künstler verfaßt, darunter auffallend viele über Künstlerinnen, alle getragen von Zuneigung, Großzügigkeit und Bereitschaft, das Werk der Freunde zu verstehen und in die eigene Sprache zu übertragen. Es ist daher ungerechtfertigt, sie einer zu großen Ichbezogenheit zu bezichtigen. In diesen Gedichten sieht sie die Künstler, die sie behandelt, auch gern im Kostüm, in der Verkleidung, wie sich selbst.
In Männern findet sie oft kindlich-kindische Eigenschaften, in Frauen hingegen betont sie ebensooft sogenannte „männliche“ Qualitäten, wie robuste Ideen und eine kraftvolle Ausführung derselben. Über George Grosz’ satirische Bildwelt schreibt sie:

Wie lange im Fluß gelegen
Blähen seine Menschen sich auf,

Mysteriöse Verlorene mit Quabbenmäulern
Und verfaulten Seelen.
(„Georg [sic!] Grosz“)

Aber über den Schöpfer dieser bewußt abstoßenden Zeichnungen meint sie:

Und doch ist er ein Kind,

Der Held aus dem Lederstrumpf;
Mit dem Indianerstamm auf Duzfuß.

In dem Prosagedicht „An Franz Marc“ trägt der Maler „sein Wunderherz… in Fell gehüllt wie ein schlafendes Knäblein heim über die Wiesen, wenn es müde war“. Der Maler mit dem Kinderherzen ist auch der Maler als Zauberer (ein Wort, das sie gerne auch auf andere Künstler anwendet), dessen Geschöpfe die Natur auf den Kopf stellen und gerade dadurch verherrlichen:

… die Tiere der Wildnis begannen pflanzlich zu werden in seiner tropischen Hand. Tigerinnen verzauberte er zu Anemonen, Leoparden legte er das Geschmeide der Levkoje um…

In dieser bewundernden Beschreibung steckt auch eine Rechtfertigung für das bunte Gemisch von Metaphern in ihren eigenen Gedichten.
In den Gedichten an Gottfried Benn („Giselheer dem Tiger“; „Giselheer dem Heiden“; und das Eifersuchtsgedicht „Höre!“ wird der Empfänger im Titel zunächst zum jüngsten Nibelungenkönig stilisiert, aber im Text wirbelt es von Pflanzen und Tieren, die ineinandergreifen und sich ineinander verwandeln. Man kann, wenn man so will, in dieser Verquickung von Phantasie und Natur ein neuromantisches Element sehen. Für Ernst Toller schrieb Lasker-Schüler ein Gedicht, das seine Festungshaft einschließt, aber noch nichts von seinem späteren Selbstmord in New York weiß. Darin ist der Schriftsteller – wieder einmal – einer, der wie ein Kind betet und um den herum vertrauensvolle Kinder Fangen spielen. Gleichzeitig ist er einer, der „mit Ruß der Schornsteine“ seine Schauspiele der Fronarbeit schreibt. Toller ist Jude, Christ und „hindusanft“. So hat er trotz – oder wegen seiner Kindlichkeit an allen Religionen teil. Sanfte Stärke ist das Merkmal dieser von der Dichterin bewunderten Männer. Dagegen die Bildhauerin Milly Steger: „Milly Steger ist eine Bändigerin, / Haut Löwen und Panther in Stein. //… Milly Steger ist eine Büffelin an Wurfkraft.“ „Von den Überschwenglichkeiten Franz Werfels“ schreibt sie im Gesprächston, er sei „ein entzückender Schuljunge“, dem sie glühende, unbeantwortete Liebesbriefe schreibe. Dann:

Und fromm werden seine Lippen
Im Gedicht.

Manches trägt einen staubigen Turban.
Er ist der Enkel seiner eigenen Verse.

Die Vorstellung, daß ein Dichter jünger sei als seine eigenen Gedichte, ist eine humorvolle, sanfte Kritik an beiden, besonders an traditionellem Material. Im Falle Werfel, der Kitschversuchungen leicht erlag, ist diese Kritik nicht unangemessen. Überhaupt ist Lasker-Schüler als Kritikerin noch zu entdecken.
Auch die Malerin Alice Trübner ist eine Zauberin der Verwandlung, und Marianne von Wereffkin betreibt die Malerei als Spiel: „Marianne spielt mit den Farben Russlands malen“, die Farben sind ihre „treuen Spielgefährten“. Sie selbst wird in männlicher Verkleidung angesprochen: „Ich nannte sie den adeligen Strassenjungen.“ Wie in den Bibelgedichten ist in den Künstlergedichten die Grenze zwischen den Geschlechtern fließend. Lasker-Schülers visuelle Gabe, die ihre biblischen Gedichte zu stark aufgetragenen anschaulichen Bildern macht, hilft ihr, Künstler, darunter auch Tänzerinnen, kritisch zu sehen und oft treffend einzustufen.
Über Georg Trakl und seinen Tod hat sie zwei Gedichte geschrieben. Das erste ist typisch in seinen überschwenglichen Vergleichen („Er war wohl Martin Luther“), um seine geistigen Qualitäten herauszustreichen, mit verhaltenen Anspielungen auf Trakls Rhythmen:

Sein Schatten weilte unbegreiflich
Auf dem Abend meines Zimmers.

Das zweite hingegen ist ein ganz schlichter Zweizeiler:

Georg Trakl erlag im Krieg von eigener Hand gefällt.
So einsam war es in der Welt. Ich hatt ihn lieb.

Anders als in „Selbstmord“ ist hier nicht der geringste Zusatz von Verspieltheit. Der erste Vers ist schwerfällig, man kann ihn, wegen der vielen „g“s, gar nicht schnell sprechen. Und dann kommt eine Deutung dieses Freitods:

So einsam war es in der Welt.

Hier trägt die ganze objektive Wirklichkeit die Verantwortung für Georg Trakl. Aber der letzte Teil der Zeile ist subjektiv, persönlich: „Ich hatt ihn lieb“, ein ungeschminkter Ausdruck der Trauer, der Rollen abbaut, aufs Wesentliche abzielt. Darüber hinaus enthalten diese letzten vier Worte die Aufhebung der eben beschworenen Welteinsamkeit. Es ergibt sich eine Art Dreieck. Der Tatsachenbestand im ersten Satz, seine Ursache im objektiven Umfeld und schließlich die private Aussage über Freundschaft oder Liebe, welche die beiden vorhergehenden Sätze neu vibrieren läßt. Zwischen den drei Sätzen sind keine Übergänge, keine Brücken: die muß der Leser sich selbst bauen. Es ist daher keineswegs ein einfältiges Gedicht, aber es ist auch kein geistreiches, hat nichts mit Rollen zu tun und präsentiert sich, so meine ich, als Antithese zum Orientalismus, zur Verkleidung, zum Spiel mit den Masken, das diese Dichterin so virtuos beherrschte. Daher mein Stichwort „ungeschminkt“.
Dieses kleine Gedicht entspricht genau den Anforderungen eines klassischen Epigramms. Ein Epigramm, wenn der kurze Exkursus erlaubt ist, war ursprünglich eine Inschrift auf einem Gegenstand, z.B. einer Vase. Wenn der Gegenstand nicht vorhanden war, wurde er im ersten Teil des Epigramms beschrieben. Dann konnte ein solches Objekt auch ein Mensch sein, wie in unserem Fall. Der zweite Teil war eine Aussage. Bei den Römern, vornehmlich bei Martial, ist dieser zweite Teil pointiert, witzig, und so wird der Begriff Epigramm heute auch meistens verstanden. Nicht so bei den Griechen. Die kurzen Gedichte der griechischen Anthologie sind stumpf, wie Lessing sie nannte, nicht spitz oder witzig. Wichtig für die Gattung war vor allem die Zweiteiligkeit und der Bezug des zweiten Teils auf den ersten. Epigramme waren oft bevorzugte Grabinschriften. In der deutschen barocken Dichtung, also im 17. Jahrhundert, wurden sie so beliebt, daß man sie dutzendweise verfaßte, ohne die geringste Absicht, sie auf einem tatsächlichen Grabstein anzubringen. Das ist die ehrwürdige Tradition von Lasker-Schülers Trakl-Nachruf.

Kann man Lasker-Schülers Dichtung religiös nennen? Der liebe Gott kommt häufig genug darin vor, aber selten als Respektsperson. In „Wir Beide“ heißt es: „Der liebe Gott träumt seinen Kindertraum / Vom Paradies – von seinen zwei Gespielen“, und einer ist das lyrische Ich als Gespielin Gottes, durch die Liebe zurückversetzt ins Paradies, wo ein noch junger Gott waltet. Jung ist auch der Gott von „Im Anfang“, wo das männliche Ich als „Gottes Schlingel“ den Teufel und den Herrgott vertauscht, ohne für diese Todsünde bestraft zu werden. Mit leichter Abwandlung spricht Mephisto in ihrem Faust-Drama „IchundIch“ dieselben Worte, als könnte sich die Dichterin auch in den Teufel als Verwandlungsmöglichkeit hineindenken. In „Zebaoth“ ist Gott der Geliebte:

O, du Gottjüngling,
… Du süßer Gott,
Du Gespiele Gott

Oder er ist der Kinder- und Patriarchengott mit Schaumbart, wie in „Joseph“:

So oft sprach Jakob inbrünstig zu seinem Herrn,
Sie trugen gleiche Bärte, Schaum von einer Eselin gemolken
Und Joseph glaubte jedesmal sein Vater blicke aus den Wolken…

Später ist er der alternde Gott, nicht der Herr mit Bart aus der Kinderwelt, sondern der Gott der Enttäuschungen des Alters und Exils:

Gott weint… ergraut kommt seine kleine Welt zurück,
Die Er in seine Schöpfung schnitt aus himmlischem Türkise.

Oder er ist ein Gott, auf den sich der Mensch nicht verlassen kann, wie in „Abschied“:

Warum hat Gott im Osten wetterleuchtend sich verzogen,
Vom Ebenbilde seines Menschen übermannt.

Ich wache in der Nacht stürmisch auf hohen Meereswogen!
Und was mich je mit seiner Schöpfung Ruhetag verband,
Ist wie ein spätes Adlerheer unstät in diese Dunkelheit geflogen.

Hier ist die Verbindung mit Gott abgebrochen, der Mensch hat das Festland hinter sich gelassen und ist ausgesetzt, ohne zu Wissen, warum.
Bei Gott sein hieße geborgen sein, wie in „Gebet“: „O Gott, schließ um mich Deinen Mantel fest.“ Doch gerade in „Gebet“ ist die Suche nach Gott fragwürdig, denn die Sprecherin ist eigentlich auf der Suche nach einem Engel, oder vielmehr, wer hier spricht, ist selbst ein Engel.

Ich suche allerlanden eine Stadt,
Die einen Engel vor der Pforte hat.
Ich trage seinen großen Flügel
Gebrochen schwer am Schulterblatt
Und in der Stirne seinen Stern als Siegel.

Der Flügel gehört zwar dem gesuchten Engel („Ich trage seinen großen Flügel“), aber was kann das anderes bedeuten als Identität der Sucherin mit dem Gesuchten? Andernfalls müßten wir annehmen, daß sie den großen, abgebrochenen Engelsflügel wie einen Rucksack über die Schulter geworfen hat – eine wenig sinnfällige Vorstellung. Es handelt sich also um einen Menschen, der verwundet als gebrochener Engel auftritt und sein Ebenbild sucht. Vielleicht dürfen wir interpretieren, daß damit die eigene ungebrochene geistige Identität gemeint ist. Das wäre die psychologische Ebene. Die religiöse meint die Rückkehr ins himmlische Jerusalem, denn welche andere Stadt hätte einen Engel vor der Pforte? Das Eigentümliche liegt in dem Identitätsproblem, daß der Mensch sich als unvollkommenen Engel gibt, aber so, daß er, oder vielmehr sie, schwer an der Einkleidung des göttlichen Wesens trägt, mit dem sie Siegel und Flügel teilt.
Werfen wir zum Vergleich einen Blick auf eines von Rilkes vielen Engelgedichten, das Sonett „L’Ange du Méridien“ aus den Neuen Gedichten, inspiriert von dem Engel mit der Sonnenuhr an der Kathedrale von Chartres. Dieser Engel ist ein seliges, ungebrochenes Wesen, das genaue Gegenteil der Menschen, die in die Zeit geworfen sind. Rilkes Engel hält eine Sonnenuhr, ohne den menschlichen Begriff der Zeit zu verstehen:


gewahrst du gar nicht, wie dir unsre Stunden
abgleiten von der vollen Sonnenuhr,

auf der des Tages ganze Zahl zugleich,
gleich wirklich, steht in vollem Gleichgewichte,
als wären alle Stunden reif und reich.

Was weißt du, Steinerner, von unserm Sein?
Und hältst du mit noch seligerm Gesichte
vielleicht die Tafel in die Nacht hinein?

Bei Rilke wie bei Lasker-Schüler geht es um die Entfernung des Menschen von einem geistigen oder ewigen Dasein, doch bei Lasker-Schüler drapiert sich der Mensch sozusagen ins Engelsgewand und erscheint dadurch als fremd und exzentrisch in beiden Welten. Der Engel mit der Uhr, also das Ewige in der Zeit, ist für Rilke ein Paradox, während es bei Lasker-Schüler den Mensch-Engel gibt, der das Ende der Welt („Und wenn der letzte Mensch die Welt vergießt“) bei Gott abwarten will. Hier sind Parallelen zu „Weltende“ („Es pocht eine Sehnsucht an die Welt, / An der wir sterben müssen“), aber umgeformt in ein Glaubensgeständnis. Also doch religiöse Dichtung.

Aus gutem Grund ist ihr wohl berühmtestes Gedicht „Mein blaues Klavier“. Es entstand noch vor 1936 in der Schweiz, dem ersten Exil der Dichterin, und wurde 1937 in der Pariser Tageszeitung, einem Organ der deutschen Exilanten, veröffentlicht. Es ist also ein Exilgedicht, kein Kriegs- und schon gar kein Holocaustgedicht, wie manchmal angenommen wird. In Buchform erschien es 1943 in Jerusalem, der Stadt, wo Lasker-Schüler zwei Jahre später starb.
Von den drei Türen, die alle nachdrücklich als Reimworte am Ende ihres jeweiligen Verses stehen, führt die eine nach unten in den Keller, die zweite nach oben in den Himmel, und die dritte, die „Klaviatür“ in der Mitte zwischen den beiden anderen, führt direkt in das geplagte Hier und Jetzt der Sprecherin, die nicht weiß, wohin mit ihrem Leben. Der verspielte Neologismus weist auf Traum und Kindheit als Quelle dieser Bilder.
In den Bereich des Blauen gehören der Himmel, der Frühling, die blaue Blume der Romantik und Lasker-Schülers alter Freund Franz Marc vom Blauen Reiter. Klaviere hingegen sind zumeist schwarz – zumindest die für Erwachsene. Doch in Lasker-Schülers Zürcher Tagebuch steht: „Ich besitze alle meine Spielsachen von früher noch, auch mein blaues Puppenklavier.“ Im Gedicht steigt aus der Erinnerung ein symbolisches Instrument für die Sternenhände von oben und die Rattenfüße von unten. Die Dichterin in der Mitte kennt keine Noten. Es geht also nicht um die eigene Kunst, denn diese Kunst beherrscht sie ja. Hier hat ein großer Verlust, der über das Persönliche hinausreicht, stattgefunden, doch diese Trauerarbeit ist subjektiv, so daß es wie die Klage eines mißhandelten Kindes klingt. Wir lächeln über die „Klaviatür“; und die Mondfrau im Boote entspringt dem Märchen oder ist eine Maske der Autorin, die gerne die Mondsichel in ihre Schriften zeichnete. In der ersten Version war die Mondfrau übrigens ein Mondkind. Kindlich ist es auch, einen zerbrochenen Gegenstand zu vermenschlichen und als „blaue Tote“ zu beweinen. Über diesem kindlichen Jammer hängt die große Katastrophe der „verrohten Welt“. Aus dieser möchte der verzweifelnde und geschrumpfte Mensch entfliehen, und wohin denn sonst als in den Himmel? „Mein blaues Klavier“ ist jedoch kein Selbstmordgedicht: Die Sprecherin fleht die Engel unvernünftigerweise an, ihr schon lebend die Himmelspforte zu öffnen. Sie weist sich aus mit dem „bitteren Brote“, von dem sie gegessen haben will: Vielleicht ist es vom selben Brotlaib geschnitten wie das „Brot mit Tränen“, durch das Goethes Harfner „die himmlischen Mächte“ kennenlernte.
Mit dem Wort „Verbot“ klingt das Gedicht aus. Die Flüchtlinge kannten die verschlossenen Türen der Landesgrenzen nur zu gut. Hier soll nun ein allerhöchstes und unumstößliches Einreiseverbot aufgehoben werden. Handelt es sich um eine letzte Steigerung solcher irdischen Verbote? Auch fürs Himmelreich gelten strikte Immigrationsgesetze, und die Bittstellerin bettelt umsonst.
Man zögert, ein Gedicht groß zu nennen, das sich auf Schritt und Tritt zurücknimmt und mit kleiner, kläglicher Stimme spricht. Und doch ist „Mein blaues Klavier“ neben Brechts „An die Nachgeborenen“, das auch aus den 30er Jahren stammt, wohl das beredtste lyrische Zeugnis des Exils der Nazizeit. Wo Brecht so stark und männlich auf das Recht zu hassen und die Pflicht zu kämpfen pocht, beklagt Lasker-Schüler eine untergegangene Kultur in der idiosynkratischen Sprache der Einsamen, mit der ihr eigentümlichen Verknüpfung von Exaltation und Humor, von Phantasie und distanzierender Selbstdarstellung. Wo Brecht, am Rednerpult der Öffentlichkeit, das vielfache Elend auf den einen Nenner des Widerstands bringt, veranschaulicht es Lasker-Schüler, indem sie es uns im Maskentheater des privaten Leidens vorspielt.

Im letzten Kapitel von Sigrid Bauschingers Buch über Lasker-Schüler kann man sehr schön nachlesen, wie die Dichterin auf Piedestale gehoben wurde, auf denen sich nicht gut sitzen oder stehen läßt. Das heißt, sie wurde in Rollen gedrängt, aus denen sie, meine ich, in andere Rollen flüchtete, die sie sich zumindest selbst geschaffen hatte. Zu ihrem 50. Geburtstag bekommt sie von Fred Hildebrandt zu hören, ihre Dichtung sei „nur aus dem Blut einer alternden müden Rasse mit ihrer süßen Sinnlichkeit zu verstehen“. Kasimir Edschmid, ein nicht unbegabter Expressionist, schwärmte:

Im Blut rollt unerbittlich, golden und von den Jahrtausenden gefeiert der Rhythmus des Roten Meeres und des Jordans und der Tempel Jerusalems.

Ein Tempel, der im Blut rollt? Die falsche Metapher verrät das falsche Denken, das dahintersteckt. Und nicht so lange danach wurden solche Komplimente und Einordnungen mit negativen statt positiven Vorzeichen versehen, deren Auswirkungen allzu bekannt sind.

Es wird wenig verwundern, daß in Lasker-Schülers Nachlaß und in ihren Briefen auch eine Reihe von Kinder- und Unsinngedichten, „Ulkiaden“, steht. Unsere Ausgabe bringt zwei, „Melech David in Juda saß“ und „Im Garten“ über Eisessen und Lieblingsspeisen. Sie fügen sich nahtlos in das „Dichten spielen“ der Autorin, wie sie ja Alice Trübner nachsagt, Malen zu spielen.
So spielt uns Else Lasker-Schüler von Anfang bis zum Ende das Leben vor, wie es sich einer Dichterin erschließt, die in ihrer Identität von Kindheit an verunsichert wird durch Kategorisierungen, in die sie paßt und wieder nicht paßt, als Frau, als Jüdin. Ihr aber gelang es, mit solchen Defiziten phantasievoll und humorvoll umzugehen, sie mit Liebesangeboten auszustatten und Dichtung daraus zu machen. Über dem Spiel mit der Sprache fand sie zur Wahrheit.

Ruth Klüger, Nachwort

 

Als Else Lasker-Schüler,

die sich selber Prinz von Theben nannte, dieses höchst anmutige und phantastische „Geschichtenbuch“ im Sommer 1914 veröffentlichte, hieß es in einer Besprechung von Kurt Pinthus bald darauf: „… und wir wissen nichts mehr von der Wirklichkeit und von kausalem Geschehen, wir folgen verträumt den sprunghaften Geschehnisse, wir leben bereits im Wunderreich und glauben die Leidenschaften und Abenteuer den Menschen einer nie gewesenen Kultur.“

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1998

 

Else Lasker-Schüler

− Einführung zu einem Lasker-Schüler-Abend am 23.2.1952. −

Im heutigen Berlin bin ich wahrscheinlich einer der wenigen, die Else Lasker-Schüler persönlich kannten, sicher der einzige, dem sie eine Zeitlang sehr nahestand, vermutlich auch der einzige, der am Grabe ihres Sohnes Paul neben ihr stand, als er auf dem Weißenseer Kirchhof beigesetzt wurde – dieser Sohn, der ihr so viel Leiden brachte, für den sie die wenigen Einkünfte ausgab, für den sie Liebesbriefe austrug und bei seinen Freundinnen um Rendezvous und Zärtlichkeiten warb, Paul, oft von ihr besungen, ein zarter, schöner Junge – sein Vater war angeblich ein spanischer Prinz −, Päulchen, wie sie ihn nannte, der mit einundzwanzig Jahren an Tuberkulose starb.
Es war 1912, als ich sie kennenlernte. Es waren die Jahre des Sturms und der Aktion, deren Erscheinen wir jeden Monat oder jede Woche mit Ungeduld erwarteten. Es waren die Jahre der letzten literarischen Bewegung in Europa und ihres letzten geschlossenen Ausdruckswillens. Else Lasker-Schüler war ein knappes Jahrzehnt älter als wir, 1902 war ihr erster Gedichtband Styx bei Axel Juncker erschienen, 1911 erschienen ihre Hebräischen Balladen bei Alfred Richard Meyer, der Styx noch jugendlich, die Balladen vollendet in großem Stil. Frau Else Lasker-Schüler wohnte damals in Halensee in einem möblierten Zimmer, und seitdem, bis zu ihrem Tode, hat sie nie mehr eine eigene Wohnung gehabt, immer nur enge Kammern, vollgestopft mit Spielzeug, Puppen, Tieren, lauter Krimskrams. Sie war klein, damals knabenhaft schlank, hatte pechschwarze Haare, kurz geschnitten, was zu der Zeit noch selten war, große rabenschwarze bewegliche Augen mit einem ausweichenden unerklärlichen Blick. Man konnte weder damals noch später mit ihr über die Straße gehen, ohne daß alle Welt stillstand und ihr nachsah: extravagante weite Röcke oder Hosen, unmögliche Obergewänder, Hals und Arme behängt mit auffallendem, unechtem Schmuck, Ketten, Ohrringen, Talmiringe an den Fingern, und da sie sich unaufhörlich die Haarsträhnen aus der Stirn strich, waren diese, man muß schon sagen: Dienstmädchenringe immer in aller Blickpunkt. Sie aß nie regelmäßig, sie aß sehr wenig, oft lebte sie wochenlang von Nüssen und Obst. Sie schlief oft auf Bänken, und sie war immer arm in allen Lebenslagen und zu allen Zeiten. Das war der Prinz von Theben, Jussuf, Tino von Bagdad, der schwarze Schwan.
Und dies war die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte. Mir persönlich sagte sie immer, sagt sie auch heute mehr als die Droste, als Sophie Merrau oder Ricarda Huch. Ihre Themen waren vielfach jüdisch, ihre Phantasie orientalisch, aber ihre Sprache war deutsch, ein üppiges, prunkvolles, zartes Deutsch, eine Sprache reif und süß, in jeder Wendung dem Kern des Schöpferischen entsprossen. Immer unbeirrbar sie selbst, fanatisch sich selbst verschworen, feindlich allem Satten, Sicheren, Netten, vermochte sie in dieser Sprache ihre leidenschaftlichen Gefühle auszudrücken, ohne das Geheimnisvolle zu entschleiern und zu vergeben, das ihr Wesen war.
Das Jüdische und das Deutsche in einer lyrischen Inkarnation! Und damit berühre ich ein Thema, über das ich oft nachgedacht und auch oft mit ihr gesprochen habe. Es war auffallend, daß ihre Glaubensgenossen nicht das in ihr sahen oder sehen wollten, was sie ihrem Range nach war. Der Grund hierfür liegt in dem innersten Wesen der Lasker-Schülerschen Dichtung. Diese hatte einen exhibitionistischen Zug, daran ist kein Zweifel, sie exponierte ihre schrankenlose Leidenschaftlichkeit, bürgerlich gesehen, ohne Moral und ohne Scham. Anders ausgedrückt, sie nahm sich die großartige und rücksichtslose Freiheit, über sich allein zu verfügen, ohne die es ja Kunst nicht gibt. Ihre Glaubensgenossen billigten ihr wohl das persönliche Recht zu diesem Exhibitionismus zu, aber sie wollten sich nicht mit ihm und ihr identifiziert sehen. Ein seltsamer Vorgang und ein tragischer auch. Ein Gedicht wie das Gedicht „Mein Volk“ aus den Hebräischen Balladen ist in seiner Vollkommenheit eine so völlige Verschmelzung des Jüdischen und des Deutschen, der Ausdruck einer wirklichen Seinsgemeinschaft auf höchster Stufe, daß es auf beiden Seiten, sofern die Kunst bei uns überhaupt etwas zu sagen hätte, auch politische Folgen würde gehabt haben können.
1913 erschien von mir ein kleines Gedichtheft, das ich Else Lasker-Schüler widmete, die Widmung lautete: „E. L.-S. – ziellose Hand aus Spiel und Blut.“ In den Gesammelten Gedichten, die sie 1917 bei Kurt Wolff herausgab, ist ein Zyklus enthalten, der Dr. Benn heißt. Sie nannte mich Giselheer oder den Nibelungen oder den Barbar. Ein Gedicht darin gehört zu den schönsten und leidenschaftlichsten, die sie je geschrieben hat. Sie schrieb darüber: „Letztes Lied an Giselheer“, und der Titel des Gedichts ist: Höre.

Ich raube in den Nächten
Die Rosen deines Mundes,
Daß keine Weibin Trinken findet.

Die dich umarmt,
Stiehlt mir von meinen Schauern,
Die ich um deine Glieder malte.

Ich bin dein Wegrand.
Die dich streift,
Stürzt ab.

Fühlst du mein Lebtum
Überall
Wie ferner Saum?

Dieses Lebtum als fernen Saum habe ich immer gefühlt, alle Jahre, bei aller Verschiedenheit der Lebenswege und Lebensirrungen. Darum stehe ich heute hier, sieben Jahre nach ihrem Tod. Ich weiß nicht, ob die Gräber in Israel Hügel haben wie bei uns, oder ob sie flach sind wie in einigen anderen Ländern. Aber wenn ich an dieses Grab denke, wünsche ich immer, daß eine Zeder vom Libanon in seiner Nähe steht, aber auch, daß der Duft von Jaffa-Orangen die glühende Luft jenes Landstrichs über diesem deutschen Grab heimatlich lindert und kühlt. Und falls sie einen Grabstein hat, würde ich neben die hebräischen Lettern in deutscher Schrift einen ihrer Verse setzen aus dem Gedicht „An Gott“:

Du wehrst den guten und den bösen Sternen nicht;
All ihre Launen strömen.
In meiner Stirne schmerzt die Furche,
Die tiefe Krone mit dem düsteren Licht.

Gottfried Benn, aus: Gottfried Benn: Ausdruckswelt, Klett-Cotta, 1990

Momentaufnahmen

− Gottfried Benn und Else Lasker-Schüler. −

Um die Beziehung, in der Gottfried Benn und Else Lasker-Schüler kurz vor dem Ersten Weltkrieg zueinander standen, hat sich eine Legende gebildet. Sie lässt sich nicht mehr auf ihren Wahrheitsgehalt hin prüfen, weil sie fast ein Jahrhundert zurückliegt und die Intimsphäre zweier Menschen berührt, die schon lange verstorben sind; weil die seither vergangene Zeit von dramatischen historischen Veränderungen geprägt war, die viele Spuren gelöscht haben; und vor allem, weil der Mann und die Frau, um die es hier geht, dem deutschen und dem jüdischen Volk angehörten: Deren gemeinsame Geschichte im 20. Jahrhundert von Verfolgung, Ermordung und Flucht geprägt war und häufig mit dem Namen Auschwitz zusammengefasst ist.
Deshalb wirft die Begegnung der beiden Dichter zunächst Fragen auf, die den Historiker mehr als den Literaturwissenschaftler zu interessieren haben. Zweimal war sie Gegenstand der Öffentlichkeit – zuerst in den Jahren 1912 und 1913, als sie stattfand und in Gedichten der beiden Partner ihren Ausdruck erhielt; dann noch einmal im Jahr 1952, als Else Lasker-Schüler längst gestorben war und Benn seine Erinnerungen an sie zum strategischen Versatzstück innerhalb einer problematischen Rechtfertigungsstrategie machte.
Historisch wirksam wurde die Beziehung erst durch ihre zweite Bekanntgabe. Zu Beginn seiner Laufbahn hatte der junge Benn einen sehr kleinen Leserkreis, und Else Lasker-Schüler, die ältere und bekanntere Dichterin, richtete damals ihre gedruckten Liebeserklärungen an so zahlreiche Adressen, dass die Pseudonyme eines Debütanten in der literarischen Öffentlichkeit kaum ins Gewicht fallen konnten. Erst als Benn sie 1952 publik machte, wurde die Beziehung zu einem Knotenpunkt, in dem sich mehrere Stränge verknüpften: die Image-Pflege eines deutschen Dichters, der nach dem Ende des „Dritten Reiches“ erneut zu unverhofftem Ruhm gekommen war; die Rezeptionsgeschichte einer zuerst verjagten und dann verdrängten jüdischen Dichterin; und schließlich die Bedürfnisse des westdeutschen Kulturbetriebs, der aus der hohlen Tragödie eines Sprachkünstlers seine fadenscheinige Katharsis zu gewinnen suchte.
Gottfried Benns späte Rede über Else Lasker-Schüler steht als Portal vor einer Legende. Wir müssen einen Blick auf sie werfen, bevor sich Spuren aufnehmen lassen, über die nachzudenken sich noch einmal lohnt.

1 Berlin, 1952
Else Lasker-Schüler (1869–1945) war in Jerusalem gestorben. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dauerte es noch über sechs Jahre, bevor das Werk zumindest auszugsweise wieder zugänglich war. Immerhin lag seit 1951 ein Auswahlband vor, und im folgenden Jahr gedachte man in Berlin ihres siebenten Todestages. Am 23. Februar 1952 richtete das British Centre eine Gedenkfeier aus, und als Festredner sprach Gottfried Benn.
Die Wahl des Veranstalters war auf Benn gefallen, weil man sich durch seine Beteiligung erhöhte Aufmerksamkeit versprach, und der Dichter nahm sie gerne an. Die im „Dritten Reich“ übliche Emigrantenschelte fand auch nach dem Krieg noch ihre unterschwellige Fortsetzung, und Benn – einer der Daheimgebliebenen, dem diese Tatsache zu später Prominenz verhalf – hatte sich bald nach der Machtübernahme unrühmlich darin hervorgetan. Nun fand er Gelegenheit, sich an geeignetem Ort, einem von den Alliierten eingerichteten Zentrum der politischen und kulturellen re-education, öffentlich von besserer Seite zu zeigen.
„Im heutigen Berlin“, so leitet er seine Rede ein, „bin ich wahrscheinlich einer der wenigen, die Else Lasker-Schüler persönlich kannten, sicher der einzige, dem sie eine Zeitlang sehr nahestand, vermutlich auch der einzige, der am Grabe ihres Sohnes Paul neben ihr stand, als er auf dem Weißenseer Kirchhof beigesetzt wurde (…).“ Gleich zu Beginn bringt er ihre Beziehung zur Sprache und er formuliert vorsichtig: Sie sei es gewesen, die ihm „eine Zeitlang sehr nahestand“, er selbst scheint ihr nur mittelbar verbunden, in der Pietät dem jung verstorbenen Sohn gegenüber. Damit ist auch ein Gegensatz der Generationen angedeutet – den Gedichtband, den er ihr 1913 widmet, nennt er Söhne −, und bald darauf sagt er über den Kreis der Expressionisten, zu dem er sich zählte:

Else Lasker-Schüler war ein knappes Jahrzehnt älter als wir (…).

Benn geht hier davon aus, dass sie 1876 zur Welt gekommen sei, in Wirklichkeit aber war sie sieben Jahre älter: Auch darin mag ein Grund dafür gelegen haben, dass ihr intimes Verhältnis, falls es überhaupt bestanden hat, nicht von Dauer gewesen ist.
Wie dem auch sei – Gottfried Benns Rede auf Else Lasker-Schüler ist nicht berühmt geworden, weil sie Licht auf eine private Liebesgeschichte wirft. In ihrem erotischen Geheimnis lag vielleicht ein Teil des voyeuristischen Reizes dieser Rede, ihre wirkungsgeschichtliche Funktion aber erfüllte sie auf einer anderen Ebene. Nach der Beschreibung ihrer auffallenden, extravagant gekleideten Gestalt folgen entscheidende Sätze über die jüdische Dichterin:

Und dies war die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte. Mir persönlich sagte sie immer, sagt sie auch heute mehr als die Droste, als Sophie Mereau oder Ricarda Huch. Ihre Themen waren vielfach jüdisch, ihre Phantasie orientalisch, aber ihre Sprache war deutsch, ein üppiges, prunkvolles, zartes Deutsch, eine Sprache reif und süß, in jeder Wendung dem Kern des Schöpferischen entsprossen. Immer unbeirrbar sie selbst, fanatisch sich selbst verschworen, feindlich allem Satten, Sicheren, Netten, vermochte sie in dieser Sprache ihre leidenschaftlichen Gefühle auszudrücken, ohne das Geheimnisvolle zu entschleiern und zu vergeben, das ihr Wesen war.
Das Jüdische und das Deutsche in einer lyrischen Inkarnation! Und damit berühre ich ein Thema, über das ich oft nachgedacht und auch oft mit ihr gesprochen habe. Es war auffallend, dass ihre Glaubensgenossen nicht das in ihr sahen oder sehen wollten, was sie ihrem Range nach war. Der Grund hierfür lag in dem innersten Wesen der Lasker-Schülerschen Dichtung. Diese hatte einen exhibitionistischen Zug, daran ist kein Zweifel, sie exponierte ihre schrankenlose Leidenschaftlichkeit, bürgerlich gesehen, ohne Moral und ohne Scham. Anders ausgedrückt, sie nahm sich die großartige und rücksichtslose Freiheit, über sich allein zu verfügen, ohne die es ja Kunst nicht gibt. Ihre Glaubensgenossen billigten ihr wohl das persönliche Recht zu diesem Exhibitionismus zu, aber sie wollten sich nicht mit ihm und ihr identifiziert sehen.

„Die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte“: Dieser Anfang des zitierten Textes ist es, der im kollektiven Gedächtnis aus Benns Rede haften geblieben ist. In zahllosen Veröffentlichungen über Else Lasker-Schüler, in der Forschungsliteratur nicht weniger als im Populärbereich, bildeten diese Worte seither ein stehendes Motto, begleiteten ihre Heimkehr aus dem Exil wie eine Fanfare: Hier versuchte ein Deutscher eine unter Hitler geflohene Jüdin und damit zugleich sich selbst und seine Zuhörer reinzuwaschen.
Unter dem Feigenblatt seines Lobes aber verbirgt sich eine Geschichtsklitterung, die die Öffentlichkeit nicht wahrnehmen wollte und entsprechend verdrängte. Benn stellt es so dar, als sei das Ausbleiben der gesellschaftlichen Anerkennung für Else Lasker-Schüler eine kulturelle Fehlleistung von jüdischer Seite gewesen. Ganz grundlos ist diese Beobachtung nicht – ihr exzentrisches Verhalten hat viele vor den Kopf gestoßen, auch Vertreter des jüdischen Bürgertums, und sie lag mit ihnen in ständigem Streit −, aber Benns Darstellung ist scheinheilig und verlogen. Es waren schließlich nicht Juden, vor denen Else Lasker-Schüler ihr Leben retten musste, sondern nichtjüdische Deutsche, und darüber schweigt Gottfried Benn auch 1952 noch.
Nicht nur als Zeitzeuge vergeht er sich hier gegen die Wahrheit, sondern er untergräbt auch die eigene Weltanschauung, an der er als Künstler immer festgehalten hat. „(…) sie nahm sich die großartige und rücksichtslose Freiheit, über sich allein zu verfügen, ohne die es ja Kunst nicht gibt“, sagt er über Else Lasker-Schüler. Das ist eine grundsätzliche Aussage, mit der er den Künstler aus dem Gefüge alltäglicher Sozialität heraushebt; ein elitärer Gedanke, den er schon früh entwickelt hat, um der Kunst in Zeiten des Sinnverlustes die Autonomie einer sinnstiftenden Funktion zu erhalten; und zuletzt ist es eine stets wiederholte Abwehrgeste, die dem Legitimationszwang zu genügen sucht, in den er seit seiner Verbindung mit dem Nationalsozialismus in den dreißiger Jahren geraten war.
„Ein seltsamer Vorgang und ein tragischer auch“, klagt er und vergisst in diesem Zusammenhang plötzlich die eigenen Forderungen nach einer autonomen Kunst.

Ein Gedicht wie das Gedicht „Mein Volk“ aus den Hebräischen Balladen ist in seiner Vollkommenheit eine so völlige Verschmelzung des Jüdischen und des Deutschen, der Ausdruck einer wirklichen Seinsgemeinschaft auf höchster Stufe, daß es auf beiden Seiten, sofern die Kunst bei uns überhaupt etwas zu sagen hätte, auch politische Folgen würde gehabt haben können.

Wie ist dieser verschlungene Irrealis seines merkwürdigen Gedankenganges zu verstehen, welche „politischen Folgen“ sollen hier verpasst worden sein, welche „beiden Seiten“ des deutsch-jüdischen Zusammenstoßes sind gemeint? Glaubt Benn allen Ernstes, Else Lasker-Schülers „Glaubensgenossen“, wie er sie nennt, wären den Nazischergen entgangen, hätten sie sich auf der Höhe seiner Kunstauffassung befunden? Hebt man seinen Rückblick auf die „Verschmelzung des Jüdischen und des Deutschen“ ins Licht überprüfbarer Logik, so entpuppt er sich als barer Unsinn.

2 Exkurs
All das ist nicht neu. Wo man versucht, den moralischen Kern des Menschen Gottfried Benn herauszuschälen, stößt man auf Peinliches, und seine Festrede auf Else Lasker-Schüler ist nur eines von zahlreichen Beispielen dafür.
Nicht an der Kohärenz seines Geschichtsbildes sollte man ihn messen. Ein solches Bild hat er nie besessen, denn weder mit konservativem noch mit teleologischem Gedankengut konnte er sich anfreunden. In der Zeit des „Dritten Reiches“ und danach mag ihm seine Geschichtsfeindlichkeit als Schutzwall gedient haben, hinter dem sich die eigene Verbindung mit dem Nationalsozialismus verbergen ließ; doch auch schon vorher ist sie eine Konstante seiner Ausdruckswelt gewesen und findet sich bereits im Frühwerk vor dem Ersten Weltkrieg.
Nimmt man Gottfried Benn als Denker in den Blick, kommt man daher zµ einem anderen Urteil, als wenn man sich auf den Dichter konzentriert. Wo Kunst und Moral sich bei ihm berühren, kann in seiner Lyrik aufgespürt werden – auch in Gedichten, die er an Else Lasker-Schüler gerichtet hat.

3 Berlin, 1912/13
Im Jahr der ersten Begegnung mit Benn durchlebt Else Lasker-Schüler eine ihrer tiefsten Krisen. Seit 1903 ist sie in zweiter Ehe mit Herwarth Walden verheiratet, dem Herausgeber des Sturm, und jetzt geht auch diese Verbindung in die Brüche. Will die Dichterin, zu diesem Zeitpunkt schon 43, sich mit einem jüngeren Mann trösten, als sie Gottfried Benn poetisch umwirbt?
Vielleicht auch das, aber selbst wenn es so wäre: Den engen Rahmen ihres persönlichen Schicksals würde die Deutung nicht überschreiten, und Else Lasker-Schüler hat es immer anders gesehen. Für sie war ihr Bund mit Walden nicht nur ein privates, sondern ein öffentliches Ereignis gewesen; als sie um die Jahrhundertwende aus der bürgerlichen Ehe mit dem Arzt Berthold Lasker ausbrach und sich der Künstlerboheme Berlins anschloss, lag darin eine gesellschaftliche Entscheidung für sie, denn sie konnte ihren Kampf gegen das Bürgertum nicht nur auf dem Papier ausleben; und Waldens Scheidung der Ehe war in ihren Augen der Verrat eines politischen Lagers, eine Art Fahnenflucht.
Deshalb lässt sie die Leser des Sturm am Scheitern ihrer Künstlerehe teilnehmen, druckt dort ihre an Walden gerichteten „Briefe nach Norwegen“ ab und bringt sie zu Beginn des Jahres 1912 unter dem Titel Mein Herz als Buch heraus. Es ist der Bericht von einer Niederlage und zugleich ein Bekenntnis zur Kunst, in der das Leben, so traurig es sein mag, immer aufgehoben bleibt. „Lebe das Leben ja tableaumäßig“, schreibt sie über sich selbst,

ich bin immer im Bilde, Manchmal (…) bin ich nicht mit der Einrahmung zufrieden. Einrahmungen sind Einengungen, Unkunst, die sich kein Gott, aber ein Gottdilletant zieht. Die runden Rahmen haben noch etwas Kreisendes, aber die viereckigen, neumodischen, sind so ganz menschlich aus dem Kosmos getreten. Ich sehe also aus dem Bilde das Leben an; was nehm ich ernster von beiden? Beides. Ich sterbe am Leben und atme im Bilde wieder auf.

Ihre Dichtungen sind Bilder, in denen sie nach den Niederlagen ihres Lebens eine Wiederauferstehung feiert; und auch die Liebesgedichte an Gottfried Benn – nach ihrer Scheidung von WaIden, nach ihrer Enttäuschung über den treulosen Partner im Kampf gegen das Bürgertum – sind solche Bilder. In ihm, dem Dichter der Morgue, glaubt sie einen neuen Verbündeten in ihrem Kampf gefunden zu haben, aber schnell ist sie enttäuscht, und ihr Gedichtzyklus, der Benns Namen trägt, enthält folgende Verse:

HINTER BÄUMEN BERG ICH MICH

Bis meine Augen ausgeregnet haben,

Und halte sie tief verschlossen,
Daß niemand dein Bild schaut.

Ich schlang meine Arme um dich
Wie Gerank.

Bin doch mit dir verwachsen,
Warum reißt du mich von dir?

Ich schenkte dir die Blüte
Meines Leibes,

(…)

Nun aber schlage ich mit meiner Stirn
Meine Tempelwände düster.

O du falscher Gaukler,
Du spanntest ein loses Seil.

Wie kalt mir alle Grüße sind,
Mein Herz liegt bloß,

Mein rot Fahrzeug
Pocht grausig.

Bin immer auf See
Und lande nicht mehr.

Gottfried Benn hat sie zurückgestoßen, und sie spricht zu ihm in ihrer Sprache: In den „verschlossenen“ Augen hält sie das Wunsch-Bild des Geliebten fest, das sich in ihnen gespiegelt hat und jetzt nur noch ihr gehört; in den Bäumen beschwört sie ein verlorenes Paradies und zugleich die Metaphern für ihre einstige „Verwachsenheit“ mit ihm, dem sie die „Blüte“ ihres Leibes geschenkt hat. Nun „verdüstert“ sie den Tempel, den sie ihm hat weihen wollen, denn er ist ein „falscher Gaukler“: Ihr „rot Fahrzeug / Pocht grausig“ – Else Lasker-Schülers Herz, immer das Zentrum ihrer Dichtung, ist tief verletzt.
Der Anfang hatte mehr versprochen. Im März 1912 war Morgue erschienen, und Benns radikale Abkehr von aller menschlichen Selbstüberhöhung rief die Abscheu der bürgerlichen Presse hervor. „In der allerjüngsten Lyrik“, heißt es etwa bei Hanns Wegener,

gebärden sich wieder einige exzentrische Stürmer und Dränger. (…) Unverständlichkeit, barer Unsinn, Perversität und Erotik sollen eine Gewähr sein für dichterische Begabung. Da ist z.B. dieser Herr Benn, der sich wie ein unreifer Mediziner in den ersten Semestern aufspielt.

Es waren nur wenige Leser, die über Benns ersten Gedichtband etwas Gutes zu sagen hatten, und die Berühmteste unter ihnen war Else Lasker-Schüler. In der Zeitschrift Die Aktion veröffentlicht sie ein von ihr gezeichnetes Porträt von ihm und den Text „Doktor Benn“. Dort stehen die Sätze:

Er steigt hinunter ins Gewölbe seines Krankenhauses und schneidet die Toten auf. Ein Nimmersatt, sich zu bereichern an Geheimnis. Er sagt: „Tot ist tot.“ Dennoch fromm im Nichtglauben liebt er die Häuser der Gebete, träumende Altäre, Augen, die von fern kommen. Er ist ein evangelischer Heide, ein Christ mit dem Götzenhaupt, mit der Habichtnase und dem Leopardenherzen. (…) Lang bevor ich ihn kannte, war ich seine Leserin; sein Gedichtbuch – Morgue -lag auf meiner Decke: Grauenvolle Kunstwunder, Todesträumerei, die Kontur annahm.

Der Text erscheint am 25. Juni 1913 – wenige Monate, bevor sie sich trennen −, und es ist fraglich, ob sie zu diesem späten Zeitpunkt immer noch glaubt, er sei „fromm im Nichtglauben“. Aber trotz ihrer wachsenden Enttäuschung tut Else Lasker-Schüler auch jetzt, was sie immer getan hat, wenn sie einen Künstler gegen die bürgerliche Fassade ankämpfen sah: Sie bietet Gottfried Benn ihre Solidarität an. Doch er – das ist der hohle Punkt dieses Dichters – kennt keine Solidarität; er kennt nur die Einsamkeit des Künstlers und macht sie zur Voraussetzung seiner Kunst. Die Verachtung jedes kulturellen Überbaus, die er in der Morgue zum Ausdruck bringt, ist ernst gemeint – der Gnadenlosigkeit des kalten Himmels, unter den er seine Menschen stellt, entspricht die Gnadenlosigkeit seiner Poetik.
Else Lasker-Schüler ist für ihr künstlerisches, antibürgerliches Projekt an den falschen Mann geraten, das zeigen die Gedichte, mit denen Gottfried Benn auf ihr Werben antwortet. Wir beschränken uns hier auf zwei von ihnen. Sie finden sich in Dieter Wellershoffs Werkausgabe, Benn hat sie in seinem Todesjahr 1956 noch selbst ausgewählt und bekennt sich also bis ans Ende zu ihnen. Sie stehen im Zyklus „Alaska“ und erscheinen in derselben Nummer der Aktion, die auch Lasker-Schülers Porträt von ihm und die Huldigung an den Dichter der Morgue enthält. So lautet das Titelgedicht des Zyklus:

ALASKA

Europa, dieser Nasenpopel
aus einer Konfirmandennase,
wir wollen nach Alaska gehn.

Der Meermensch, der Urwaldmensch,
der alles aus seinem Bauch gebiert,
der Robben frißt, der Bären totschlägt,
der den Weibern manchmal was reinstößt:
der Mann.

Benn setzt die Konturen der Weltkarte ins Bild. Europa hängt an der Erdmasse Asiens wie eine tropfende Nase, sie erinnert ihn an die Kindheit im protestantischen Pfarrhaus und an die Konfirmation: Der Katechismus, einst die Grundlage des Abendlandes, verkommt bei diesem Dichter, der die Geschichte seines Kontinents verachtet, zum schleimigen Exkrement. Dem zeitgemäßen Kulturpessimismus gibt er aggressive Form, mit beißendem Spott wendet sich Benn gegen den Intellekt und deutet Prädispositionen an, die seine zeitweilige Begeisterung für den Nationalsozialismus später nicht ganz unverständlich machen.
„(…) wir wollen nach Alaska gehen“: in eine Wildnis, in der noch das Gesetz des Dschungels herrscht und keine Liebe; nur der „Mann“, „der den Weibern manchmal was reinstößt“. So handelt der „Meer- und Urwaldmensch“ seiner Vorstellung – robbenfressend und bärentötend lebt er animalisch, und auch Benn spürt etwas davon in sich. In einem zweiten Gedicht, das er an Else Lasker-Schüler richtet, verbrämt er es nicht:

DROHUNG

Aber wisse:
Ich lebe Tiertage. Ich bin eine Wasserstunde.
Des Abends schläfert mein Lid wie Wald und Himmel.
Meine Liebe weiß nur wenig Worte:
Es ist so schön an deinem Blut.

„Aber wisse“: Benns Verse stilisieren sich zur Antwort im Gespräch mit der Dichterin. Sie hat ihm ihre Liebe angetragen, und jetzt hält er ihr seine Bedingungen entgegen. Die „Liebe“, das Herzstück ihrer Dichtung, beschränkt er auf „wenig Worte: / Es ist so schön an deinem Blut“. Er kennt nur seine Lust an ihrem Pulsschlag, der im Orgasmus schneller wird. Denn er lebt wie ein Tier: In der „Wasserstunde“ geht er zur Tränke, mit seiner Flüssigkeit füllt er das Weib.
Die Bilder mögen eine Erwiderung auf ihre Huldigung sein: Als „Christ mit (…) der Habichtnase und dem Leopardenherzen“ beschrieb sie ihn. Aber er schlägt doch einen ganz anderen, einen gewaltsamen Ton an, der an Bedeutung gewinnt, wenn man ihn mit anderen Benn-Texten, die ebenfalls die Tierwelt zum Gegenstand haben, in Verbindung bringt. Dann erhält seine „Drohung“ an Else Lasker-Schüler eine noch dunklere Färbung. In der Morgue, dem von ihr gefeierten Band, lesen wir die Verse:

SCHÖNE JUGEND

Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte,
sah so angeknabbert aus.
Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig.
Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell
fand man ein Nest von jungen Ratten.
Ein kleines Schwesterchen lag tot.
Die anderen lebten von Leber und Niere,
tranken das kalte Blut und hatten
hier eine schöne Jugend verlebt.
Und schön und schnell kam auch ihr Tod:
Man warf sie allesamt ins Wasser.
Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!

Das Gedicht ist bekannt und wird hier nur zitiert, weil in ihm vieles zusammenkommt, was sich auch in „Drohung“ wieder findet. Tiere, Wasser, Blut, und mehrmals das Wort „schön“: Hier ist ein Punkt, an dem die Kunst und die Moral Gottfried Benns einander berühren. Er sei, so behauptet es die Legende, der Liebhaber Else Lasker-Schülers gewesen.

Jakob Hessing, aus: Text+Kritik: Gottfried Benn – Heft 44, edition text+kritik, April 2006

Die Begegnung zwischen Else Lasker-Schüler und

Gottfried Benn:

„Der Prinz von Theben und Giselheer der Nibelunge“

Der genaue Zeitpunkt wie auch die näheren Umstände der Begegnung zwischen Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn im Berlin des frühen Expressionismus lassen sich nicht genau nachvollziehen: der Zeitgenosse Kurt Hiller will sich daran erinnern, Benn habe im berühmten „Café des Westens besonders gern am Tisch der Lasker-Schüler gesessen“, Gottfried Benn gibt das Jahr 1912 als Datum ihres Kennenlernens an.
Im März des Jahres hatte der A.R. Meyer Verlag den ersten Gedichtband des 26-jährigen, soeben approbierten Medizinstudenten Gottfried Benn veröffentlicht: die skandalösen Verse der Morgue. Die Kritik reagierte mit geteilter Meinung auf ihr Erscheinen. Eine der Stimmen, die sich früh zugunsten des Gedichtbandes und seines Verfassers erhob, war die Else Lasker-Schülers. Ihre Hommage auf den jungen Benn erschien als essayistisches Portrait unter dem Titel „Doktor Benn“ am 25. Juni 1913 in Franz Pfemferts Aktion. Das Gedicht „Drohungen“, neben dem Doppelportrait Benns von Else Lasker-Schüler ließ Benn nur dieses eine Mal in der vorliegenden Form veröffentlichen.
In ihrer Prosaskizze, als auch der Profilzeichnung, die die Physiognomie Benns in klaren Linien treffend festhält, beschreibt Else Lasker-Schüler subtil und publikumswirksam Persönlichkeit und Lyrik Benns in der typischen Manier des frühen Expressionismus, die die Bilder wie absolut gesetzt aufeinander folgen läßt. Die kurze Charakterskizze, die wie die meiste Prosa Lasker-Schülers schon nahe an der Lyrik ist, besitzt einen raffiniert angelegten doppelten Boden: die Autorin ist sowohl bewundernde Dichterfreundin als auch sehnsüchtig Werbende – und die doppelte Botschaft ist Methode. Else Lasker-Schüler wird sich auch weiterhin dahingehend verwenden, den debütierenden Dichter Benn an die Verleger und Leser zu bringen, wobei dieser Promotion-Strategie gerne ein erotischer Hauch beigefügt wird, wie in „Doktor Benn“ „Lang bevor ich ihn kannte“, heißt es, „war ich seine Leserin, sein Gedichtbuch – Morgue – lag auf meiner Decke: Grauenvolle Kunstwunder, Todesträumerei, die Kontur annahm“. Nichts könnte wirksamer für Benns Dichtung werben, als der geschickt verpackte Hinweis auf den eigentlichen Anlaß ihrer Begegnung: nicht Person, sondern die Verse Benns waren ausschlaggebend für die Hommage der Dichterin auf den Freund.
Der Portraitierte seinerseits steht Lasker-Schüler in den angedrohten Verheißungen um nichts an erotischer Direktheit nach, wobei auch hier Person und Werk, körperliche Begegnung und poetischer Austausch miteinander verflochten sind: in Anlehnung an Lasker-Schülers Gedicht „Boas“ aus den Hebräischen Balladen, wird die Angesprochene zu Ruth, mit Ähren am Hut. Weiter in der eleganten Anspielung auf die persönliche Mythologie im Werk Lasker-Schülers setzt sich die Strophe fort:

Dein Nacken ist braun von Makkabäerblut.
Deine Stirn ist fliehend: Du sahst so lange
Ueber die Mandeln nach Boas aus.
Du trägst sie wie ein Meer, daß nichts Vergossenes
Im Spiel die Erde netzt.

Der Begriff des „Spiels“, als eines der Kardinalmotive im Werk Lasker-Schülers, findet seine stärkste Ausprägung in der Elaborierung des imaginären Thebenreiches zum eigentlichen Ort poetischer Wirklichkeit. In entscheidendem Maße wird diese fortschreitende Transformation der eigenen Persönlichkeit zum Prinzen Jussuf, inklusive der Einbindung zahlreicher Künstlerkollegen, mitgetragen von Freunden wie Franz Marc und Gottfried Benn, denen die Ernsthaftigkeit dieses Spiels nicht entging.
Aus den Jahren 1912 und 1913 existieren mehrere Briefe Lasker-Schülers an den Verleger Kurt Wolff (der 1913 bis 1917 die Werke Lasker-Schülers herausgab), in denen sie eindringlich für die Lyrik Benns wirbt:

Und gestern hörte ich, dass Dr. Benn noch gar nicht seine Gedichte nach Leipzig geschickt hat – bitte, Sie müssen sie lesen, auch das schon erschienene Buch Morgue.
Sie wissen vielleicht – Dr. Benn ist Arzt-Operateur und direkt mächtig. … Dr. Benn weiß nichts von meinem Brief. Ich möchte nur nicht aus Weltordnung (nicht aus Liebe noch Culturwahnsinn), dass Dr. Benns Gedichte wieder bei
Meyer verlegt werden.

Im Juli 1913 sandte Benn dann sein Manuskript für den Söhne-Band an Wolff. Offenbar wußte auch Lasker-Schüler von dieser Sendung an den Verleger; im nächsten Brief an Wolff heißt es:

Dr. Benn sandte Euch seine Gedichte – ich habe es erfahren von Jemand. Seine Balladen bei Meyer sind so ungeheurig und eigenartig… König, Ihr dürft nicht zögern. … Sprich!! König!! Ich stehe Dr. Benn nicht was Liebe betrifft nahe – tue es Ehrenwort hinterrücks, tue es aus Weltordnung nicht mal aus Cultur. Ich der Prinz!

Doch weder die inständige Werbung, noch die Unbefangenheitsbeteuerung erreichen ihr Ziel: Benn erhielt sein Manuskript „mit drei kühlen Zeilen“ zurück, und mußte sich mit dem A.R. Meyer-Verlag zufriedengeben. Die Enttäuschung war groß, wie sich aus dem bitteren Tonfall Benns im Brief an Paul Zech vom 2.9.1913 ablesen läßt:

Von mir erscheint ja demnächst bei Meyer ein neues Heft (die Söhne): Gegen den Verlag läßt sich ja nichts sagen. Wo soll man auch hin? Und schließlich: Kunst ist eine Sache von 50 Leuten, davon noch 30 nicht normal sind.

Else Lasker-Schüler, unbeirrbar in ihrer Unterstützung für Benn, macht kein Hehl aus ihrer Unzufriedenheit mit der Entscheidung Wolffs:

Ich fass sie gar nicht mehr – daß sie Menschen drucken, die Dilletanten sind und Dr. Benn ein Herkulesdichter – eine wirkliche Kraft die Sachen wiederschicken. Ich fass das nicht … Was soll ich sagen? Haben Sie auch keine Lust mehr mich zu verlegen – lieber König?
Ich bin bös mit der Welt – Menschen: Schweinebande.
Prinz von Theben.

Das Scheitern der Liebesbeziehung zwischen Benn und Lasker-Schüler, wohl Ende 1913 „nach einer mißglückten Begegnung auf Hiddensee“ (Benn lernte dort seine erste Frau Edith Osterloh kennen) findet seinen schmerzlichen Ausdruck in den Klageliedern an den schnöden Liebelungen, dem „Giselheer-Zyklus“. So, wie sich die Begegnung zwischen Lasker-Schüler und Benn an den Morgue Versen entzündet hatte, die die Dichterin in den Bann der kühlen Augen brachte, vollzieht sich auch die Trennung in dem Medium, das beiden Heimat war. Im Herbst 1913 veröffentlichte Lasker-Schüler „Höre“ im NEUEN PATHOS:

Ich raube in den Nächten
Die Rosen deines Mundes,
Daß keine Weibin Trinken findet.

Die dich umarmt,
Stiehlt mir von meinen Schauern,
Die ich um deine Glieder malte.

Ich bin dein Wegrand
Die dich streift,
Stürzt ab.

Fühlst du mein Lebtum
Überall
Wie ferner Saum?

Die Antwort Benns, „Hier ist kein Trost“ im folgenden Heft des Neuen Pathos ist eine harsche Absage in Liebesdingen auf die leidenschaftliche Klage Lasker-Schülers – und läßt zugleich seine Bewunderung für die Lasker-Schüler’sche Poetik spüren:

Keiner wird mein Wegrand sein.
Laß deine Blüten nur verblühen.
Mein Weg flutet und geht allein.

Zwei Hände sind eine zu kleine Schale.
Ein Herz ist ein zu kleiner Hügel,
um dran zu ruhn.

Du, ich lebe immer am Strand
Und unter dem Blütenfall des Meeres,
Ägypten liegt vor meinem Herzen,
Asien dämmert auf.

Mein einer Arm liegt immer im Feuer.
Mein Blut ist Asche. Ich schluchze immer
vorbei an Brüsten und Gebeinen
den thyrrenischen Inseln zu:

Dämmert ein Tal mit weißen Pappeln
Ein Ilyssos mit Wiesenufern
Eden und Adam und eine Erde
aus Nihilismus und Musik.

Die Differenzierung zwischen erotischer Beziehung und lyrischem Werk ist der Dichterin durch diese Ansprache sicher nicht entgangen: die ersten beiden Strophen, zu drei Zeilen, bestätigen recht unmißverständlich die Auflösung der Affaire. Die darauf folgende vertrauensvolle Ansprache im „Du“ der dritten sucht aufs neue die Nähe zu Lasker-Schüler; das „immer“ ist direkt von der Dichterin übernommen (die es unzählige Male bis zur Verselbständigung in ihren Versen verwendet) – und im „Ägypten“, das vor Benns „Herzen liegt“, schimmert das orientalische Traumland Theben hindurch. Ebenso ist die Zeile „mein einer Arm liegt immer im Feuer“ in der Wiederholung des „immer“ und der wie unbeabsichtigt kindhaft-vereinfachten Grammatik wie aus Lasker-Schüler entlehnt.
Das Scheitern der Liebesbeziehung ist auf keiner der beiden Seiten unbesprochen geblieben. Nach der Veröffentlichung der Trennungsgedichte beginnt die poetische Verarbeitung der Begegnung zwischen dem leidenschaftlichen Prinzen und dem nüchternen Nibelungen. Im Dezember 1912 lernten Franz Marc und Lasker-Schüler sich in Berlin kennen, und schnell wird Benn, bzw. Giselheer, zum Thema der „Briefe an den Blauen Reiter“. 1910 hatte Lasker-Schüler sich von Herwarth Walden getrennt, nachdem die Ehe mit Berthold Lasker 1903 geschieden worden war. Lasker war Arzt, Walden Künstler – und war Gottfried Benn nicht beides? Es liegt nahe, zu vermuten, daß die Dichterin vieles, zu vieles vom Nibelungen erhoffte – etwa dem Scheitern beider Ehen durch seine Doppelpersönlichkeit, die wie perfekt auf sie zugeschnitten schien, das Gegenteil gegenüberzustellen, ihr die Möglichkeit, Dichtung und Leben miteinander zu verbinden, Dichterin und Liebende zu sein, zu bieten.
Die Aufspaltung Benns in zwei sich widersprechende Identitäten wird in den „Briefen an den Blauen Reiter“ bis zur Vollendung getrieben, als der Arzt Doktor Benn das wieder heilen soll, was der Nibelunge, der Dichter und Geliebte, ihr antat. Im Brief an Franz Marc vom 1. November in der Aktion heißt es:

Lieber Ruben. Ich merke, du hast mich bei der Treue ertappt! Seit ich Giselheer verlor, kann ich nicht mehr weinen und nicht mehr lachen. Er hat ein Loch in mein Herz gebohrt. Das blutet nicht, das steht offen wie der Grund eines ausgelaufenen Auges… Du lieber, blauer Reiter, ich schrieb darum eine ganze Woche nicht, ich war krank. Den Doktor Benn rief ich, der meinte, das Loch in meinem Herzen könnte man mit einem einzigen Faden zunähen. Ich vertraute ihm die Geschichte meiner Liebe an, zeigte ihm Giselheers Briefe und sagte ihm alles. Ich habe Vertrauen zum Doktor Benn; was er sagt, ist gesagt. Er behauptet, ich habe meine Welt in G. hineingelegt, denn der habe keine Ahnung von mir… Ich bin morgens bleich, um Mittag schluchze ich, aber am Abend lodere ich in allen düsteren Farben. Ich habe dem Doktor Benn ehrenwörtlich versprochen, nicht mehr an den armen König zu denken, der noch nicht einmal ein Herz besitzt zum Verschwenden. Dein treuer Bruder.

Einen Monat zuvor, im Oktober 1913, war Benns zweites Gedichtheft Söhne erschienen – das er der Dichterfreundin widmete:

Ich grüße Else Lasker-Schüler
ziellose Hand aus Spiel und Blut

Etwas karger als Else Lasker-Schüler, aber deutlich und verehrend faßt Benn mit dem Zitat aus Lasker-Schülers Roman Mein Herz Wirkung und Bedeutung, die die Begegnung mit der Dichterin für ihn hatte, zusammen. Söhne enthält den überarbeiteten „Alaska-Zyklus“, mit den auf die erste Strophe verkürzten „Drohungen“ aus der Aktion vom Juni 1913, „Hier ist kein Trost“ erscheint gemeinsam mit „Madonna“ im zehnten Teil des Zyklus. „Madonna“ drückt ähnlich den „Drohungen“ das Liebeserlebnis mit der Angesprochenen als erlöste Sehnsucht aus – und wiederum spricht sich im Bild des im Rausch an den Adern der Geliebten Hingesunkenen auch die Angst vor diesem Glück aus, die Furcht, daß aus diesem glückseligen Hinsinken ein Versinken werden wird, das nicht mehr losläßt:

Gib mich noch nicht zurück!
Ich bin so hingesunken
an dich. Und bin so trunken von dir. O Glück!

Sowohl Gottfried Benn wie auch Else Lasker-Schüler haben keine gemäßigten Töne füreinander gehabt, beide so einzigartig wie kompromißlos fielen sie ineinander wie zwei Planeten. Der Einfluß der Lasker-Schülerschen Dichtung auf die übrigen Gedichte des Söhne Bandes ist vielfach bemerkt worden.
Benns Einbindung mit einer Doppelrolle in die Welt des Thebenreiches findet in den „Briefen an den Blauen Reiter“ statt. Die 17 Gedichte des „Giselheer-Zyklus“ stellen die lyrische Verarbeitung der Liebesbeziehung dar. Das Motto unter der Überschrift „Gottfried Benn“ faßt die Thematik der Klagelieder, Ursprung und Wirkung, knapp und treffend zusammen:

Der hehre König Giselheer
Stieß mit seinem Lanzenspeer
Mitten in mein Herz.

Der Grundtenor des Zyklus ist der von der verstoßenen, klagenden und werbenden Liebe. Wehmütige Erinnerung, auch Bitterkeit wegen der dargebrachten und mißachteten Hingabe wechseln mit aufflackernder Werbung und der Sehnsucht nach einer neuen Heimat in der Liebe. Immer wieder begeht die Sprecherin die verschlungenen Wege des Labyrinths aus enttäuschter Hoffnung, Erinnerung und Sehnsucht. Dies sind Liebesgedichte, aus denen die Empfindungen einer jungen, einer ersten Liebe sprechen: die Unwiderruflichkeit des emotionalen Versprechens, die Idealisierung des Geliebten bis hin zum Kitsch, die Ungläubigkeit ob der brutalen Wirklichkeit der Trennung. Die Dichterin, die für den Künstlerkreis Berlins und darüber hinaus ein Begriff war, der es mit der Kunst so ernst war, daß sie die Thebenimagination zum Lebensentwurf erhob, zeigt sich im „Giselheer-Zyklus“ von einer unbekannten Seite: es ist ein Ritual des inneren Schmerzes, das in diesem Zyklus vollzogen wird, ein kreisendes Ausloten der heftigen Empfindungen. In der im Grunde ebenmäßigen Bewegung, die keine Entwicklung verheißt, wird die Klage zur Zeremonie und in der Wiederholung durch die Bilder gebannt.
Eine Reihe von erhaltenen Dokumenten, meist private Briefe und Einladungen, bezeugen den Fortbestand der Freundschaft zwischen Benn und Lasker-Schüler. Aus dem Jahre 1918 existiert ein Brief an den „liebsüßen Giselheer“, in dem Lasker-Schüler Benn zu sich in die Schweiz einlädt.
Auch zu gelegentlichen Begegnungen in den folgenden Jahren ist es gekommen. Besonders aber in den Jahren vor der Machtergreifung Hitlers ist ein besonderes Wiederaufleben der Freundschaft zu verzeichnen, welches offenbar von Benn ausging. Gottfried Benn, der ungesellige, der nibelungisch-karge, schreibt Karten und Briefe an Lasker-Schüler, deren Tonfall erstaunen läßt (und die die Dichterin 1939 im Fluchtgepäck nach Palästina mitnahm). In diesen Karten und Briefen Benns an die Freundin wird die Intimität deutlich, die trotz aller Wirren zwischen den beiden fortbestand. Ein kurzer Gruß Benns vom 10.11.1931 spricht sie vertrauensvoll und mit der typischen Verehrung, die Benn für Lasker-Schüler empfand, an:

Lieber teurer Prinz,
tausend Dank für Ihre Karte. Aber mit mir ist gar nichts los, nichts passiert, alles in Ordnung, lebe mein gewohntes Leben. Ihr Gedenken an mich ist sehr lieb u. ich danke Ihnen herzlichst.
Immer Ihr Bewunderer u. Verehrer Benn

Wenige Monate später folgt ein Brief Benns, in dem er in bewegten Worten den Eindruck wiedergibt, den Lasker-Schülers Essay „Gebet“ in der Frankfurter Zeitung vom September 1931 in ihm hervorgerufen hat:

Liebster Prinz, ehrfürchtig bewunderter Präsident!
Ihre Arbeit in der
Fr Z ist herrlich… Es sind großartige ewige Gedanken, die sie sagen, u. sonderbarerweise so ähnlich denen, die mich seit einiger Zeit bewegen. „Ich bin, der ich sein werde“ – was für ein Wort!… Vielen Dank, äußerlich u. innerlich. …
Immer Ihr
Genosse u. ergebener
Freund und Verehrer Benn

Im November 1931 erschien Benns Textbuch zu Paul Hindemiths Oratorium Das Unaufhörliche. Benn sandte es an Lasker-Schüler, ihr mit den Worten gewidmet:

Else Lasker-Schüler, dem großen lyrischen Genie in Freundschaft u. Verehrung

Aus dem Dezember 1931 ist ein längerer Brief an die Dichterin erhalten, in dem Benn der Empfängerin bedeutet, daß er „Tag und Nacht zu Ihrer Verfügung stehe“, weiterhin auch seine „Wohnung für Sie offen ist u. mein Essen und Trinken Ihnen mit gehört“. In diesem Brief erinnert Benn auch an den 4. Todestag von Lasker-Schülers Sohn Paul. Am 14. Dezember 1927 hatte Benn an der Beisetzung teilgenommen.
Der Gedanke, daß diese Zeugnisse der Bewunderung und Verbundenheit gegenüber Lasker-Schüler aus der Zeit stammen, in der Benns Gleichschaltung mit dem nationalsozialistischen Gedankengut stattfand, muß verwundern – oder hat der Fall Benns nichts daran geändert, daß er wußte, wen er in Else Lasker-Schüler getroffen hatte? Schloß er sie auf unergründliche Weise aus der Zugehörigkeit zu den Feinden des deutschen Volkes (unter die er selbst schließlich die deutschen Emigranten zählte) aus? War Lasker-Schüler so sehr ein Teil seines eigenen Lebens, untrennbar mit seinen literarischen Anfängen verknüpft, daß ihm noch nicht einmal die Idee kam, daß auch sie eine Jüdin, eine derjenigen war, denen er das irrationale Mißtrauen einer Ideologie entgegenbrachte? Der Widerspruch bleibt bestehen.
1932, als der Druck auf die Dichterin schärfer wurde, ihr wenige Monate vor der Emigration noch der Kleist-Preis verliehen wurde und der Völkische Beobachter die „Tochter eines Beduinenscheichs“ verhöhnte, telegrafierte Benn:

der kleistpreis so oft geschändet sowohl durch die verleiher wie durch die praemierten wurde wieder geadelt durch die verleihung an sie ein glueckwunsch der deutschen Dichtung

Benns 1952 im Westberliner British Centre gehaltene „Rede auf Else Lasker-Schüler“ ist zweifellos in vielen Punkten anfechtbar; sie diente auch der eigenen Rehabilitierung vor dem richtigen Publikum, war darauf angelegt, schwarze Punkte aus seiner Biographie auszuwaschen, indem die Jüdin Else Lasker-Schüler in die Phalanx der deutschen Dichter eingereiht wurde. In einem aber bleibt seine Aussage unzweifelhaft, als er die unwillkürliche Faszination in Worte faßt, die vom Werk Else Lasker-Schülers ausgeht:

Immer unbeirrbar sie selbst, fanatisch sich selbst verschworen, feindlich allem Satten, Sicheren, Netten, vermochte sie… ihre leidenschaftlichen Gefühle auszudrücken, ohne das Geheimnisvolle zu entschleiern, das ihr Wesen war.

Frederike Haberkamp, Ostragehege, Heft 13, 1998

 

Jürgen P. Wallmann: Deutsche Lyrik unter jüdischem Dreigestirn, Merkur, Heft 225, Dezember 1966

 

 

ELSE LASKER-SCHÜLER

Mein Rotes Tuch

Ich habe zu Hause ein rotes Tuch
das ist ganz ohne Muster

Und Stiefel gab ich zum Auftrag
beim benachbartem Schuster

Und eine Uniform habe ich auch
sehe darin aus wie der Postbote

Wie ein geschmückter Fernsehstar
mit hoher Einschaltquote

Das alles liegt einsatzbereit
greift wer mit seiner Pfote

Mit diesem spitzen Degen
steche ich ohne zu überlegen
den Wal die Schlang den Kojot
mausemärchentot
mit der mir eigenen Note

Peter Wawerzinek

 

ELSE LASKER-SCHÜLER

Windbruch
über die Erde
streu ich. Schwester. Jedes
ungestorbene Land
ist dein Grab.

Przemysl, Brzozów, wer
seine Stätte
aushob, ist
verscharrt. In Mielce das Haus
Gottes
brennend, über die Flammen
hinauf die Stimme, eine
Stimme, aber
aus hundert Mündern, aus
der Erstickung. Wie sagt
man: im Feuerofen
erhob sich das Lob
Gottes – wie sagt
man?

Ich weiß
nicht mehr.
Über die Erde, Schwester,
Windbruch, ausgestreut. Wie
Bäume verkrallt
Gesehenes in
den Schatten mittags, in
die Dämmerung unter den Schwingen
der Vögel, in
das Eis, in
die Ödnis
nachts.

aaaLiebe
aaa(du sprichst aus dem Grab)
aaaLiebe tritt, eine weiße
aaaGestalt,
aaaaus der Mitte des Grauens.

Johannes Bobrowski

 

 

 

Carl Stern: Erinnerungen an Else Lasker-Schüler

Zum 60. Todestag der Autorin:

Hubert Gaisbauer: Vielleicht glaubt Gott an mich
Die Furche, 20.1.2005

Zum 70. Todestag der Autorin:

Burkhard Reinartz: „Meine Seele verglüht in den Abendfarben Jerusalems“
deutschlandfunk.de, 21.1.2015

Zum 150. Geburtstag der Autorin:

Else Lasker-Schüler 150 Jahre Meinwärts
els2019.de

Lutz Hagestedt: Das Herz der Avantgarde
literaturkritik.de, Februar 2019

Peter Mohr: „Bin ein tieftrauriger Mensch“
titel-kulturmagazin.net, 11.2.2019

Oliver vom Hove: Eine große Liebende im Porträt: Else Lasker-Schüler
Der Standart, 3.2.2019

Stefan Dege: Lyrikerin, Poetin, Zeichnerin: Else Lasker-Schüler zum 150. Geburtstag
Deutsche Welle, 8.2.2019

Ulf Heise: Der „schwarze Schwan Israels“
FreiePresse, 8.2.2019

Andreas Kilcher: Prinz Jussuf von Theben, die Dichterin aus Wuppertal
tachles.ch, 8.2.2019

Christian Lindner: Die Dichterin Else Lasker-Schüler
deutschlandfunk.de, 11.2.2019

Andreas Platthaus: Fernab der Stiefwelt
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.2.2019

Thomas Hartmann: Else Lasker-Schüler – die provokante Poetin
mdr.de, 11.2.2019

Ulrike Sárkány: Große Lyrikerin mit positivem Weltbild
ndr.de, 11.2.2019

Natascha Freundel: Am Grab von Else Lasker-Schüler
ndr.de, 7.2.2019

Marie Luise Knott: Blau vor Paradies
perlentaucher.de, 14.5.2019

 

Zum 75. Todestag der Autorin:

Nina Schmedding: Immer unbeirrbar sie selbst
domradio.de, 22.1.2020

 

 

 

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + VerzeichnisIMDb +
Archiv 1, 23 + Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Else Lasker-Schülers Lebenszeichen aus Berlin im Deutschen Literaturarchiv Marbach.

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