Ernst Meister: Liebesgedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ernst Meister: Liebesgedichte

Meister-Liebesgedichte

DIE ALTE SONNE
rührt sich nicht
von der Stelle.

Wir
in dem
dämmrigen Umschwung

leben
die Furcht oder
die schwere Freude.

Liebe −
Verlaß und
Verlassen,

von ihr
haben wir gewußt
auf dem Trabanten,

eh alles
vorbei.

 

 

 

„Liebeswort“, „Todesgedanke“

Ernst Meister ist nicht nur ein Dichter des Todes, er ist ebenso – wie diese Auswahl von veröffentlichten und unveröffentlichten Gedichten aus dem Gesamtwerk belegt – ein Dichter der Liebe. Einer Liebe freilich, die immer der unmittelbaren Konfrontation mit dem Ende, dem Tod ausgesetzt ist.
Schon in einem sehr frühen um 1932 verfaßten Gedicht, „Liebestod zweier Worte“, wird die geradezu zwanghafte Konstellation von „Liebeswort“ und „Todesgedanken“ – die Begriffe finden sich in den Texten „Winterlich II“ und „Du mein / wälderreicher“ – vorgeführt. Der Text beschwört mit der Wendung „Liebestod“ eine Thematik, die ihre klassische Ausformung in Wagners Tristan und Isolde erfuhr. Doch beschreibt er alles andere als eine individuelle Liebesexaltation: Die Liebe von „Kindin“ und „Hündin“, an der beide zugrunde gehen werden, ist sprachlicher Natur. Das Gedicht konstituiert mit spätdadaistischer Spielfreude eine rein worthafte Wirklichkeit, die ohne jede konkrete existentielle Bindung bleibt. …

Die Trauer um die nivellierende Macht des Todes bestimmt Meisters Spätwerk. Noch einmal wird sie in seinem letzten Gedichtband Wandloser Raum zur Sprache gebracht, der im Todesjahr 1979 erschien. Da die „Liebe“ ein rein innerweltliches existentielles Ereignis ist, gibt es für sie keine Zukunft über das Diesseits hinaus. Ihre Endlichkeit ändert jedoch nichts an ihrer Besonderheit, denn sie ist die „einzige Gewalt“, das einzige Wissen, das bis in den Tod hineinreicht und von dem aus die menschliche Existenz ‚Sinn‘ erhält: …

Reinhard Kiefer, aus dem Nachwort

 

Ernst Meister war ein Dichter der letzten Dinge

Ihn beschäftigte der Grund unseres Daseins, und damit auch die Liebe, ein Leben lang. In seinen puritanisch knappen Versen nahm er keine Rücksicht auf Moden. Die Liebesgedichte, die Ernst Meister in über 40 Jahren geschrieben hat, finden sich in diesem Band versammelt. Sarah Kirsch über Ernst Meister: „Seine Gedichte, die natürlich das Gegenteil von Lebenshilfe sind, eher Mutproben, gehen wie schwarze Choräle eines, der versucht an das Unbekannte zu denken, uns durch den Leib. Wir gelangen weiter in ihnen, indem wir ohne Eitelkeiten beginnen, und es bedarf schon einer gewissen Demut … Einen geringen Trost vermag er ja auch zu geben. ‚Am Ende sagt von Zweien der Eine noch: ich hab’ dich eingelebt in die Verlassenheit‘.“

Luchterhand Literaturverlag, Klappentext, 1991

 

 

Ernst Meisters Celan-Kritik

– Differenzen in der ,Hölderlin-Schule‘ –

Meine Damen und Herren, es ist heute gang und gäbe, der Dichtung ihre ,Dunkelheit‘ vorzuwerfen.

Mit diesem Satz in seiner ,Meridian‘-Rede im Jahre 1960 spielte Paul Celan auf eine Tendenz in der Literaturkritik an. Zusammen mit u.a. Erich Arendt und Ernst Meister wurde Celan von der Kritik in die Dunkelkammer des ,Hermetischen‘ verbannt. Der ,Diskurs des Hermetischen‘, den die Kritiker zu dieser Zeit mit allen seinen Konsequenzen des Ausschlusses und der Sakralisierung kultivierten, versuchte alle drei aus Kontexten zu isolieren und als Gruppe homogen zu machen. Die Plagiats-Affäre, in die Celan verwickelt wurde, war gleichsam die Rache des ,Diskurses‘. Dem Dichter, den die Kritik eigenhändig von allen Kontexten isoliert hatte, wurde nun vorgeworfen, daß seine Schrift so isoliert nicht war. Meister kommentierte diese Situation der gegenseitigen Beeinflussung der beiden Autoren Yvan Goll und Celan augenzwinkernd. Zehn Jahre später noch fragte er sich in einem Brief:

Wie enthält sich unsereins […] des Gedanken – Plagiats […]?

 

Tradition und ,Hölderlin-Schule‘
Anscheinend ist Schöpfung aus dem Vollen ein Kennzeichen dieser Lyrik der Moderne. Dieser Akt ist gar nicht so ,hermetisch‘, denn Intertextualität durchbricht – zumindest der Intention nach – die Mauer der Absperrung. Ähnliches besagt Enzensbergers Theorie von der „Weltsprache“ der Dichter, die jeden Anspruch auf solitäre Urheberschaft komisch erscheinen läßt. Denn benutzte Meister nicht bereits zwei Jahre vor Celans ,Bremer Rede‘ wie auch im Jahre 1958 in zwei Gedichten das Mandelstammsche Flaschenpostmotiv? Die Gedichte drücken keinen festen „Glauben“, wie Celan ihn hatte, an das eigene Wort aus. Die Flaschenpost ist, so der Wortlaut, ein „Epigramm“, eine „Post, / die an Ländern vorbeitreibt“. Als poetologische Äußerungen gelesen sind die Verse von Meisters ,Flaschenpost‘-Gedichten eine indirekte Absage an Mandelstamms und an Celans Hoffnung, an deren „U-topie“. Meisters Äußerung ist übrigens mit der in der – späteren – ,Akademierede‘ zu vergleichen, daß Literatur sich nämlich in die Kette der Toten einhängt und der Dichter das Eigene abgibt.
Bis zu Meisters Tod bemühte sich kein einziger Literaturkritiker ernsthaft, den Unterschied zwischen der Lyrik Celans und Meisters zu beschreiben. Man hatte sich im Beschreibungsritual von Unzugänglichkeit, Weltabgewandtheit und ,Hermetik‘ festgefahren. Dadurch wurden die Momente der Dialogizität mit denen Meister sich einen Spielraum zur Schrift Celans verschaffte, übersehen. Aus diesem Grunde müssen, bis andere Quellen erschlossen werden können, die Formen des Gesprächs mit Celan in den Gedichten selbst, freigelegt werden.
Zuerst einige Korrespondenzen: Celans Atemwende-Gedicht „Fadensonnen“ hat viele Perspektiven eröffnet. Es wurde z.B. eine Anspielung auf das Wort Jean Pauls vom „Fadensommer“: „Fadensonnen“ gelesen, und es zeigte sich ein Zusammenhang mit einem Fadensonnenzeiger Celans Gedicht – am 27.11.1963 entstanden – ist aber auch eventuell ein Echo auf ein früheres Gedicht von Meister, aus dem Jahre 1962: „hängts doch / herab von der Sonne / wie Fäden“. Hier ist die jeanpaulische Pluralisierung des Wortes ,Sonne‘ vermieden. Im Jahre 1973 erscheint im bibliophilen Druck Schatten der Plural, der als ein Echo auf Celans ,Fadensonnen‘ gelesen werden kann:

Der von den Sonnen,
Himmelshäuptern,
gesponnene Faden,
der wahrhaft schwarze,
durch unsere Leiber gezogen –
wir in den Zeiten
Aufgereihte…

Meister minimalisiert das Wort „Fadensonnen“. Er nimmt es, ebenfalls jeanpaulisch, spiegelverkehrt als ,Sonnenfaden‘, nimmt aber zugleich Celans Bild von „der grauschwarzen Ödnis“ auf. Denn diese Ödnis ist in Meisters Lesart das All. Meister erzählt von einem Faden, der von einigen Sonnen im stellarischen System gesponnen wurde und die Toten aneinanderreiht. Damit erinnert er an Hölderlins Ode „Blödigkeit“. In der vorletzten Strophe heißt es da, daß Gott „zur Wende der Zeit, uns die Entschlafenden / Aufgerichtet an goldnen / Gängelbänden, wie Kinder, hält.“ Möglicherweise bilden die ersten Verse von Celans Gedicht und Hölderlins Strophe den Anlaß für Meisters Gedicht.
Meisters Grundsatz „Nur durch Ahnenschaft ist Solidität des Neuen gewährleistet“, ist, so zeigt sich, mit Celans Verarbeitung der Tradition vergleichbar. Hölderlin ermöglicht es Celan und Meister, inmitten von unzählbaren Diskursen, die die einzelnen Stimmen zu vernichten drohen, eine Identität ihrer Stimme zu finden. Das ist nicht neu. Meister entdeckt bei Hölderlin die „gigantische […] Anstrengung seines Denken-Dichtens“, die er sich selbst zur Aufgabe macht. Die fortwährende Schulung am Werk Hölderlins liefert Meister und Celan jedoch keine Schablone für das eigene Verfahren, sie markiert vielmehr öfters den Beginn der eigenen lyrischen Rede, bildet eine Möglichkeit der Kontemplation, Reflexion und Deformation. Wenn ich von ,Hölderlin-Schülern‘ spreche, so impliziert das nicht, daß es sich um zwillingsähnliche Adepten im Sinne eines alchemistisch-hermetischen Geheimbundes handelt. Wir haben es mit einer Wahlverwandtschaft zu tun, die von den Einzelnen nur manchmal demonstrativ vorgezeigt, jedoch eher systematisch verdunkelt und eher abgewehrt wurde. Aber während Celan das Moment der Innovation in der ,Hölderlin-Schule‘ praktiziert, hält Meister es, so schreibt er dem zweiundachtzigjährigen Wilhelm Lehmann, „mit dem langsamen Schritt“. Meister legt also Wert darauf, das Denken der Ahnen fortzusetzen. Es geht ihm um „die Leistung der Erkenntnis“, während Celan die Sprachinnovationen der Ahnen verarbeitet und in sein System des „Andenkens“ holt.
Geht man davon aus, daß Dichter wie Celan und Meister sich im Geheimen von der empirischen Realität abschließen, wie es sowohl von den ,modernen‘, wie von den eigentlichen, ,alten‘ Hermetikern behauptet wird, dann müßte man diese Dichter in eine sogenannte „historische Kette“, wie die ursprüngliche Hermetik sie kennzeichnet, einordnen können. Anders als bei der Geheimhaltung als Schutz der Geheimnisse vor „Profanisierung und Ausnutzung für unwürdige Zwecke“ bei den ursprünglichen hermetischen Philosophen und Alchemisten, betreiben die kommunikationsbereiten Dichter ein Spiel mit der Tradition und dem literarischen Kontext, in dem sie sich bewegen. Die Gedichte Celans und Meisters wünschen sich zwar – im Sinne von Adornos Definition des ,hermetischen‘ Gedichts – in den meisten Fällen, nicht in den Drift der Alltagsdiskurse zu geraten, sie sind jedoch außer- wie innerliterarisch dialogisch angelegt. Bei den ursprünglichen Hermetikern wird das in der Tradition Bewahrte in einer historischen Kette als Geheimnis weitergegeben. Dieser Staffellauf wird von der Innovations-Poetik der Moderne unterbrochen. Auch wenn ihre Dichter eine verschlüsselte Offenheit anstreben, hüten sie sich vor den Geheimpraktiken der Alchemie. Enzensbergers Aufsatz zur „Weltsprache der modernen Poesie“ deutet auf das neue Selbstverständnis hin, daß die moderne Poesie nur eine neue Poetik aufbauen konnte, weil sie sich intensiv mit den Vorgängern beschäftigte. Dialogizität und Intertextualität gehören demnach zur Poetik der Moderne. In diesem Sinne sind Celan und Meister ,Hölderlin-Schüler‘, wie Rilke es z.B. auch war. Die ,Hölderlin-Schule‘ ist zeitlich und räumlich nicht begrenzt. Sowohl die Formulierung der Verwandtschaft Meisters und Celans mit Hölderlin, als das Machtwort ,hermetisch‘ erzielen eine Gleichsetzung des Nicht-Gleichen, sie nivellieren mit der Differenz auch die Konturen von Celans und Meisters Werk. Die Bekanntheit von Celans Werk hat vermutlich einen großen Effekt gehabt auf die Rezeption anderer Autoren, die den Machteffekten des ,Diskurs des Hermetischen‘ ausgesetzt waren. Nicht nur der unhistorisch verwendete Terminus ,hermetisch‘, sondern auch die bloße Namensnennung Celans erzielt Machteffekte. Schon um die Identität seiner Stimme zu wahren, mußte sich Meister möglicherweise vom anderen ,Hölderlin-Schüler‘ unterscheiden und Gedichte dieses ,Schülers‘ zum Anlaß nehmen, um die Differenz zu klären. Denn Meister, mit der Frage nach der Möglichkeit von Lyrik nach Celan konfrontiert, thematisierte den Unterschied und skizziert damit seine Überlebensstrategie. Ein Brief Meisters an Erich Jansen zeigt, daß es Meister bewußt war, daß er seiner Lyrik in Abgrenzung zu anderer ihr spezifisches Gewicht gab. Im Jahre 1959 bezeichnete er es als nahezu unmöglich, „daß ein Autor sich nicht gegen die Produkte eines anderen primär stemmt.“ Er nannte dies ein „heikles Phänomen“.
Im Folgenden möchte ich versuchen, aus der Perspektive Meisters zu zeigen, daß bei Lyrikern verschiedener Herkunft, unterschwellige und vordergründige Verbindungen und Aversionen untereinander aufzuspüren sind. Einige Differenzen sind zu betonen, die trotz Gemeinsamkeiten in der ,Hölderlin-Schule‘ existieren.

 

Die Flaschenpost der männlichen Ophelia
In Meisters Nachlaß befindet sich ein Gedicht, das 21 Tage nach Celans „Flußtod“ entstand:

Auch an
den Flußtod
muß ich denken,
das ist aber
der Tod des Flusses
und seiner
Schiffe.

Laß mich
nichts Untergängliches
tun als
Mechaniker,
Wortnarr, nicht
hinter dem Wirklichen
Wirklichkeit lügen,

denn was ist,
ist genug.

Die Flaschenpost ist aus dem Horizont des Gedichts verschwunden. Meister weist im Gedicht den Freitod für sich ab. Ebenso die Rigorosität von Celans Sprachbehandlung: das vermeintlich ,Mechanische‘ seiner Gestaltungsprozedur mache diesen zum „Wortnarr“, im Sinne einiger Formulierungen Nietzsches. Oft genug wurde Celan ja wegen seines Sprachverfahrens angegriffen, und damit als ,Narr‘ der Öffentlichkeit preisgegeben, was Meister als Zeitzeuge hat registrieren können. Die Gestaltung, die diskursiven Schichten von Celans Lyrik werden von Meister als Umwege empfunden. Mit Nietzsches Formel, daß ein Dichter ein Geschöpf ist, das „lügen muß, / Das wissentlich, willentlich lügen muß“ problematisiert Meister seine und Celans Aufgabe. Das Gedicht muß frontal auf Wirklichkeit zugehen, sich auf nur einen Denkgegenstand konzentrieren:

denn was ist,
ist genug

Mit den letzten Zeilen bejaht Meister als Grund und Ziel seines Gedichtes das Wesen des Seins und die Frage danach. Überhaupt scheint er Celans Wort vom Gedicht als „der Ort, wo alle Tropen und Metaphern ad absurdum geführt werden wollen“ zu kritisieren, denn der Tod ist dieser Ort. Meisters Gedicht stellt sich als Exempel und Mahnmal dafür dar, aber auch gleichsam als Gedenkschrift. Diesen Gedanken akzentuiert Meister in seinem Gedicht „Die Flüsse allerdings“ aus dem „seltsamen Jahr“ 1970: das 200. Geburtsjahr Hölderlins und das Todesjahr Celans. Celan, der in Mohn und Gedächtnis einige Wasserleichen evoziert hatte, taucht in einer Strophe als männliche Ophelia auf:

Geborgen. Kein
fetter Mann, gern
essend in Frankreich, sondern
sein Fleisch
gesättigt mit Wasser, Aas,
weiß blühend, Algen
zur einen Rose, der
„Wahrheit selbst“.

Das Attribut der Wasserleiche, die Rose, könnte eine Anspielung sein auf Celans Wortschöpfung der „Nichts-, die / Niemandsrose.“. Die Interferenz von Rilkes Vers „Rose, du reiner Widerspruch“, der Doppelklang von Schönheit und Vergänglichkeit also, ist in der „Wahrheit selbst“ enthalten. Außer Rilkes Epitaph zitiert Meister ein Atemwende-Gedicht:

Ein Dröhnen: es ist
die Wahrheit selbst
unter die Menschen
getreten,
mitten ins
Metapherngestöber.

Spricht Celan möglicherweise im bekannten Niemandsrose-Gedicht „Psalm“ die Probleme der Juden mit der deutschen Vergangenheitsbewältigung an, indem er schreibt: „niemand bespricht unsern Staub“, so bespricht Meister mit Celans Tod indirekt und anamnetisch den Genozid an den Juden, der wohl auch an Celans Tod teilhatte. Die Rose jedoch, wird von Meister mit „Algen“ besetzt. Die möglichen Bezugsfelder, der seit dem Symbolismus mit der dichterischen Praxis konnotierten Chiffre ,Rose‘ werden durch dieses Bild der Verwesung verunstaltet bis zur einzig möglichen Wahrheit, die außerhalb der Sprechmöglichkeiten liegt: dem Tod. Dieser ist in Meisters Lektüre des Atemwende-Gedichts „unter die Menschen getreten“, und nur dieser beherrscht die Sprache, weil er Celan zu sich nahm. Meister bereichert die literarische Tradition des Ophelia-Motivs (das man von Arthur Rimbaud, Georg Heym, Gottfried Benn und Bertolt Brecht kennt) indem er eine männliche Figur hinzufügt. Der Körper Celans reiht sich in die Kette des literarischen Motivs als Leiche ein. Das Bild der Wasserleiche scheint sozusagen ,ein gefundenes Fressen‘. Meister nützt also die Gelegenheit zu postumer Celan-Kritik, indem er Celan als Ophelia-Gestalt heraufbeschwört und seine bewährte Vorstellung von dem auf dem Wasserboden der Tatsachen liegenden toten Dichter mit Celan personifiziert, quasi ,den Fall Celan‘ für die eigene Poetik und Thematik benutzt. Denn Meisters Faszination für den Wassertod begann bereits früher. Das Gedicht „Toter Dichter auf dem Meeresgrund“ aus dem Jahre 1932 war der Beginn vieler Gedichte, in denen die Einheit des doppeldeutigen Begriffs ,Grund‘ und die Entität ,Tod‘ variiert wurden. Der Meeresboden enthält den Grund der Existenz. Diese finale Ursache ist der Tod, oft verkörpert als Wasserleiche. Celan nun, als Dichter der Wahrheit, ist für Meister die Verkörperung der Hoffnung geworden. Denn dieser, als der wahre Orpheus, könnte möglicherweise vom Sein des Nicht-Seins berichten, und könnte den Grund der Existenz ergründet haben. Wenn Meister sich an anderer Stelle in Sage vom Ganzen den Satz fragt:

Wer denn hat diesen
von brüchigen Stegen
gesprungenen Menschen
gefischt, den dieser
Wortzeit?

antwortet er letzten Endes mit „Keinen“. Damit gibt Meister den Antipol des Celanschen „Niemand“. Nach Meisters Auffassung ist Sprache in erster Instanz auf ontologische Erkenntnis aus, während für Celan, in Meisters Sicht, die Sprache selber das Wichtigste ist, weil immer aufs Neue formuliert werden muß, was ist und was war. Seine Sprach-Odyssee führt jedoch letztendlich den Tod herbei.
so enthält Meisters Nekrolog poetische und existentielle Schlüsse:

Ich hab dir
das Meine
umsonst gesagt,

und so rede
ein Jedes
das Seine umsonst

Wir finden hier außer Elementen eines Sprachspiels, eine Formulierung des Falls Celan. Denn Celans Lyrik und Existenz bildeten aus Meisters Sicht eine Einheit: am Ende der lyrischen Einbahnstraße gab es auch für den Autor keinen Ausweg mehr. Zusätzlich nimmt Meister mit dem Wort „umsonst“ ein stilles Zitat auf, mit dem er das Vergebliche von Celans Versuch, die Grenze des lyrischen Sprechens zu überschreiten betont und seinerseits das Bewußtsein der Schranke zeigt. Celan hatte von der Poesie als „Unendlichkeitsprechung von lauter Sterblichkeit und Umsonst“ gesprochen.
Meisters Satz „Hölderlin vereinfachen, heißt ihn verfälschen“ deutet auf eine Gefahr, die gleichermaßen für Celans und Meisters Lyrik gilt, und die aus dem Motiv des Wassertodes ein noch delikateres Thema macht. Verfälscht die Einseitigkeit von Meisters postumer lyrischer Korrespondenz mit Celan nicht dessen Komplexität?
Die Frage kann mit sechs vorläufigen Schlußfolgerungen beantwortet werden:

(1.) Meisters Celan-Lektüre spiegelt Aspekte der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit dem Problem der Verständlichkeit der Celanschen Gedichte. Von der späteren Celan-Forschung hat Meister nicht profitieren können.

(2.) Die ,Wassertod-Gedichte‘, in denen Meister das Bild Celans wachruft, drücken neben Kritik Mitleid aus. Meister trauert Celans lyrischen und existentiellen Schlüssen nach. Er sympathisiert mit ihm bereits als ,Schulkamerad‘.

(3.) Die Faszination, die Celans Wassertod auf Meister ausübt, ist nicht nur aus der Auseinandersetzung mit Celan und dessen Werk zu erklären. Meister greift ein altes Thema wieder auf.

(4.) Meister greift den störrischen literaturkritischen ,Diskurs des Hermetischen‘ an, der die konkreten Aspekte der Dichtung verkennt. Die aktuellen Eigenschaften werden von den professionellen Lesern übersehen. Zwar ist der Selbstmord als Thema seit Goethes Werther nicht mehr Tabu, dennoch wird er vom ,Diskurs des Hermetischen‘ abgewehrt. Es dauerte bis Ende der achtziger Jahren bis ihm Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

(5.) Im Rahmen des poetologischen Notats zum Band Sage vom Ganzen den Satz kann die Schicht Hölderlin-Celan zuverlässiger erschlossen werden. Meister sucht zwischen den Entwürfen beider Dichter seinen eigenen Weg. Das ist nicht neu, schon der Klappentext wirbt mit dieser Eigenart des Werkes.

(6.) Immer dann, wenn Meister Kritik übt, bringt er Nietzsche-Zitate ein. Auch der Schatten Jean Pauls mischt sich in Meisters Schrift ein.

Mit dieser Feststellung ist der Unterschied zwischen den beiden ,Hölderlin-Schülern‘ zu beleuchten. Jean Paul taucht als Leitstern im Gedicht „Ein Wort“ wieder auf, in dem Meister wiederum auf Celan reagiert. Jean Paul kann als Quelle von Meisters Gegenwort gelesen werden. Gegen Celans „ein / grünes / Schweigen“, gegen dessen Vertrauen auf Sprache, den in Tel Aviv vorm hebräischen Schriftstellerverband artikulierten „dankbaren Stolz auf jedes selbstgepflanzte Grün“, gegen Celans „Wort, mit all seinem Grün“ hält Meister über Erich Arendts Widmungsgedicht seinen jeanpaulischen Denkgegenstand:

„Das Nichts mit
all seinem Grün“
ist möglich zu sagen

Jean Paul formuliert öfters die Nichtigkeit des Menschen vor dem All. Die Nähe Meisters zu Jean Paul geht bereits hervor aus Jean Pauls Wort vom „gärenden, grünenden, verwitternden Chaos“. Meisters früher Gedanke, daß er das All als „eine grausig schöne, Leichen fressende Blüte“ empfindet, bekräftigt dies. Außer der Jean Paul-Spur, findet man in Meisters Celan-Kritik die Kritik eines ,Hölderlin-Schülers‘. Denkt man nämlich an das Identisch-werden der Flüsse Neckar und Seine, sowie des Hölderlin-Turms und des Eifel-Turms in zwei Gedichten Meisters in Sage vom Ganzen den Satz, berücksichtigt man die Darstellung von Celan als Tier im Sinne Nietzsches, so trifft man auf die Mythisierung des Celanschen Freitodes, der Meister gegenüber skeptisch bleibt. Meisters Tod war, im Gegensatz zu Celans Entscheidung, im bürgerlichen Alltag eingebettet. Celans Hölderlin-Lektüre des Tod des Empedokles und der ,Rhein-Hymne‘ bezeugen seine starke Affinität mit der „,Freiheit des antiken Tragödientodes‘“. Die existentiellen Schlüsse des Empedokles sind Celan immer sehr vertraut gewesen. Meister setzt jedoch weder in Fragen der Poetik, noch in Angelegenheiten der Existenz wie Celan auf Heros und Individualität, auf Befreiung und Freiheit. Meister weiß sich dem allgemeinen Tod als Schicksal des Persönlichen ausgesetzt: das Vergehen im Werden.

Ewout van der Knaap, aus Theo Buck (Hrsg.): Erstes Ernst Meister Colloquium, Rimbaud Verlag, 1993

 

In der rasenden Zeit
ist er langsam zum Freunde geworden.
Seine Sprache, Atem des Denkens, ist mir
nicht ferner als der nächste Baum. Es gibt
umgelegte, andere werden sterben
und es ist klar, daß nichts mehr sterben darf
die Bäume, die Freunde, die Sprachen
hier darf nichts mehr sterben.

Christoph Meckel

 

 

Fakten und Vermutungen zum HerausgeberKalliope

 

Homepage der Ernst Meister-Arbeitsstelle

Hommage zusammengestellt von Jürgen P. Wallmann

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Michael Braun: Im Weltriss häuslich
Badische Zeitung, 3.9.2011

Fakten und Vermutungen zum Autor + NEMG + Archiv +
Internet Archive + Kalliope + KLGDAS&D +
Georg-Büchner-Preis 1 & 2
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum +
Brigitte Friedrich Autorenfotos
 

Ernst Meister heute: mehr als Erinnern.

1 Antwort : Ernst Meister: Liebesgedichte”

  1. Redaktion sagt:

    Selbstvorstellung
    Anläßlich der Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

    Meine Damen und Herren, den abstrakten Fall, daß der Mensch an jedem Orte der Erde geboren werden könnte, gibt es nicht. Das setzte Präexistenz voraus mit der Möglichkeit der Wahl. Was also mich betrifft: Ich kam, gemäß den Prämissen eines jungen Paares, 1911 (Wilhelminische Endphase) im westfälischen Haspe zur Welt, einem völlig ruhm- und legendelosen Gemeinwesen bei Hagen. Heute ist der an der Ennepe gelegene Industrieort Teil dieser großen Stadt. Ennepe – das ist freilich etwas: Eines Tages nämlich mußte ich beim Klang des Namens an einen gewissen altgriechischen Imperativ denken.
    Daß es Humanisten oder wenigstens einen in der Familie gegeben hat, halte ich nicht für wahrscheinlich. Meine Vorfahren sind hauptsächlich Handwerker und Bauern gewesen, die teils im Sauerland, das manche zum „herzynischen Walde“ zählen, teils am Rande des heutigen Ruhrgebietes lebten. Von einem Postillion weiß ich auch, und gern möchte ich für meine Sippe einheimsen: „und dort drüben, in Westfalen, Mein ehrlich Meister“. (Siehe Hölderlins Gedicht „Der Vatikan“.)
    Sicher war man von meines Vaters Seite in den letzten Generationen „pietistisch“. Mein Großvater ist für mich das Modell eines Frommen. Ganz bestimmt hat er nie die Odyssee gelesen, die Bibel hingegen bedeutete ihm alles. Er war ein kleiner Mann mit gekrümmtem Rücken und großem Kopf (Rachitis in einer schweren Jugend), Dreher von Beruf, ein Melancholiker, der gleichwohl den religiösen Disput liebte. An Feiertagen trug er einen Kittel aus blauem Leinen, Halstuch und Schirmmütze. So sah man ihn als eine Art Sokrates, der Gespräche zu initiieren wußte, auf der Straße. Er hieß Eduard. Ungefähr im besten Mannesalter starb er an Magenkrebs. Um den Vater meiner Mutter nicht zu vergessen: er starb, weil sich zuviel Eisenstaub in seiner Lunge angesammelt hatte.
    Der Enkel begann sein Studium in Marburg mit Theologie, lernte dabei in Grenzen Griechisch. Er ließ sich alsbald zur Philosophie herüberwinken, und zwar durch Karl Löwith, Schüler Heideggers, damals noch Privatdozent.
    In einem literarischen Leben, das ich längst begonnen hatte, war Philosophie das stark mitbewegende Element. Vom Schreiben schrieb ich eines Tages: „Ohne Existenz im Totum hat Dichten keinen Grund. Frage ich also, indem ich gefragt werde, nach dem Grund meines Schreibens, so kann ich immer nur mit der Sache meiner Existenz im Ganzen des Wirklichen antworten, die, objektiv, förmlich das Subjekt von Schreiben ist“.
    1932 veröffentlichte ich einen Gedichtband mit dem Titel Ausstellung. Er hatte mit Bildlichem nichts zu tun, sondern meinte das Zeigen von Existenz. In einer Kritik der Vossischen Zeitung hieß es, ich hätte eine Art von Kandinsky-Lyrik begründet. (Also doch Bildhaftes.)
    Ich bemerke, daß ich mehr und mehr ins unmittelbar Biographische gerate, will es aber nicht abbrechen, sondern das Gerüst meiner Anfänge, fragmentarisch zwar, vervollständigen.
    1933 habe ich als ein kritisches Jahr zu verbuchen. Eine Ausmalung des politischen Aspekts erübrigt sich. Mit meiner Gesundheit stand es schlecht, offenbar hatte ich, schreibend und studierend, meine nervlichen Kräfte überzogen. (Ich verwahre aus der Zeit ein umfangreiches Romanfragment und ein Theaterstück von hundert Seiten.) Zu befürchten war außerdem, daß Dr. Löwith, bei dem ich zu promovieren gedachte, seinen Lehrstuhl verlieren würde. In einer Schwebesituation ging ich 1934 nach Frankfurt, folgte Fritz Kraus, der bei der Frankfurter Zeitung Redakteur für Philosophie geworden war. Ich konnte noch ein paar Prosastücke für die FZ schreiben, dann mußte ich Geduld mit mir selbst haben und mir von anderen schenken lassen.
    Wieder veröffentlicht habe ich nach zwanzig Jahren, es war ein kleiner Gedichtband bei V.O. Stomps. Inzwischen war ich Soldat Hitlers (Rußland, Frankreich, Italien, Gefangener in Rimini) und Angestellter in der Fabrik meines Vaters geworden, frönend freilich der Schriftstellerei, wo es anging oder auch nicht anging. 1960 schied ich aus der Firma aus und wurde freier Schriftsteller.
    So wie es mir mit Ihnen geht, daß ich in Lexika Bibliographisches nachschlagen kann, so mag, wer Lust hat, es bei mir tun. Man kann von seinen „Arbeiten“ sprechen, es sind aber auch die Leistungen, man hat Scheu, diese aufzuzählen, auch „Auszeichnungen“.
    Unter welchem Zeichen steht die „Leistung“? Nicht wahr, es ist, eben, die Literatur, das sprachliche Vehikel für Betroffenheiten. Da kann es zwar zum Rechten kommen, aber die Differenz von Sein und Logos bleibt dennoch. Natürlich, es mag spalterisch klingen, Sprache leidet nicht, sondern der leidende Mensch, der sie spricht. Sterben selbst ist faktisch, und ein Leichnam wird begraben. Literatur, die einer gemacht hat, wird weitergegeben, wenn das auch „Abgeben“ bedeutet. Abgeben desjenigen, dem jeder Begriff davon genommen ist, was beispielsweise Gedicht hieß. Die Werke der leiblich Verschwundenen stellen sich dar als eine in die Länge wachsende Kette. Denke ich an diese, so fällt mir die wechselhafte Folge von Toden und Nachrufen ein, wie sie so plastisch in den Jahrbüchern dieser Akademie zur Anschauung kommt.
    Wenn mich hartnäckig etwas beschäftigt hat und noch immer beschäftigt, so ist es der Gedanke an Sein überhaupt, und überlege ich mir, wie sich mein Denken in der gelebten Zeit gestuft haben könnte, so wäre es zuerst ein Denken gegen, dann eines mit der Notwendigkeit gewesen, bis zur Kapitulation mit dem Wort vor der stupenden Faktizität des Endes, mögen wir diese Faktizität auch verstanden haben. Ich zitierte, ich dachte an Dolf Sternbergers Buch Der verstandene Tod.
    Es versteht sich, meine Damen und Herren, daß ich Dank empfinde dafür, in die Akademie aufgenommen worden zu sein.

    Ernst Meister 1974, aus: Michael Assmann (Hrsg.): Wie sie sich selber sehen. Antrittsreden der Mitglieder vor dem Kollegium der Deutschen Akademie, Wallstein Verlag, 1999.

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