Ernst Stadler: Der Aufbruch

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ernst Stadler: Der Aufbruch

Stadler-Der Aufbruch

FÜLLE DES LEBENS

Dein Stern erglänzt in Auferstehungsfrühen,
Dein Schicksal treibt, als Opfer sich zu spenden,
Durstige Flamme, kühn, sich zu verschwenden,
wie Laubgerinnsel, die im Herbstwald sich verglühen.

In Fernen sind die Hölzer schon geschichtet,
Den Leib zu neuer Weihe zu empfangen –
Und schwellend ist, um das die Wimpel deiner
aaaaaTräume hangen,
Das Brautbett deiner letzten Sehnsucht aufgerichtet.

 

 

 

Nachwort

„Halbfertiges Leben“ überschrieb Otto Flake einen Nachruf auf Ernst Stadler, der im Jahre 1915 in der Zeitschrift Die Neue Rundschau veröffentlicht worden ist. Darin schildert er Begegnungen mit dem Freund.

Er fertigte gerade einen Studenten ab, der unter Verbeugungen seine Bescheinigung in Empfang nahm und nicht viel jünger als der Lehrer war, dann sagten wir uns guten Tag. Der dreißigjährige Professor war zu seinem Glück kurzsichtig, so daß er à la Franz Blei eine große Hornbrille trug, die ihm etwas Würde gab. Im Privatkreise setzte er ein Monokel auf, durch das sein bartloses Gesicht eine merkwürdige Ähnlichkeit mit Chamberlain erhielt, dem britischen Imperialisten, nicht dem Houston Stewart… Wenn man das alles zusammennimmt, was war er? Ein Elsässer, ein wahrer Deutscher, der neben seiner eigenen Kultur noch die eines anderen, hier sogar zweier anderer Völker brauchte… Ungeachtet des Monokels nichts Salonhaftes, eher ein schwerer als ein leichtfüßiger Mensch, aber eben darum mit der ganzen deutschen Liebe für die durchsichtige Periode, den hellen Geist und die tapfere und steile Lebenslinie…

Am Ende seiner Gedenkseite resümiert Flake:

Nichts bleibt als ein Gedichtband. Und das ist das, was bleiben wird. Man lese den Aufbruch, er ist im Verlag der Weißen Bücher erschienen, und man wird begreifen, daß hier eine Hoffnung gegeben wurde, die wenigstens das eine Glück hatte, daß sie ihr erstes Denkmal noch selbst setzen durfte.

Ernst Maria Richard Stadler wurde am 11. August 1883 in Colmar/Elsaß geboren. Sein Vater war Kurator der Universität Straßburg. Die unterschiedliche Konfession der Eltern – Vater katholisch, Mutter evangelisch – blieb auf seinen geistigen Habitus nicht ohne Folgen. Seine elsässische Herkunft machte ihn für kulturelle Strömungen empfänglich, die Haltung und Werk prägen sollten. Nach der Gymnasialzeit in Straßburg studierte er Germanistik, Romanistik und vergleichende Sprachwissenschaft in Straßburg und München. 1906 promovierte er über den Parzival und ging noch im gleichen Jahr nach Oxford, wo er Cecil-Rhodes-Stipendiat war. 1908 habilitierte er mit einer Arbeit über Wielands Shakespeare-Übersetzungen in Straßburg. Dort erhielt er 1910 eine Dozentur. Die Université libre in Brüssel gab ihm eine Professur. Im Jahre 1914 wurde er als Professor an die Universität Toronto in Kanada berufen. Bevor er jedoch abreisen konnte, brach der erste Weltkrieg aus, und Stadler wurde Soldat. Er fiel bereits am 30. Oktober 1914 bei Zandvoorde in der Nähe von Ypern.
Im Aktionsbuch von 1917 beschreibt Hans Koch ein zufälliges Zusammentreffen mit Stadler wenige Stunden vor dessen Tod.

Aus Spucke und Pappe hatte der liebe Herrgott sich einen Frühmorgen zurechtgemacht, einen lieben Freund zum letzten Male mir zu zeigen. In einer elenden, schmierigen Dorfgasse griff mein Zufallsblick ihn auf. Eine freudige Gänsehaut lief mir ins Kreuz, da ich sah: er hatte mich erkannt! Die kleinen Feldkanonen ratterten verdrossen hinter den trottenden Gäulen, in der Gasse standen dampfend einige Husarenfähnlein. Flüche, Spritzer, verärgertes Gemaule. Ich lachte hellauf aus solcher Wiedersehensfreude. Wir waren beide durch Wochen uns nahe gewesen und hatten uns nicht finden können… Ich lachte frei weg. Doch er lachte zwischen Bedrücktheit und Unbehagen. … Wir schwatzten von unserem Elsaß, von den Freunden und Dingen des Herzens. … Ihm war etwa also: dieser Krieg ist eine Narretei und widerlich obendrein. Und wer vorangestellt ist, wie unsereins, hat verdammt nichts zu lachen! … Es litt’s nicht mehr bei längerem Zusammensein. Wieder gaben wir uns die Hand und einigten uns auf weitere ,Feste der Jugend‘ nach diesem verruchten Kriege. Parbleu! Er machte eine Sauerampfergrimasse dazu, und da er regungslos weiterritt, hat mich die Bangigkeit an der Kehle gepackt, jäh, blöd: Wirst du ihn je wiedersehen? Drei Stunden später ist er vor einer englischen Granate geblieben. Hier oben in Flandern. Tot.

Viele seiner Freunde widmeten ihm „Bruderverse“ und Nachrufe, empfanden sie ihn doch als Repräsentanten für die Gemeinsamkeit des Wollens und als Vorbild für ihre lyrischen Intentionen. Dabei hatte sich Stadlers sehr früher Eintritt in die Literatur gänzlich unspektakulär vollzogen. Der Zwanzigjährige war noch dem Symbolismus verpflichtet, der in jenen Jahren den Ton angab. Der hochgebildete Germanist, der sich bereits als zuverlässiger Editor ausgewiesen hatte, nahm schon früh das Wort in der Öffentlichkeit. Er schrieb fundierte Kritiken und Würdigungen. Mit René Schickele und Otto Flake arbeitete er an der Zeitschrift Der Stürmer zusammen. Dieses kurzlebige Organ des Jüngsten Elsaß stand ideell der von Nietzsche geprägten Kulturkritik nahe und offenbarte unbürgerliche, aristokratisch anmutende Tendenzen. Mit dieser Haltung unterschied sich die Zeitschrift deutlich von den durch Friedrich Lienhard geförderten, provinziellen Heimatkunstbestrebungen, die unter den jungen Intellektuellen des Elsaß Anklang gefunden hatten. Ernst Stadler hatte ursprünglich selbst dazu gehört und benötigte einige Zeit, sich diesen Einflüssen zu entziehen. Später wurde er jedoch zu einem scharfen Kritiker des nationalistischen Lienhard, dem er anfangs durchaus nahe gestanden hatte.
Im Jahre 1904 publizierte Stadler den Gedichtband Praeludien, in dem er Gedichte zusammenfaßte, die zum überwiegenden Teil im Jahr zuvor entstanden waren. Diese frühen Texte sind durchweg vom Geist des Symbolismus getragen. Der Duktus und Tonfall sind von Hofmannsthal und George abhängig. Einflüsse von Baudelaire und Rimbaud sind nicht zu verkennen. In dem Band sind auch Gedichte nach dem Symbolisten Charles de Regnier in Stadlers Adaption enthalten. Dämmerung, Traum, Schönheit, Lebenserwachen, glückliche Stunde, Stimmung beherrschen die Aussage. Farben und Dunkelheit sind sowohl Symbolträger als auch Subjekt und Objekt der Darstellung. Der konkrete Mensch bleibt allerdings konturlos. Bei aller Schönheit im einzelnen Gedicht vermittelt der Band insgesamt ein Gefühl des Epigonalen, des Stilisierten, des Gebildetseins, nicht aber die Vorstellung des eigenen, vorwärts reißenden und persönlichkeitsformenden Erlebens.
Nach dieser Publikation verstummte Stadler als Dichter für einige Jahre. Seine ganze Aufmerksamkeit galt nun zunächst der wissenschaftlichen Ausbildung; wie seine Vita zeigt, mit großem Erfolg. Erst um 1910 beginnt er sich wieder intensiver mit der Kunst seiner Zeit auseinanderzusetzen. In der Folgezeit publizierte er eine Vielzahl von Kritiken zu Büchern von Georg Heym, Oskar Loerke, Max Dauthendey, Franz Werfel, Carl Sternheim, Kurt Hiller u.a., die das Wachsen des jungen Dichters ebenso bezeugen, wie sie sich als aufschlußreiche Bekenntnisse zum frühen Expressionismus erweisen. Immer wieder finden sich in den rezensorischen Texten Formulierungen wie „Welterleben“, „Weltfreudigkeit“, „Grundgefühl der Zeit“, „Lebensenthusiasmus“, die seiner eigenen Empfindung weitgehend entsprachen und schließlich im Aufbruch poetisch Gestalt annahmen.
Hatte Stadler in den Jahren bis 1910 vorwiegend in Zeitschriften publiziert, die zu seiner Heimat, dem Elsaß, in enger Beziehung standen, wendete er sich nach Gründung der Aktion mehr und mehr diesem avantgardistisch-polemischen, Blatt zu und veröffentlichte darin vor allem jene Gedichte, die später in den Band Der Aufbruch aufgenommen worden sind. Zweifellos war der junge Dichter von der antibürgerlichen Haltung der Zeitschrift ebenso angetan, wie er in ihren Mitarbeitern Gesinnungsfreunde und Mitmenschen erkannte, in deren Kreis sich einzureihen ihm eine Ehre war. Allerdings muß dabei einschränkend gesagt werden, daß Stadler mit den revolutionären Vorstellungen Franz Pfemferts nichts anzufangen wußte.
In diese Zeit intensiver publizistischer Tätigkeit und der Sammlung von Texten für einen neuen Band fällt die Auseinandersetzung mit den Gebeten der Demut von Francis Jammes. Der Band erschien 1913 im Kurt Wolff Verlag in Stadlers Nachdichtung in der berühmten Reihe Der jüngste Tag. Nach dem frühen Tod des Freundes veröffentlichte René Schickele in der von ihm geleiteten Zeitschrift Die Weißen Blätter unter dem Titel „Franziskanische Gebete von Francis Jammes“ weitere Nachdichtungen Stadlers, die 1913 nicht mit in den Band aufgenommen worden waren. 1917 publizierte Kurt Wolff die beiden Veröffentlichungen zusammen in einer vermehrten Auflage der Gebete der Demut. Wenn wir auch heute beim Lesen der Verse die formale Meisterschaft und poetische Intensität sehen, so lassen uns die Texte kalt, sind sie unserer Vorstellungswelt doch sehr weit entrückt. Die Wendung Stadlers zu diesem Dichter ist sicher der zweikonfessionellen Bindung und einer zutiefst religiösen Grundhaltung geschuldet, von der auch die Gedichte seines eigenen Bandes getragen werden.
Während sich Stadler mit Francis Jammes beschäftigte, übertrug er gleichzeitig Aufsätze des französischen Schriftstellers Charles Péguy, von denen er einige in der Aktion publizierte. Die religiös verklärte, schwärmerische Dichtung und Essayistik Péguys regte ihn zu Übertragungen an, auch wenn er mit den Auffassungen des Autors nicht in allen Einzelheiten übereinstimmte. Eine Sammlung der „Aufsätze“ des religiösen Sozialisten Péguy erschien erst im Jahre 1918, zumeist in jenen Übersetzungen Stadlers. Sowohl der französische Dichter als sein deutscher Übersetzer waren damals bereits vier Jahre tot. Als „Feinde“ waren sie zu Beginn des Krieges am gleichen Frontabschnitt gefallen.
Der Titel des 1914 erschienenen Gedichtbandes, Der Aufbruch, kennzeichnet das Lebensgefühl der jungen expressionistischen Dichtergeneration mit einem Wort, das für ein ganzes Programm steht und in dem so vieles mitschwingt von dem, was die aufbegehrenden Bürgersöhne empfanden und bewegte: Verfall, Weltende, Lebensüberdruß, Unbehagen, ein neues Weltgefühl. Das und anderes sind programmatische Begriffe, unter die die Dichtung der frühexpressionistischen Phase subsumiert werden kann. In einer Rezension der Komödien „aus dem bürgerlichen Heldenleben“ von Carl Sternheim sieht Stadler das Gesicht dieser Zeit so:

Das Chaotische unserer Epoche, Zusammenstürzen noch eben gültiger Überlieferungen, Anarchismus aller Werte, mühselige Behauptung eines nicht mehr Geglaubten durch Wort und Geste, die zur leblosen Form entarten, weil keine Realität hinter ihnen steht – all das Ziellose, Ungeordnete, durch keine Gemeinsamkeit Geregelte, das deutsche Gegenwart heißt, ist hier von starken, wissenden Händen geformt.

Wesentlich schärfer als der um Ausgleich und distinguiertes Charakterisieren bemühte Stadler beschreibt der von ihm bewunderte Georg Heym, wie er diese Atmosphäre empfand:

Dieser Frieden ist so faul, ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln. Was haben wir auch für eine jammervolle Regierung, einen Kaiser, der sich in jedem Zirkus als Harlekin sehen lassen könnte. Staatsmänner, die besser als Spucknapfhalter ihren Zweck erfüllten denn als Männer, die das Vertrauen des Volkes tragen sollen.

Neben den beiden Zentren Berlin und München gab es noch zahlreiche regionale Kreise (Heidelberg, Prag, Leipzig, Straßburg), in denen sich die jungen Dichter formierten, die ebenso oder ähnlich empfanden wie Georg Heym. In Zeitschriften wie Die Aktion, Der Sturm, Die Bücherei Maiandros, Die Weißen Blätter und in Publikationsreihen wie Lyrische Flugblätter, Der jüngste Tag, Der rote Hahn, Aktionsbücher sammelten sich die Expressionisten. Hier konnten sie ihren subjektiven Erkenntnissen, ihren grandiosen Stimmungen und Visionen Ausdruck geben. Hier fanden sie sich in ihrem Ringen um eine neue Literatur gefördert und in dem alles überwältigenden Gefühl des Mitmenschentums bestätigt. Hier stellten die rebellierenden Bürgersöhne ihre radikal netten Kunstauffassungen in Manifesten und Pamphleten zur Diskussion, vor allem aber artikulierten sie ihr Weltgefühl in ebenso mitreißenden wie befremdenden Versen.
In der Vorbemerkung von Peter Scher zu der von Franz Pfemfert im Jahrgang 1913 seiner Zeitschrift Die Aktion herausgegebenen lyrischen Anthologie heißt es:

Die Lyrik hat sich in Deutschland zu neuem Ansehen durchgerungen. Der lyrische Dichter braucht sich seines Berufs nicht mehr zu schämen. Das Mal der Dichtung, das zu Freiligraths Zeiten noch ein Kainszeichen war, ist mittlerweile ein Zeichen der Zeit geworden… Die Konsumenten… bemühen sich in rührender Hast, ihr Unrecht gutzumachen. Kommerzienräte verschlingen auf dem Weg zur Börse Berge lebensbejahender Lyrik, Bäckermeister schieben das Brot mit neuem Pathos in den Ofen, und Trambahnwagenführer treten die Warnungsglocke nach dem Takt der freien Rhythmen, die sie gegen das strenge Verbot der Direktion im Ärmelaufschlag ihres Dienstrocks bei sich führen.

Die Ironie täuscht weder über die Ernsthaftigkeit der Aussage hinweg, noch kann sie den Wert dieser Ausführungen mindern, da die skizzierte Situation als ein Merkmal allgemeiner Erwartung gegenüber der Zeitkunst angesehen werden kann.
Aus dem in der Dichtung immer wieder beschworenen Chaos, von dem die gegenwärtige Welt beherrscht werde, hebt sich als vox humana der Ruf nach dem Mitmenschen, nach dem Menschenbruder verheißungsvoll-messianisch ab. Werfels Ruf „Mein einziger Wunsch ist, dir, o Mensch, verwandt zu sein!“ trug dieser Dichtung später die meist pejorativ gemeinte Bezeichnung „O-Mensch-Lyrik“ ein. Wenn der Dichter sich in dieser Weise an den Mitmenschen wendet, will er in ihm das Individuum akzeptieren, möchte er seiner Mission als Sachwalter der Gerechtigkeit und Menschenwürde genügen. Der Weg zum Mitmenschen wird für ihn vor allem ein Weg zum eigenen Ich. Erkennt der Lyriker im anderen Menschen das eigene Ich, dann kann er die Beschwörung der Gemeinsamkeit im DU vollziehen, gibt er im Gedicht der Vorstellung des „Tat twam asi“ (Das bist du) Gestalt. Solcher Gefühlshaltung und diesem Empfinden entwächst die Vorliebe für Außenseiter der Gesellschaft. Dirnen, Geisteskranke, Sterbende, Selbstmörder, gescheiterte Existenzen werden zu den bevorzugten lyrischen Gestalten, die als Anklage gegen die Gesellschaft gedacht sind, die zugleich aber als Identifikationsfiguren für die Übereinstimmung mit dem anderen Ich gesehen werden.
Diese Sympathie für Außenseiter hängt mit der ästhetischen Auffassung zusammen, die in dem Begriff der Intuition kulminiert. In seinem Essay „Über den dichterischen Expressionismus“ (1917) hat Kasimir Edschmid die Besonderheit expressionistischer Auffassung und Darstellung so beschrieben:

Sie gaben nicht mehr die leichte Erregung. Sie gaben nicht mehr die nackte Tatsache. Ihnen war der Moment, die Sekunde der impressionistischen Schöpfung nur ein taubes Korn in der mahlenden Zeit… Ihnen entfaltete das Gefühl sich maßlos. Sie sahen nicht. Sie schauten. Sie photographierten nicht. Sie hatten Gesichte. Statt der Rakete schufen sie die dauernde Erregung. Statt dem Moment die Wirkung in die Zeit.

Was im einzelnen unter solchen Vorstellungen zu verstehen ist, demonstriert Edschmid am Beispiel der Hure, einem oft benutzten Symbol für die Gesellschaft und die durch sie aufgestellten Tabus.

Eine Hure ist nicht mehr ein Gegenstand, behängt und bemalt, mit den Dekorationen ihres Handwerks. Sie wird ohne Parfüme, ohne Farben, ohne Tasche, ohne wiegende Schenkel erscheinen. Aber ihr eigentliches Wesen muß aus ihr herauskommen, daß in der Einfachheit der Form doch alles gesprengt wird von den Lastern, der Liebe, der Gemeinheit und der Tragödie, die ihr Herz und ihr Handwerk ausmachen. Denn die Wirklichkeit ihres menschlichen Daseins ist ohne Belang… Jeder Mensch ist nicht mehr Individuum, gebunden an Pflicht, Moral, Gesellschaft, Familie. Er wird in dieser Kunst nichts als das Erhebendste und Kläglichste: er wird Mensch.

Ernst Stadler publizierte 1913 in der Aktion das Gedicht „Die Dirne“. Dies gab Anlaß zu einem großen Skandal mit gerichtlichem Nachspiel, so empörte es die bürgerlichen Zeitgenossen. Stadler bezieht das Dirnenschicksal unmittelbar auf Gott und zeigt damit nicht nur seine Auffassung von der Geworfenheit individueller und menschlicher Existenz, sondern offenbart das „ureigentlich Menschliche“, das sich im Bild des leidenden und durch Leiden geläuterten „Gottesgeschöpfes“ darbietet. Er hat dieses Thema immer wieder gestaltet, wobei er sich zur Freiheit des Individuums bekennt, das durch keinerlei Verbot oder Tabu behindert werden darf:

Brich aus, Raubtier,
Stürme an ihren erstarrten Reihen,
Aufgerißnen Mäulern, schreckerstickten Schreien
Vorbei
In deine Welt!
Brich aus, Raubtier!
Brich aus!

(„Leoncita“)

Bot die Thematik der gesellschaftlichen Außenseiter Gelegenheit zur Verkündung eines humanistischen Credos, so wird die Großstadt mit ihrem gewaltigen Aufschwung menschlicher Potenz und den damit korrespondierenden Schattenseiten des Daseins ein dominierendes Motiv frühexpressionistischer Dichtung, wie auch der Alltag individueller Existenz unter diesen Bedingungen ein immer wieder variiertes Thema ist. In dem Gedicht „Abendschluß“ wird eine charakteristische Großstadtsituation dargestellt. Die nach Feierabend in das Leben zurückströmenden Menschen lassen alles Düstere des Berufes und der Bedrückung hinter sich und geben sich vorbehaltlos dem Vergnügen und der Gunst des Augenblicks hin. Gänzlich können sie dem Alltag nicht entrinnen, denn sie „tragen in der Einsamkeit der Augen einen fernen Schatten mit“, und manchmal geschieht es, daß „ein Schreckgesicht mit höhnischer Grimasse ihrer Fröhlichkeit den Weg verstellt.“ – „Dann schmiegen sie sich enger, und die Hand erzittert, die den Arm des Freundes greift, / Als stände schon das Alter hinter ihnen, das ihr Leben dem Verlöschen in der Dunkelheit entgegenschleift.“ Für Stadler ist das Bild der aus dem Geschäft nach Hause eilenden Mädchen, die am Arm des Freundes Entspannung und Schutz suchen, zum Sinnbild des menschlichen Lebens überhaupt geworden. Immer steht hinter dem augenblicklichen Sein die Furcht vor dem Künftigen, die Sorge, etwas im Leben entbehren zu müssen, das doch dazu beitragen könnte, den Alltag erträglicher zu machen.
Der Mensch kann nur im Augenblick Erfüllung finden. Er vermag nur im Suchen nach dem anderen Ich die durch Zeit und Ordnung gesetzten Begrenzungen zu überwinden. Diese Begrenztheit menschlicher Erlebnisse vor allem ist es, die dem Lyriker Stadler das Wort gibt, die seiner Dichtung die pathetisch-schmerzliche Gebärde verleiht, mit der er sich aus der ihm verworren erscheinenden Welt des determinierten Individuums hinüberrettet in das Reich überdauernder Menschlichkeit. Dabei ruft er seinen Mitmenschen zu: „Mensch, werde wesentlich!“, in solchem Wesentlichsein das Mittel zum Zweck erblickend. Ihn selbst treibt es in grenzenlosem Sichverschenken zu den Dumpfen und Armen, als könnte er allein mit seiner Sympathie zur Rettung der hoffnungslos Hindämmernden beitragen. Dieser Dualismus der Empfindung breitet über seine Dichtung jenen Schleier dumpf-süßer Resignation, aus der Fühlen und Hoffen verheißungsvoll aufleuchten.
Das moderne Großstadtleben verbindet sich im lyrischen Werk vieler Dichter der Zeit mit der Dynamik einer rasanten Entwicklung technischer Perfektionierung. Diesem Prozeß entspricht die dynamische Bildsprache der Expressionisten. Stadlers Gedicht „Fahrt über die Kölner, Rheinbrücke bei Nacht“, in dem eine D-Zug-Fahrt detailliert beschrieben wird, ist dafür ein exemplarisches Beispiel. Im Vordergrund dieser Vision einer Fahrt steht nicht die Beschreibung des Vorgangs, obgleich der Titel des Gedichts mit seiner exakten Ortsangabe das erwarten lassen, sondern die durch die rasante Geschwindigkeit hervorgerufenen Empfindungen des Dichters, die sich in: rauschhaften Aussagen, in einer übersteigerten Bildsprache und den aus der Wirklichkeit herausgefetzten Assoziationsketten artikulieren. Die Nachtfahrt, das Vorüberrauschen wird minutiös aufgezeichnet. Die während der Fahrt aufkommenden Assoziationen werden fixiert. Die jäh aufblitzenden Ortschaften eben noch wahrgenommen. Nicht von ungefähr tauchen diese visionär-realen Empfindungen gerade in dem Augenblick auf, in dem der Zug über die Brücke fährt: „Wir fliegen, aufgehoben, königlich durch nachtentrißne Luft, hoch übern Strom.“
Bis zum Schluß des Gedichtes steigert sich die Vision der Schwerelosigkeit. In kurzen, abgerissenen Sätzen werden eine Vielzahl von Vorstellungen und Empfindungen beschworen, die einerseits den emotionalen Zustand des Darstellenden enthüllen, andererseits synästhetisch die Schnelligkeit des Fahrens nachzeichnen. Alles drängt auf den Mittelpunkt hin. Es ist das Grenzenlose, das in den Schlußzeilen fixiert worden ist. Für Stadler bedeutet die rauschhaft erlebte Fahrt Befreiung aus der beengenden Einsamkeit und eine Wendung zum Zukünftigen. „Und Glut und Drang / Zum Letzten, Segnenden. Zum Zeugungsfest. Zur Wollust. Zum Gebet. Zum Meer. Zum Untergang.“ Der apostrophierte Untergang ist vor allem symbolischer Ausdruck für das Aufgehen des Einzelwesens im All, für das Verströmen des Ich, wie es auch in dem Gedicht „Botschaft“ formuliert worden ist:

Sturm ist los und weht dein Herz in schmelzendes Umfangen,
Bis es grenzenlos zusammensinkt im Schrei von Lust und Glück und Tod.

Im Bekenntnis Zum Grenzenlosen schwingt auch die Sehnsucht nach Veränderung mit, die Ausgangspunkt der lyrischen Gestaltung ist.
Diese Bewegung, die auch Veränderung meint, hat letztlich dem Band den Titel gegeben. Die Gedichte sind vom Schwung des Lebens und Erlebens getragen, von dem in den lebensphilosophischen Anschauungen Henri Bergsons die Rede ist. Bergson definiert den Lebensschwung, der im Schöpfungsakt intuitiv in die Sphäre des Bewußtseins gehoben wird, mit folgenden Worten:

Es gibt einen Lebensschwung, der durch die Materie hindurchfährt und aus ihr herauszieht, was er kann, wobei es ihm freisteht, sich unterwegs zu spalten. An den äußersten Punkten der beiden so entstehenden Hauptentwicklungslinien befinden sich die Intelligenz und der Instinkt.

Stadler hat diese Idee vom Lebensschwung lyrisch gestaltet und stimmte darin mit vielen seiner Zeitgenossen überein. Oftmals sind es nur wenige Zeilen, in denen sich das vitalistische Lebensgefühl äußert, aber es geschieht dann so elementar und übermächtig, daß es zum bestimmenden Moment im Gedicht wird. Hinter diesen übersteigerten Äußerungen verbirgt sich eine Protesthaltung gegen die Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft. Dies trifft auch für das Gedicht „Der Aufbruch“ zu, geht jedoch über den bloßen Protest hinaus mit seihen Vorahnungen von künftigen Auseinandersetzungen und vom bevorstehenden Krieg. Wie in anderen Gedichten dieser Thematik, etwa von Ernst Wilhelm Lotz und Georg Heym, wird der Krieg hier als Vision und Erlösung aus dem Alltag gesehen, offenbart sich der übermächtige Wille zum Ausbrechen aus der bürgerlichen Enge um jeden Preis, und sei es um den eines Krieges, von dem Stadler allerdings ebensowenig eine klare Vorstellung hatte wie seine Zeitgenossen. Ganz sicher haben diese Grundhaltung und der antizipatorische Gestus dazu beigetragen, daß der Gedichtband jene Resonanz fand, die sich bis heute gehalten hat. Hans Naumann berichtet in seinem Erinnerungsband Ernst Stadler. Worte zu seinem Gedächtnis (1920) von einer Zusammenkunft der Straßburger Studentischen Wanderbühne unmittelbar vor Ausbruch des Krieges.

Ein Abend wird allen, die ihn erlebten, unvergeßlich sein: Montag vor Kriegsausbruch. Fern von Straßburg in später Stunde die kleine Gesellschaft in einem Dorfwirtshaus. Der drohende Krieg durchaus schon der Grundton der Stimmung, Abschiedsgefühle und Gefühle der plötzlich ungewiß gewordenen Zukunft einer ganzen schönen jungen Welt. Die Lampen waren verlöscht, und nur der phantastische Schein der dort beliebten Feuerzangenbowle, die Stadler selber soeben sachverständig und geschickt bereitete, flammte auf und ab. Da trug einer… aus dunkler Ecke unaufgefordert und wie auf eine Eingebung hin Stadlers Gedicht „Der Aufbruch“, das dem Buch den Namen gegeben hatte, langsam und feierlich uns vor: diesen fabelhaften, kampf- und abenteuerfrohen, welt- und sonneseligen, todestrunkenen Kriegsgesang.

Die emphatisch vorgetragene Stimmung des in eine Schlacht ziehenden Kriegers, der im „Kugelregen“ die „herrlichste Musik der Erde“ zu hören meinte, ist der visionäre Vorwand für einen Aufbruch, der auf die Befreiung des Herzens gerichtet ist. In einer fiktiven Schlachtsituation wird er vor die Entscheidung gestellt, sich entweder ganz dem Anderswerden hinzugeben oder aber in Erstarrung zu verfallen. Der Dichter plädiert für den Ausbruch aus der Enge, für das Auskosten der Gefahr. Keineswegs geht es in solchen Gedichten um eine wie auch immer geartete Kriegsbegeisterung oder gar Kriegsverherrlichung.
Stadler hat sich dann jedoch sofort nach seiner Beorderung dem Kriegsdienst zur Verfügung gestellt. Nicht als Kriegsfreiwilliger wie so viele andere, sondern als „deutscher Reserveoffizier“, wie Hermann Hesse 1915 schrieb. Flake berichtet in seinem Nachruf über die letzten gemeinsam verbrachten Stunden:

Am nächsten Morgen begleitete ich ihn durch die Geschäfte; er hatte eine große Liste in der Hand, auf der alles stand, was ein Offizier braucht… Zur Tischzeit erhielt er ein Telegramm, er fuhr sofort zu seinem Truppenteil nach Colmar, und ich glaube am Abend marschierte er schon.

Ein anderer Freund, der Maler Heinrich Beecke, der ihn 1910 porträtiert hatte, erzählt vom letzten Treffen mit Stadler im Freundeskreis:

1914, am Tage der drohenden Kriegsgefahr, war Ernst Stadler mit den übrigen in Straßburg noch weilenden Freunden bei mir zu Gast in meinem damaligen Atelier am Ruprechtsauer Tor. Es wurde eine gute Pfirsichbowle vertilgt, die alle bis spät nach Mitternacht zusammenhielt. Keiner nahm die Vorahnungen Stadlers, daß er in kurzer Zeit fallen, jedenfalls nicht mehr zurückkehren werde, ernst. Und während draußen vor dem Atelier die verstärkte Wache am Tor aufzog, ertönte plötzlich wie ein einstimmiger Protest gegen den Krieg in meinem Atelier die ,Marseillaise‘. Das war das letztemal, daß ich Stadler sah.

Ist diese Reaktion schon aufschlußreich genug, so wird die Haltung Stadlers zum Krieg auch aus einem Brief deutlich, den der Artillerieoffizier am 4. Oktober 1914 an Thea Sternheim schrieb:

Schließlich ist man doch zu sehr Nervenmensch, um die Soldatentugenden zu besitzen, die der populären Konvention als selbstverständlich gelten und die es vielleicht auch einmal da gibt. Oder sehe ich nur die Dinge anders, weil mir diese Art der Bravour abgeht und ich mir schließlich noch eine andere Aufgabe im Leben denke und wünsche, als mich von einer Granate in Stücke reißen zu lassen.

An diese lebensvernichtende Variante, die schon wenig später Wirklichkeit wurde, hat der Dichter ganz gewiß nicht gedacht, als er das Gedicht „Der Aufbruch“ schrieb. Ihm ging es um Ekstase und Verwirklichung des Ich, um das Auskosten des Daseins in allen seinen Möglichkeiten, um ein gesteigertes Lebensgefühl. Die konjunktivische Beschreibung – „vielleicht würden…“, „vielleicht lägen wir…“ – zeigt deutlich, daß realer Sieg oder reale Niederlage völlig gleichgültig sind, daß es allein um das ekstatische Ausleben und Aufbrechen geht, das seinen Höhepunkt in der Vision des Todesaugenblicks findet, der die Schönheit der Welt und die Befriedigung über das gelungene Lebensfest zusammenfaßt.

Aber vor dem Erraffen und vor dem Versinken
Würden unsre Augen sich an Welt und Sonne satt und glühend trinken.

Zeigt sich in den angeführten Beispielen das Aufnehmen und Weiterführen interessierender Sujets und Themen, so offenbaren die Gedichte des Bandes, insgesamt das Erfassen und Aussprechen eines neuen Lebensgefühls. Besonders deutlich wird das in dem berühmten Gedicht „Form ist Wollust“:

Form- und Riegel mußten erst zerspringen,
Welt durch aufgeschloßne Röhren dringen:
Form ist Wollust, Friede, himmlisches Genügen,
Doch mich reißt es, Ackerschollen umzupflügen.
Form will mich verschnüren und verengen,
Doch ich will mein Sein in alle Weiten drängen –
Form ist klare Härte ohn Erbarmen,
Doch mich treibt es zu den Dumpfen, zu den Armen,
Und in grenzenlosem Michverschenken
Will mich Leben mit Erfüllung tränken.

Zweifellos ist dies eines der Schlüsselgedichte des Bandes, weil es die neue Qualität des Standortes bestimmt und im Formulieren der neuen Empfindungen zugleich die Absage an überholte Kunstvorstellungen einschließt. Hatte die Generation Stefan Georges, Rainer Maria Rilkes und Hugo von Hofmannsthals der Form im Gedicht eine dominierende Rolle zugestanden, so empfindet Stadler in dieser Phase die starre Form als einen Riegel, der das Ich in seiner Entwicklung hemmt und die dichterische Darstellung der Welt durch Regelwerk behindert. Erfülltes Leben ist Wirken und Mitwirken, ist Hingabe des Ich an das Ganze, ist Bewegung, geht mit dem Zertrümmern formaler Mittel Hand in Hand. Das wird zwar als schmerzlich empfunden, weil es die Absage an die eigene lyrische Vergangenheit einbezieht, in seiner Notwendigkeit jedoch angenommen und bejaht ist.
Stadler wendet sich im Gedichtband Der Aufbruch, den er in die aufeinander abgestimmten vier Teile „Die Flucht“, „Stationen“, „Die Spiegel“ und „Die Rast“ gliederte, mit dem Eingangsgedicht „Worte“ ganz eindeutig gegen die Wortwelt Georges und Hofmannsthals, die ihn einst so fasziniert hatte, um diese symbolisch intendierte Welt der Klänge, Farben und Empfindungen tatsächlich überwinden zu können. Ihre „bunten Worte“ erwiesen sich als irreal, wie ja auch die frühen Gedichte Stadlers über eine formale und sehnsüchtig-traumhafte Darstellung nicht hinausgelangt waren. Die Gedichte der großen Vorbilder seiner Jugendzeit hinterließen Leere und Trauer, vermittelten bestenfalls den schönen Abglanz einer versunkenen Welt, deren „märchenhaften Friedens“ man sich erinnert, deren „verhaltener Musik“ man nachhängt. Hier fehlt die Aufbruchsvorstellung, hier gibt es noch keine Alternative. Allenfalls indirekt kann abgelesen werden: die Veränderung der Dichtung ist notwendig, um das Leben, die Wirklichkeit, mit neuen, formal andersgearteten und realitätsumschichtenden Mitteln einfangen zu können.
Betrachtet man die Gedichte des vorliegenden Bandes, so findet man, daß sie sprachlich-formal keineswegs mit den Arbeiten berühmter Zeitgenossen ohne weiteres verglichen werden können, denn Werfel, Hasenclever, Lichtenstein, um nur einige Namen zu nennen, haben ganz andere Intentionen. Allein die Sprache, die formale Geschlossenheit und die zuchtvoll-poetischen Bilder unterscheiden sie. In dem bereits erwähnten Essay von Kasimir Edschmid heißt es:

Die Sätze liegen im Rhythmus anders gefaltet als gewohnt. Sie unterstehen der gleichen Absicht, demselben Strom des Geistes, der nur das Eigentliche gibt: Melodik und Biegung beherrscht sie. Doch nicht zum Selbstzweck. Die Sätze dienen, in großer Kette hängend, dem Geist, der sie formt. Sie kennen nur seinen Weg, sein Ziel, seinen Sinn… Auch das Wort erhält andere Gewalt. Das beschreibende, das umschürfende hört auf. Dafür ist kein Platz mehr. Es wird Pfeil. Trifft in das Innere des Gegenstands und wird von ihm beseelt. Es wird kristallisch das eigentliche Bild des Dinges.

Damit werden auch Wesensmerkmale genannt, die für die Sprache Stadlers gelten können. Die Klarheit des an romanischer Sprache geschulten Geistes verhindert das Ausufern der sprachlichen Fülle, die zuchtvolle, formal gegliederte Kunst gibt dem Gedicht jene Durchsichtigkeit, die das Verstehen erleichtert. Dennoch zeigen seine Verse – Stadler bedient sich mit Vorliebe der Langzeile – die unbedingte Bewegung des expressionistischen Verses, in dem jede Zeile von der „tumultuarischen Dauer“ der Zeit erfüllt ist, wie es Franz Werfel in seinen „Notizen zur Poetik“ genannt hat. Die „tumultuarische Dauer“ bedingt die Gegenwärtigkeit, sie führt zum häufigen Gebrauch des Präsens, oftmals in seiner partizipierten Form, vielfach im Imperativ, weil das dem Willen zur Aktion am besten entspricht. Wenn von der formalen Geschlossenheit der Gedichte die Rede ist, so muß man die für Stadler charakteristische Langzeile im Vers besonders hervorheben. Die Langzeile tauchte erstmals in den Gedichten „Pans Trauer“ und „Evokation“ auf, die 1911 in der Zeitschrift Das Neue Elsaß erschienen. In den siebenundfünfzig Gedichten des Aufbruchs hat Stadler diese Langzeile nicht weniger als dreiundvierzigmal verwendet. Er war auf diese ungewöhnliche Form aufmerksam geworden, als er Max Dauthendeys Dichtung Die geflügelte Erde (1910) las. In einer Rezension schrieb er 1911:

Dauthendeys Form ist ganz gelöst, ganz weich, nachgiebig, flexibel und darum wie keine andere fähig, alle Bilder der Außenwelt ebensowohl wie die feinsten Schwingungen der Seele in sich zu sammeln… Seine Langzeilen nähern sich einer rhythmisierten Prosa, zusammengehalten und abgeteilt nur durch lockere und freischaltende Bindung der Reime.

Neben Dauthendey gab es jedoch auch andere Vorbilder für diese ungewöhnliche Strophenform. Als Stadler im Jahre 1914 Vorlesungen über die „Geschichte der deutschen Lyrik der neuesten Zeit“ hielt, wies er selbst auf Walt Whitman und Emile Verhaeren als Meister des Langverses hin. Die Langzeile Stadlers wurde von den Zeitgenossen als eine Manifestation der Gesinnung empfunden, als Ausdruck einer neuen Kunstauffassung. René Schickele sagt von den Gedichten des Aufbruchs, sie seien „Lebenssache… leibhaftig wie eine schöne Umarmung, die man noch lange mit sich herumträgt.“ Otto Flake faßte, das Besondere in der Dichtung des Freundes in dem Satz zusammen: „Prosa und Vers sind ineinander übergeführt, und das ist es, was wir alle als das Zeichen unserer Zeit empfinden.“
Im Almanach Vom jüngsten Tag (1916) schreibt Carl Sternheim:

Aus seinem Buch Der Aufbruch kam eines Tages der größte Eindruck, den deutsche Literatur des letzten Jahrzehnts auf mich gemacht. Er brachte es im Sommer 1913 nach La Hulpe hinaus, ich nahm’s später zögernd zur Hand; doch von Gedicht zu Gedicht wurde die Welt um mich feierlicher verklärt. Hatte ich schon mit erstem Blick erkannt, hier war eine Sprachkraft entbunden, die mich anfangs verwirrte, je mehr ich in sie eindrang, aber durch Pracht und Meisterschaft bis ins tiefste erschütterte, fand ich in der Welt dieses Dichters eine sittliche Leidenschaft und Freiheit, die, über Werfel hinaus, noch Rudolf Alexander Schröders Bedeutung hinter sich ließ. Hier war Leben unserer Tage in überzeugenden Lauten endlich rhythmisch gestanzt, und Freude des Schöpfers, Glück über die entdeckte Herrlichkeit strahlte durch alle Zeilen. Hinfort ward ich nicht müde, seine Tat zu preisen; und freute mich zum erstenmal, daß mein Urteil galt… Jedermann glaubte seiner poetischen Versicherung. Denn immer deutlicher bildete sich hinter den Versen der Umriß seiner lauteren Person. Diese Person! Seit Hugo von Tschudis Tod ist mir keiner entgegengetreten, dem die Eigenschaften eines erlauchten Mannes in den Augen geglänzt hätten wie diesem Stadler. Die gleiche unverbrüchliche Treue an das einmal geschaute Ideal, bei steifem Nacken die Unmöglichkeit einer Lüge aus seinem Mund. Er behauptete zuversichtlich, verwarf kurz. Verschleierte sich bei Unlauterem und strahlte bei der Erwähnung dessen, was ihm im Leben das Heiligste war: die Schönheit der Kunst.

Ernst Stadlers Gedichte wurden begeistert aufgenommen. Für viele seiner Zeitgenossen war er eine Symbolfigur. Sie fühlten und empfanden: Hier war ein neuer Ton, hier war eine Haltung, die dem allgemeinen Lebensgefühl entsprach. Der junge Dichter Ernst Wilhelm Lotz – auch er fiel in den ersten Kriegswochen an der Westfront – grüßte Stadler in einem Widmungsgedicht.

In mancher Stunde verwitterter Nacht,
Bevor ich wußte von deinem durchbluteten Wesen,
Habe ich dich erdacht und lebendig gemacht
Und deine Bruderverse mir vorgelesen.

Und als ich dich sah, atmend nah, hell und zu glühenden Worten gekühlt,
Wußte ich: Alles ist da! Alles lebt, was man mit Wünschen erfühlt!

„Halbfertiges Leben“ überschrieb Flake seinen Nachruf auf den toten Freund. Halbfertiges Leben? Ganz sicher im Hinblick auf die Dauer seiner Existenz; auf das schmale dichterische Werk bezogen, kann dies nicht gelten, denn „das ist das, was bleiben wird“.

Martin Reso, Nachwort, Herbst 1982

 

 

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