Ernst Toller: Poesiealbum 132

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ernst Toller: Poesiealbum 132

Toller/Hoffmann-Poesiealbum 132

ALP

Auf einer Stange morsch und faul
Hockt das Völkergewissen,
Um die Stange tanzen drei Kinderknochen,
Aus dem Leib einer jungen Mutter gebrochen,
Es blökt den Takt das Schaf bäh bäh.

 

 

 

 

Stimmen zum Autor

Alles ist Aufschrei, Bekenntnis, Deklamation. Zeit zur Reife war nicht gegeben.
Bodo Uhse

Er war ein junger, begabter Dichter; Rilke und Thomas Mann lobten seine Verse. Er hätte die Revolution im Gedicht preisen können. Doch er entschied sich anders: Er wurde einer der Führer der bayrischen Revolution… Die Kritiker sagten oft und wiederholen es bis heute, Toller hätte es an politischer Erfahrung gefehlt. Das sei unbestritten. Dafür besaß er im Überfluß Gewissen; eine unbequeme Eigenschaft, die sich immer am Besitzer rächt.
Ilja Ehrenburg

Verlag Neues Leben, Klappentext, 1978

 

Ernst Toller –

Opfergang für die Vision vom gütigen Menschen

Ernst Toller nahm sich 1939 im amerikanischen Exil das Leben. „Nicht, weil er schlechtere, sondern weil er feinere Nerven als seine Mitkämpfer gegen den Faschismus gehabt hatte“, wie es der Schriftsteller Sinclair Lewis damals in seiner Totenrede formulierte. Als Dramatiker der Weimarer Republik war Ernst Toller weltberühmt. Als politischer Mensch aber war er in eine Einsamkeit verstrickt, von der die meisten nichts ahnten. Die meisten Menschen sterben erst im letzten Augenblick. Das sind die Glücklichen. Zu ihnen gehörte Ernst Toller nicht. Er hatte schon jung, schon früh zu sterben begonnen.
„Ich fasse nicht das Leid, das der Mensch dem Menschen zufügt“, schrieb Ernst Toller als 30jähriger.

Sind die Menschen von Natur so grausam, sind sie nicht fähig, sich hineinzufühlen in die Vielfalt der Qualen, die stündlich, täglich Menschen erdulden?

Und:

Es gibt Stunden, da ich schreiend davonlaufen möchte vor entsetzlichen Bildern, die mich wie Visionen überfallen.

Die entsetzlichen Bilder – das waren seine Erlebnisse als Frontsoldat im Ersten Weltkrieg, sein Eintreten für die deutsche Revolution danach und seine Gefängnisstrafe von fünf Jahren, die er dafür abbüßen mußte, sein Kampf gegen den aufkommenden Faschismus aus der Haft heraus allein mit dem Wort und sein Scheitern.
Ernst Toller vertraute allein seinem Gewissen in gewissenloser Zeit. Von seinem Gewissen ließ er sich nichts abhandeln. Er ergriff Partei, aber ließ sich von keiner Partei vereinnahmen. Er war Sozialist. Die Rechten haßten ihn, und die Linken bekämpften ihn, weil er den Terror von rechts wie von links gleichermaßen ablehnte. Er handelte nach seiner pazifistischen Überzeugung und zahlte den Preis dafür. Er war gerade in seiner Art und ging deshalb ein Leben lang zugrunde. Er schöpfte sich aus und hinterließ eine Vision, die er im Dreck seiner Zeit nicht aufzugeben bereit war: die Vision vom gütigen Menschen. „Erkenne, daß du mit kleinen Menschlein, gutwilligen, böswilligen, gierigen, selbstlosen, kleinlichen, großmütigen kämpfst und versuch’s trotzdem“, schrieb er. Er war ein Deutscher und wurde ein Opfer der Deutschen. Hitlers Völkischer Beobachter sah in ihm den Liebling aller Zerstörer und Wühler, der das deutsche Volk korrumpierte. Seine Bücher wurden öffentlich verbrannt. Sein Name stand 1933 auf der ersten Ausbürgerungsliste der Nazis. Ihr Haß hatte lange Wurzeln. Sie reichten zurück bis in den Ersten Weltkrieg.
Deutschland 1914. Der 21jährige Schriftsteller Ernst Toller notiert:

Mobilmachung. An den Bahnhöfen schenkt man uns Karten mit dem Bild des Kaisers und der Unterschrift: „Ich kenne keine Parteien mehr.“ Der Kaiser kennt keine Parteien mehr, hier steht es Schwarz auf Weiß, das Land keine Rassen mehr, alle sprechen eine Sprache, alle verteidigen eine Mutter, Deutschland.

Der Autor dieser Zeilen ist Jude, Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns aus einer Kleinstadt in der deutschen Randprovinz Westpreußen. Aus dem Feld schreibt er an das Gericht seiner Heimatstadt, es möge ihn aus den Listen der jüdischen Gemeinschaft streichen. Er sei Deutscher, nichts als Deutscher. Deutschland 1915. Der 22jährige Schriftsteller Ernst Toller notiert:

In der Waldlichtung aus den Gräbern der Soldaten sprießt Gras. Die Grabdecke ist zu dünn, von einem Soldaten hat der Regen die Erde weggespült, die seine Füße bedeckte. In den Stiefeln verwesen Beine, die marschiert sind über die Felder Rußlands und Frankreichs, sie haben Stechschritt gelernt, sie konnten in Eilmärschen die Stellung wechseln und sich gegen den Boden stemmen, wenn es galt, ein Stück Stacheldraht zu verteidigen, sie waren mehr wert als ein Kopf und weniger als ein Gewehr. Millionen Beine verwesen in der Erde Europas.

Deutschland 1916. Der 23jährige Schriftsteller notiert:

Ich melde mich zum Fliegerkorps, nicht aus Tapferkeit, nicht einmal aus Lust am Abenteuer. Ich will aus der Masse ausbrechen, aus dem Massenleben, aus dem Massensterben. Bevor ich zur neuen Truppe versetzt werde, erkranke ich. Magen und Herz versagen. Ich komme ins Lazarett nach Straßburg. Nach vielen Wochen werde ich entlassen. Ich bin kriegsuntauglich.

Der Autor dieser Zeilen wird in Heidelberg Student der Philosophie. Die meisten Studenten sind Krüppel und Kranke, die der Krieg freigab.
Deutschland 1917. Der 24jährige Toller notiert:

Alle schweigen. Wer wird endlich sprechen? Vielleicht der Dichter der Weber, Gerhart Hauptmann? 1914 hatte ihn das Fieber der Zeit verwirrt, Kriegshymnen dichtete er und Soldatenlieder. Jetzt, nach diesen Jahren des Mordens, muß er sich gefunden haben. Ich schreibe ihm einen Brief. Sie dürfen nicht länger schweigen. Ihr Werk verpflichtet Sie, wir jungen Menschen warten auf ein Wort eines geistigen Führers, an den wir glauben. Ihr Wort wirkt mächtiger als der Appell der Generale, es wäre der Ruf zum Frieden. Keine Antwort kam von Gerhart Hauptmann.

Deutschland 1918. Der 25jährige Schriftsteller Ernst Toller notiert:

Die Arbeiterbewegung und ihre Ziele waren mir fremd bisher, auf der Schule hat man uns gelehrt, daß die Sozialisten den Staat zerstören, daß ihre Führer Schurken seien, die sich bereichern wollen, jetzt lerne ich zum erstenmal einen Arbeiterführer kennen, Kurt Eisner.

Kurt Eisner, Gründer der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in München, hatte vor dem Krieg gewarnt. Jetzt, wo die Not in Deutschland wächst, wird er gehört. Der junge Schriftsteller schließt sich ihm an. Er will seinen Beitrag leisten, die Politik zu ethisieren. Pazifismus ist das Wort der Stunde. Das Volk will Frieden. Auf der Theresienwiese in München spricht der Vorsitzende der bayerischen SPD, Erhard, Auer:

Der Kaiser hat abgedankt. Zugunsten des Kronprinzen. Der Kronprinz wird demnächst den Thron besteigen. So ist alles gelöst. Und jetzt rate ich euch, Genossen, Ruhe und Ordnung zu bewahren und in gewohnter Disziplin nach Hause zu gehen.“ 120.000 Genossen gehen nicht. Sie jubeln der Rede Kurt Eisners zu: „Nein, ihr werdet nicht nach Hause gehen. Das Volk hat genug gelitten. Wir wollen weder einen Kronprinzen noch einen Bundesfürsten. Wir wollen die Republik.

Eisner ruft seinen politischen Freund Toller nach München.
In Kiel beginnen Zehntausende von Munitionsarbeitern zu streiken. Die Matrosen verbünden sich mit ihnen. Der Aufruhr greift auf Berlin über. Soldaten und Arbeiter befreien sich von der Herrschaft des Kaisers, dessen Kriegspolitik die SPD mit der Bewilligung von Krediten gestützt hat. Als Trittbrettfahrer der Revolution gelingt es der SPD, die sich mit den reaktionären Militärs verbündet, diese Revolution im Keim zu ersticken. Philipp Scheidemann ruft die „bürgerliche“, Karl Liebknecht die sozialistische Republik aus. In der Niederlage lassen die verantwortlichen Militärs den Arbeitern den Vortritt. In den Wirren jener Tage wird Ernst Toller in München verhaftet. Der Grund:

Ich gehe in die Streikversammlung, ich möchte helfen, irgend etwas zu tun, ich verteile, weil ich glaube, daß diese Verse, aus dem Schrecken des Krieges geboren, ihn treffen und anklagen, Kriegsgedichte, Lazarett- und Krüppelszenen aus meinem Drama Die Wandlung.

In den Hafttagen liest er zum erstenmal Marx, Engels und Rosa Luxemburg, er schreibt seinen Gedichtzyklus „Lieder der Gefangenen“. Er wird freigelassen und erlebt, wie Kurt Eisner zum Ministerpräsidenten von Bayern ernannt wird und in der ersten republikanischen Wahl verliert. Auf dem Weg zum Landtag wird Eisner, der seinen Rücktritt erklären will, am 21. Februar 1919 auf offener Straße von dem Grafen Arco-Valley erschossen, der dem völkischen Thule-Bund angehört. Die meisten Parlamentarier fliehen aus München. Der Sozialdemokrat Hoffmann wird in Nürnberg zu Eisners Nachfolger gewählt. München ist ohne Führung. In Berlin sind Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet worden. Der sozialdemokratische Reichswehrminister Gustav Noske läßt die ihm unterstehenden reaktionären Freikorps auf rebellierende Arbeiter schießen. In dieser Situation ergreifen in Bayern die Arbeiter- und Soldatenräte die Macht. Die Bayerische Räterepublik wird geboren. Sozialdemokraten stellen sich ihr zur Verfügung, springen dann wieder ab. Ministerpräsident Hoffmann schreibt eine Postkarte an den Vorsitzenden des Zentralrats, ob die Räterepublik den alten Ministern Pensionen zahle.
Ernst Toller verabscheut die Gewalt und wird doch in sie verstrickt. Er wird Revolutionär und lebt die bis dahin unbeantwortete Frage:

Wie kann sich der Revolutionär mit seinem Anspruch auf absolute Sittlichkeit gegen die Revolution mit ihrer Eigengesetzlichkeit der Gewalt behaupten?

In Berlin ist der Rätegedanke bereits verworfen worden. Ernst Toller sieht im Beginn des Münchner Experiments schon das Scheitern, sieht die Uneinigkeit der Führer der Linken, will vermitteln, kann sich nicht durchsetzen und wird selbst zum Vorsitzenden des Zentralrats gewählt. Der Dichter als Regierungschef – in seiner Verfügung die Macht und, was sich nicht abspalten läßt, die Gewalt der Macht.
Die Truppen des Reichswehrministers Noske marschieren auf München. Ernst Toller bemüht sich um Verhandlungen mit der Regierung Hoffmann, die inzwischen in Bamberg sitzt. Die Generäle in Bamberg fordern die bedingungslose Übergabe Münchens. Die Zufahrtswege nach München werden abgeschnitten. Der Bamberger Regierung ist es nicht leicht gefallen, Freiwillige zum Marsch gegen die Räterepublik zu finden.
„Da setzt die Propaganda ein“, erinnert sich Toller später, „Schauergeschichten über die Pläne der Münchner Regierung werden verbreitet, den Bauern wolle sie Haus und Vieh rauben, den Bürgern die Sparpfennige wegnehmen, die Familie zerstören, die Priester ermorden, die Klöster plündern. Die Wirkung solcher Propaganda steigerte man durch das Versprechen hoher Kampfzulagen.“
Das ist damals sozialdemokratische Politik gewesen. In Berlin findet die SPD die Unterstützung der bürgerlichen Presse. Tatarennachrichten werden verbreitet: Die Räterepublik habe die Weiber sozialisiert. Rotgardisten hätten den Münchner Hauptbahnhof aus Lust und Tollerei in Brand geschossen. Und nicht nur das: In der Münchner Ludwigstraße hätten sie Schießübungen auf lebende Ziele veranstaltet, Mädchen vergewaltigt, Frauen die Brüste abgeschnitten. Nichts davon stimmt. Die Räterepublik ist aus einer unblutigen Revolution hervorgegangen. Doch die Greuelpropaganda wirkt draußen, wirkt außerhalb Münchens. Die bayerischen Bauern sperren die Nahrungsmittelzufuhr. Und Ernst Toller schreibt später:

Wie immer in der deutschen Revolution bleiben die großzügigen sozialistischen Wirtschaftspläne Papier, die Unzufriedenheit der Arbeiter wächst, sie haben gehofft, die Revolution werde ihnen rasche Hilfe bringen.

Ernst Toller ordnet die Bewaffnung der Arbeiter an. In der Stunde der Konfrontation mit den Freikorps wehrt sich der Pazifist gegen das Blutvergießen, sucht den Waffenstillstand. Vergebens. Er setzt Revolutionstribunale ein. Die Anklagevertretung weist er per Verordnung Frauen zu. Das Standgericht bestätigt Toller später, daß die Gerichte „mit größter Umsicht, Milde und Wohlwollen vorgegangen sind und hierdurch eine Reihe von Blutopfern verhindert“ haben. Beide Maßnahmen – Bewaffnung des Proletariats und Reorganisierung der Justiz – sollen den Weg andeuten, der zum Sozialismus führen könnte. Die SPD, die in Berlin regiert, hat diese Macht abgetreten, noch ehe sie von ihr Gebrauch machen kann: durch das Bündnis mit den reaktionären Militärs und einer ebenso reaktionären Justiz, die mit ihren Urteilen – wie sich zeigen sollte – das „Dritte Reich“ vorbereiten hilft.
In München putschen Anhänger der Hoffmann-Regierung. Der Putsch wird von den Kommunisten niedergeschlagen. Die Kommunisten übernehmen die Führung in der Räterepublik. Ernst Toller wird von ihnen festgenommen und wieder freigelassen. Später wird er schreiben:

Muß der Handelnde schuldig werden, immer und immer? Oder, wenn er nicht schuldig werden will, untergehen?

In den letzten Tagen der Räterepublik verpflichten die Vertrauensleute der Münchner Arbeiter den Schriftsteller als ihren Kommandanten:

Oana muß sein Kohlrabi herhalten, sonst gibts an Saustall, und wennst nix vastehst, wirst es lerna, die Hauptsach ist, dich kennen wir.

Resignation, Verzweiflung und Empörung wachsen in München. Empörung, als bekannt wird, daß die Freikorps 42 von Toller entlassene russische Kriegsgefangene ermordet haben; daß zwölf Arbeiter, die vor München als Sanitäter ausgebildet wurden, erschossen worden sind. Zehn Mitglieder des Thule-Bundes, eines antisemitischen Germanen-Ordens, die wegen Ausweisfälschung in München inhaftiert sind, werden nun als Geiseln behandelt. Toller will Racheakten zuvorkommen, eilt zum Gefängnis und sieht, wie die Geiseln erschossen dort liegen. Neue Geiseln treffen ein, Toller befreit sie.
Der Schriftsteller lehnt sich gegen die Untergangsstrategie der Kommunisten auf, die kämpfend die Niederlage zu einem moralischen Sieg machen wollen. Er zieht an verschiedenen Stellen der Stadt Truppen zurück, kann aber nicht verhindern, daß an anderen gekämpft wird. Nach der Einnahme Münchens richten die Truppen des Sozialdemokraten Noske ein Blutbad an. Das Räteexperiment ist nach knapp einem Monat gescheitert. Mehr als 1.000 Arbeiter werden von den Freikorpsmännern erschlagen oder erschossen. Unter ihnen der pazifistische Schriftsteller Gustav Landauer, dessen Grab die Nazis 1933 niederreißen werden, ohne daß es die Stadt München bis heute wieder hergestellt hat.
Den mordenden und marodierenden Truppen dankt der Reichswehrminister Noske in einem Telegramm an den Oberbefehlshaber der Aktion:

Für die umsichtige und erfolgreiche Leitung der Operationen in München spreche ich Ihnen meine volle Anerkennung aus und den Truppen meinen herzlichen Dank.

Zu den Truppen gehört das Freikorps des Generals Ritter von Epp, in dessen Stab als Hauptmann Ernst Röhm, Hitlers späterer Stabschef der SA, dient; dort befindet sich die berüchtigte Brigade Ehrhardt, befindet sich das von der Thulegesellschaft organisierte Freikorps Oberland.
Ernst Toller wird von der Schauspielerin Tilla Durieux versteckt. Auf seine Ergreifung sind 10.000 Mark Kopfprämie ausgesetzt. Toller muß seine Verstecke dauernd wechseln. Hausdurchsuchungen bei seinen Freunden zwingen ihn dazu. Er kommt bei einem Maler in einem Gartenhaus unter. Der Schriftsteller färbt sich das Haar rot. Ein Kriminalbeamter, den man für Toller hält, wird erschossen. Und dann finden seine Häscher ihn doch. Versteckt in einem Erker, hinter einer Tapetentür. Vier Wochen nach dem Ende der Räterepublik. Einen Monat später, Anfang Juli 1919, wird ihm wegen Hochverrats der Prozeß gemacht. Wie dem Literaten Eugen Levine, dem Kommunisten, der bereits hingerichtet ist, droht auch ihm die Todesstrafe. Doch diesmal sieht sich die Justiz einem Hagel von Protesten gegenüber. Politiker und Schriftsteller ergreifen für den Autor des Antikriegsdramas Die Wandlung Partei. Der berühmte Romain Rolland erhebt für Toller in Frankreich seine Stimme. Carl Hauptmann, Max Halbe, Thomas Mann und Bjern Bjernson, prominent und der Linksabweichung unverdächtig, erscheinen vor Gericht. Ehemalige Regimentskameraden rühmen den Angeklagten als „unerschrockenen, aufopferungsbereiten Kameraden“ im Krieg.
Tollers Verteidiger Hugo Haase sagt in seinem Plädoyer:

Es ist ein unfaßbarer Gedanke, daß die Revolutionäre von gestern die Revolutionäre von heute wegen Hochverrats vor die Richter ziehen können, die zum Schutze der ursprünglichen monarchischen Verfassung eingesetzt worden sind. Es ist ein Nonsens, daß die Regierung, die selbst durch eine Revolution zur Herrschaft gekommen ist, diejenigen als Hochverräter ins Zuchthaus oder gar aufs Schafott schickt, die nichts anderes tun, als sie selbst getan hat.

Toller bekennt sich in seinem Schlußwort zur Revolution:

Meine Herren Richter, Sie werden nicht von mir verlangen, daß ich nach meinen Anschauungen vom Standgericht Gnade erbitte. Glaubt man dadurch, daß man einige Führer erschießt oder ins Gefängnis schickt, die gewaltige, revolutionäre Bewegung der ausgebeuteten, werktätigen Bevölkerung der Erde eindämmen zu können?… Das werktätige Volk macht nicht eher halt, bis der Sozialismus verwirklicht ist. Es weiß, daß angesichts der zerrütteten wirtschaftlichen Zustände kleinbürgerliche Reformen das Chaos nicht mehr aufhalten können, daß wir zum Chaos kommen, wenn wir nicht einschneidende wirtschaftliche Umgestaltungen vornehmen. Meine Herren! Ich bin überzeugt, daß Sie von Ihrem Standpunkt aus nach bestem Recht und Gewissen das Urteil sprechen. Aber nach meinen Anschauungen müssen Sie mir zugestehen, daß ich dieses Urteil nicht als ein Urteil des Rechts, sondern als ein Urteil der Macht hinnehmen werde.

Das Standgericht verurteilt Toller zu fünf Jahren Festungshaft und schickt ihn ins Zuchthaus Niederschönenfeld. Ein halbes Jahr später will ihn der bayerische Justizminister begnadigen. Tollers dramatischer Erstling Die Wandlung ist in Berlin uraufgeführt worden und macht Furore. Theater als Rückzugslinie der Revolution, Theater als Widerstand gegen politischen Opportunismus. Die Tribüne, ein Theaterkollektiv, feiert einen ihrer größten Triumphe. Hauptdarsteller ist Fritz Kortner. Ernst Toller lehnt es ab, nur aufgrund dieses Bühnenerfolges vorzeitig entlassen zu werden. Er will sein und seiner Haftgefährten Recht, nicht Gnade. So sitzt er seine vollen fünf Jahre ab.
In der Festungshaft schreibt Toller seine Theaterstücke Masse Mensch (1919), Die Maschinenstürmer (1921), Hinkemann (1922), die Aufführung für Aufführung Triumph und Skandal in der Weimarer Republik auslösten. Die rechte Presse bezeichnet den Autor als einen Kultur-Bolschewisten, der nur „scheeläugigen Haß und klassenpolitische Verhetzung“ predige, die linke Presse nennt Tollers Stücke „ideologisch konfus“, weil die sozialistischen Helden in den Werken nicht positiv genug wegkommen. Angepöbelt von rechts und von links, wird Toller dennoch der Protagonist des politischen Theaters, lange vor Bertolt Brecht.
Sein literarisches Werk ist eine ständige Suche nach dem gütigen Menschen. „Ich will die Verbitterten sammeln“, sagt er. „Die Verbitterten sind die wahren Opfer, sie geraten immer in falsche Hände, und es sind meistens die Hände derer, die an ihrer Bitterkeit schuld sind. Man sollte dabei keinen Unterschied der Klassen machen; es ist so viel Mechanisches in der Theorie, die uns alle nach unserem Bankkonto oder nach unserem Arbeitsplatz einteilen will. Ich will Menschen helfen. Nicht die Reichen anspucken oder den Armen lobhudeln.“ An diese Worte Tollers erinnert sich der Schriftsteller Gustav Regler in seinem Buch Das Ohr des Malchus. Und er erinnert sich an seine Skepsis, die er diesen Worten entgegengebracht hat. Ernst Tollers damalige Reaktion:

Gut, Sie bestreiten das. Sie sagen, daß die Reichen durch ihr Geld verdorben sind. Ganz recht! Wie die Armen durch ihre Not. Es hebt sich auf. Was wir tun müssen, ist, die zusammenzubringen, die noch nicht verdorben sind; wo der Kern noch nicht faul ist; wo jede Begegnung das Heil bringen kann.

Die Revolution bleibt für Toller nur unter der Voraussetzung einer allgemeinen menschlichen Wandlung möglich, die beim Einzelnen beginnt. In seinem Stück Die Wandlung schickt die Hauptfigur Friedrich die Kolonnen der Revolution erst aus, als das Volk erkannt hat:

Wir sind doch Menschen!

Da sagt Friedrich:

Nun, Ihr Brüder, rufe ich Euch zu: Marschiert! Marschiert am lichten Tag! Nun geht hin zu den Machthabern und kündet ihnen mit brausenden Orgelstimmen, daß ihre Macht ein Truggebilde sei. Geht hin zu den Soldaten, sie sollen ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden. Geht hin zu den Reichen und zeigt ihnen ihr Herz, das ein Schutthaufen ward. Doch seid gütig zu ihnen, denn auch sie sind Arme, Verirrte. Aber zertrümmert die Burgen, zertrümmert lachend die falschen Burgen, gebaut aus Schlacke, aus ausgedörrter Schlacke.

Der junge Bertolt Brecht, der später „Erlösung“ im engen, vorbehaltlosen Anschluß an die marxistische Weltanschauung findet, notiert über Tollers Die Wandlung:

Der Mensch als Objekt, Proklamation, statt: als Mensch. Der abstrahierte Mensch, der Singular von Menschheit. Seine Sache liegt in schwachen Händen!

Und Ernst Toller schreibt an den Schriftsteller Stefan Zweig aus dem Gefängnis, daß er „schmerzhaft die tragische Grenze aller Glücksmöglichkeiten sozialer Revolution“ erkannt habe:

Darum wird die Tragödie niemals aufhören. Auch der Kommunismus hat seine Tragödie. Immer wird es Individuen geben, deren Leid unlösbar ist. Die Antike kannte den prometheischen Helden, der glaubte, das Schicksal bezwingen und alles Leid aufheben zu können; in unserer Zeit ist an die Stelle des einzelnen Helden eine ganze Klasse getreten. Ich sage das nicht aus Resignation. Nur der Schwache resigniert, wenn er sich außerstande sieht, dem ersehnten Traum die vollkommene Verwirklichung zu geben. Dem Starken nimmt es nichts von seinem leidenschaftlichen Wollen, wenn er wissend wird. Not tun uns heute nicht die Menschen, die blind sind im großen Gefühl, not tun uns, die wollen – obwohl sie wissen.

Schon im zweiten Gefängnisjahr – 1920 – sieht Ernst Toller, was auf Deutschland zukommt:

Alle Zeichen deuten auf eine militärische Diktatur. Ich habe manchmal das Gefühl, als ob ich aufschreien müßte wider diese Zeit, um mich von den lebendigen Nachtmahren zu befreien, die in ungeheuerlichem Gewimmel der Brutalität, der Haßorgien, der völligen Nichtachtung des Lebens, der Seelenlosigkeit mich umschwirren. Die Katastrophe scheint unaufhaltsam.

Toller spricht von der „katastrophalen Zersplitterung der Arbeiterschaft“, dem „Minuten-Opportunismus der Sozialdemokraten“, der „Blindheit der Extremisten“. Hellsichtig erkennt er die Gefahr vor den meisten anderen:

Um den Mann Adolf Hitler scharen sich unzufriedene Kleinbürger, frühere Offiziere, antisemitische Studenten und entlassene Beamte. Sein Programm ist primitiv und einfältig. Die Marxisten und Juden sind die inneren Feinde und an allem Unglück schuld, sie haben das unbesiegte Deutschland hinterrücks gemeuchelt und dann dem Volk eingeredet, Deutschland hätte den Krieg verloren. Hitler stachelt das Volk zu wütendem Nationalismus auf.

In der Haft studiert Toller nationalökonomische und soziologische Werke. Er sucht nach Wegen, um den inneren Zwiespalt zwischen Ethik und Politik zu überwinden. Sein Schluß:

Wer heute auf der Ebene der Politik, im Miteinander ökonomischer und menschlicher Interessen kämpfen will, muß klar wissen, daß Gesetz und Folgen seines Kampfes von anderen Mächten bestimmt werden als seinen guten Absichten, daß ihm oft Wehr und Gegenwehr aufgezwungen werden, die er als tragisch empfinden muß, an denen er im tiefen Sinn des Wortes verbluten kann.

Er warnt vor der Vergötzung des Arbeiters:

Am unduldsamsten sind gewisse byzantinische Intellektuelle, sie vergötzen den Proletarier, sie treiben einen förmlichen Kult mit ihm und lehren ihn die Verachtung der Intellektuellen.

Er schreibt:

Heute sehen wir ein willenstarkes, seiner Ziele bewußtes, organisiertes Bürgertum und eine Arbeiterschaft, die Enttäuschungen, Not, Verrat lähmen, die nicht mehr ihren Willen spannt, die in gefährlicher Lethargie sich Recht um Recht nehmen läßt, die ihre eigene Organisation schwächt.

Er kritisiert die Kommunisten, die die Massen als ihr Eigentum betrachten, er greift den „Banal-Optimismus“ der Ultralinken an. Er bemängelt bei der SPD das „vorsichtige Hin- und Herlavieren“, das als „Realpolitik“ ausgegeben wird und nichts als Orientierungslosigkeit ist. Er sieht „den Weg ins Dunkel münden“ und kämpft schreibend aus der Kraft der Verzweiflung. Kunst aus dem äußersten Grenzbereich menschlicher Aussagemöglichkeit.
Ernst Toller wird mit Schreibverbot belegt, Pakete darf er nicht empfangen, Besuche werden nicht gestattet, der Hofgang wird ihm immer wieder gestrichen. Bettenentzug, Kostentzug, Bücherentzug sind an der Tagesordnung. Toller wehrt sich mit Hungerstreik. „Da wir abends kein Licht brennen durften“, schreibt er, „kam es vor, daß ich mit der Decke das Tischgestell abblendete, unter den Tisch kroch und dort beim Licht einer eingeschmuggelten Kerze meine Szenen schrieb.“ So entsteht seine Komödie Der entfesselte Wotan, in der er 1923 in der Figur eines besessenen Friseurs die Karriere Adolf Hitlers mit einer Genauigkeit vorwegnimmt, als sei das Stück erst nach 1945 geschrieben.
Das Schwalbenbuch entsteht, eine lyrische Geschichte dieser Vögel, die in seiner Zelle nisten. Die Zuchthausdirektion läßt das Schwalbennest vernichten, und als die Schwalben aufs neue nisten, das neue Nest und das dritte, bis die Schwalbe stirbt:

Am Morgen, wenn der Wächter kommt,
Schreck ich zusammen.
Entdeckt er das Nest,
Reißt ers mit harter Gebärde zu Boden.
O im vorigen Sommer der Kriegszug auf junges Getier!
Gegen Dachrinnen, Firste marschierte man Sturm.
Als ich zum Hof ging,
Ging ich über ein Schlachtfeld.

Hilflos kreisend die klagenden Mütter.

Paragraph X: Es widerspricht dem Strafvollzug,
Vögel zu dulden im Hause der Buße.
Menschen Menschen

*

Wo soll ich Euch eine Stätte bereiten, Vögel der Freiheit?
Ich bin ein Gefangener, und mein Wille ist nicht mein Wille.
Sing ich ein Lied der Freiheit, meldet der Wächter:
Der Gefangene sang ein revolutionäres Lied.
Das dulden die Paragraphen nicht.
Mächtige Herren sind die Paragraphen,
aaaaadie die Menschen über sich setzten,
aaaaaweil sie den Sinn verloren.
Ruten tragen sie in Händen. Die Menschen sagen:
Ruten der Gerechtigkeit.
Dieses Hauses Ruten heißen: Einzelhaft Bettenentzug
Kostentzug Hofverbot Schreibverbot
Sprechverbot Singverbot Leseverbot
Lichtverbot Zwangsjacke.

Ihr, meine Schwalben, wißt nichts von Gerechtigkeit
und nichts von Ungerechtigkeit.
Darum wißt Ihr
auch nichts von Paragraphen und von Ruten…

Die Verbreitung des Schwalbenbuches soll verhindert werden, weil es „dem Strafvollzug Nachteile“ bereiten würde. Es wird herausgeschmuggelt und erscheint doch. Ernst Toller:

Ich glaube nicht mehr an Wandlung zu neuem Menschentum. Jede Wandlung ist Faltung und Entfaltung. Tiefer als je spüre ich den Sinn des tragischen und gnädigen Wortes: Der Mensch wird, was er ist.

Und, scheinbar kontrapunktisch:

Ich glaube nicht an die ,böse Natur‘ des Menschen. Ich glaube, daß er das Schrecklichste tut aus Mangel an Phantasie und Trägheit des Herzens.

Am 15. Juli 1924 wird er aus der Haft entlassen und fährt zu seiner Mutter nach Landsberg/Warthe:

Es ist merkwürdig. Meinem Leben stand sie fremd gegenüber, daß sie meine Ideen nicht teilte, tat mir weh. Ich glaube, ich ließ sie es fühlen. Nun merke ich, wie unwesentlich für sie mein Weg ist, den sie nicht begreift. Sie liebt mich.

Nicht weit von Landsberg, in Samotschin bei Posen, ist er geboren. Die Deutschen dort haßten die Juden. Die Juden strebten danach, Deutsche zu sein. Juden und Deutsche standen als Kolonisatoren gegen die Polen, die wiederum diese Einwanderer haßten.
Ernst Toller ist in einer latenten Pogromstimmung aufgewachsen. Sein Urgroßvater kam aus Spanien, erhielt von Friedrich dem Großen einen Schutzbrief, besaß ein Gut und begründete den Wohlstand der Familie. Der Sohn des Nachtwächters war Tollers Freund. In seinem Buch Eine Jugend in Deutschland, das am Tage der Bücherverbrennung in einem holländischen Exilverlag erscheint, erinnert sich der Schriftsteller:

Wenn die anderen ,Polack‘, schreien, schrei ich auch ,Polack‘, er ist trotzdem mein Freund.

Sein Freund Stanislaus wohnt in einer Lehmhütte, sie sind zu elft bei Tisch, es gibt entweder Pellkartoffeln und Grützsuppe oder Pellkartoffeln und Hering. „Warum essen sie bei Stanislaus Pellkartoffeln, und wir haben Braten?“ fragt Toller als Junge seine Mutter. Und die Mutter antwortet:

Weil Gott es will.

Ernst Toller erinnert sich, wie er und Stanislaus den Bauarbeitern zusehen. Stanislaus sagt:

Sie dürfen hier nicht graben, es ist polnische Erde. Die Deutschen haben sie gestohlen. Aber laßt sie nur graben, hier unten, wo sie graben, hundert Meter tief, wartet der polnische König. Wenn es soweit ist, setzt sich der König aufs Pferd, reitet nach oben und verjagt euch alle. Dich auch.

Nach der Volksschule hat Toller Stanislaus aus den Augen verloren. Sein Abitur macht er in Bromberg, sein Studium beginnt er in Grenoble, um von dort zu den Fahnen zu eilen, als der Erste Weltkrieg ausbricht.
Das war seine Kindheit und Jugend. Jetzt, wo er fünf Jahre Haft hinter sich hat, ist er 30 Jahre alt, ein gezeichneter Mann mit grauen Haaren. Und er ist ein weltberühmter Autor. Seine Bücher sind in 27 Sprachen übersetzt. In Berlin wird er von seinem Freund Ernst Niekisch aufgenommen. Der sagt:

Toller hungerte und dürstete nach pulsierendem Leben. Es war, als wollte er rasch nachholen, worauf er so lange hatte verzichten müssen. Verehrerinnen zogen ihn an sich und machten es ihm leicht, Genüsse in vollen Zügen zu kosten.

Ernst Toller erinnert sich:

Es gibt auch ,Freunde‘, die nehmen mir übel, daß ich ,saß‘. Andere sind wieder gekränkt, wenn ich nicht immer leide‘. Etliche verlangen, ich müßte in Manchesterhosen und Werkstattkitteln herumlaufen. Sie erinnern mich an jene skrupellosen Bourgeois, die einem Sozialisten ehrlose Gesinnung vorwerfen, wenn sie ihn einmal ein Glas Wein trinken sehen.

Nach dem Aufenthalt bei Niekisch stellt ihm die Frau des Kaufhausbesitzers Tietz ihre Villa zur Verfügung. Toller fühlt sich in dem herrschaftlichen Haus, über dessen Portal die Statue des Eisernen Kanzlers Bismarck mit Lederlatz, Amboß, Zuschlaghammer und Schwert thronte, so einsam, daß er seinem Freund Walter Hasenclever, dem Schriftsteller, telegrafiert, mit einzuziehen. Beide laden auf den goldumrandeten, gehämmerten Karten der Familie Tietz die Hautevolee des Berliner Westens zur Party ein. Nach der Gästeliste, die Frau Tietz auf dem Schreibtisch hat liegen lassen. Große Garderobe wird zur Pflicht gemacht. Die Herrschaften kommen. Alles, was Rang und Namen hat. „Klotzig“, sagt einer, „die beiden Proleten! Wollen doch mal sehen, was sie bieten?“ Geboten werden „Henckell trocken“ und Kartoffelpuffer. Großes Entzücken über diese ungewöhnliche Zusammenstellung. Man ißt, man trinkt – und plötzlich ist das Fiasko da. Drei Toiletten. Und hundert Gäste müssen auf einmal. Was sie nicht bemerkt haben, Toller und Hasenclever hatten die Kartoffelpuffer in Rizinusöl gebacken. Die Folgen sind katastrophal. Die Parkanlagen müssen in der Eile aufgesucht werden. Die Garderoben leiden dabei in grüner Landschaft wie ihre Träger. Die Geschichte ist das Gespräch des nächsten Tages in Berlin. Die Leute von der Müllabfuhr verbreiten die Nachricht, daß Berlins Bonzen verscheißert worden sind. Die bürgerliche Presse schweigt über den Durchfall.
Ernst Toller hat Spaß an Späßen gehabt. Doch wenig Zeit dafür. Nach seiner Haftentlassung ist der Sozialist Toller nicht in die SPD und auch nicht in die KPD eingetreten. Die USPD, seine alte Partei, gibt es nicht mehr. Toller schließt sich wie Kurt Tucholsky und Walter Mehring der Gruppe revolutionärer Pazifisten an. Als politischer Schriftsteller wendet er sich gegen die Zersplitterung der Linken, warnt vor Hitler und plädiert für eine gesamtlinke Solidarität, mit der die von ihm prophezeite Diktatur verhindert werden könnte. In Plakataktionen fordert er zusammen mit dem Physiker Albert Einstein, der Malerin Käthe Kollwitz, den Schriftstellern Arnold Zweig, Heinrich Mann, Erich Kästner, Theodor Plivier das Zusammengehen von SPD und KPD.
Er sieht die weltanschauliche Lethargie des Kleinbürgertums und schreibt das Hörspiel Berlin, letzte Ausgabe. Da blättert ein gelangweilter Kaffeehausgast wahllos in den verschiedensten Zeitungen:

Vor hundert Jahren geriet eine Stadt in Aufregung, wenn eine Scheune brannte… Heute?… Die Menschen lesen nach dem Abendbrot ihre Zeitungen, gähnen und legen sich ins Bett… Vom Leiden der andern fühlen – nee, so genau wolln wir das gar nicht wissen… So sind die werten Mitbürger.

Seine Erfahrungen mit der neugewonnenen Freiheit hält Toller in der Komödie Hoppla, wir leben fest, die Piscator zum Theatertriumph führt. Es ist die erste Auseinandersetzung mit den Zuständen der Weimarer Republik auf der Bühne. Die „Ahnung vom tragischen Grund“ allen Lebens ist Tollers Thema. Er schreibt:

Wir alle werden einsam sterben, umgeben von Freunden. Das ist das tragische Schicksal der Menschen unserer Zeit, die nicht nur die göttliche Gemeinsamkeit entbehren, die eine Gemeinsamkeit, wenn sie sich auftun möchte, nie ertragen können. So arm sind die Menschen in Europa geworden.

Seine Prophezeiung von der Machtübernahme der Nazis tritt ein. In der Nacht des Reichstagsbrandes stürmen SA-Leute seine Wohnung, um ihn wie viele andere umzubringen. Doch Toller befindet sich auf einer Vortragsreise in der Schweiz. Es ist der Beginn seines Exils. Er reist weiter nach Frankreich, England und in die USA, setzt seinen Kampf gegen Hitler fort. Schon 1930 hat Toller die Ereignisse von 1933 exakt vorausgesagt:

Reichskanzler Hitler wird die Errungenschaften der Sozialdemokratie, auf die die Partei stolz ist, mit einem Federstrich beseitigen. Über Nacht werden alle republikanischen, sozialistischen Beamten, Richter und Schupos ihrer Funktionen enthoben sein, an ihre Stelle werden faschistisch zuverlässige Kader treten. Geschieht heute nichts, stehen wir vor einer Periode des europäischen Faschismus, einer Periode des vorläufigen Untergangs sozialer, politischer und geistiger Freiheit, deren Ablösung nur im Gefolge grauenvoller, blutiger Wirren und Kriege zu erwarten ist.

Es war nichts geschehen. Und im Ausland wird die Gefahr weiter unterschätzt. Auf dem PEN-Club-Kongreß 1933 in Dubrovnik verläßt nicht nur die von den Nazis ausgesuchte deutsche Delegation den Saal, als Toller die Diskussion über Gesinnungsterror und Menschenjagd in Deutschland eröffnet, es gehen auch die Delegationen der Schweiz, Österreichs und Frankreichs. Tollers aufrüttelnde Rede wird dennoch in vielen Ländern der Welt gedruckt, nur nicht in Deutschland.
Und gedruckt wird auch Tollers „Offener Brief an Herrn Goebbels“.

Es genügt Ihnen nicht, die zu quälen“, heißt es da, „die Sie in Ihre Gefängnisse und Konzentrationslager kerkern, Sie verfolgen selbst die Emigranten durch die mannigfaltigen Mittel Ihrer Gewalt. Sie wollen sie, um in Ihrer Sprache zu reden, geistig und physisch, brutal und rücksichtslos vernichten! Was ist der Grund so abgründigen Hasses? Diese Männer glauben an eine Welt der Freiheit, der Menschlichkeit, sozialen Gerechtigkeit, diese Männer sind wahrhafte Sozialisten, Kommunisten, Pazifisten oder gläubige Christen, diese Männer sind nicht gewillt, die Stimme der Wahrheit zu verleugnen und der Macht sich zu beugen!

Überall, wo deutsche Flüchtlinge Hilfe benötigen, ist Toller zu finden. Er verhandelt mit den Arbeitsministerien in England und Frankreich, um den Flüchtlingen Ausweise und Arbeitserlaubnis zu verschaffen. 1936 reist er erneut in die USA und hält rund 50 öffentliche Ansprachen von New York bis San Francisco. Aber niemand nimmt seine Warnungen wirklich ernst. Nach Beendigung der Vortragsreise arbeitet Toller an Drehbüchern für Metro-Goldwyn-Meyer. Dann fährt er ins Spanien des Bürgerkrieges. Er sieht die Leiden der Zivilbevölkerung und leitet – völlig auf sich gestellt – eine der größten Hilfsaktionen jener Jahre ein. Über Rundfunk appelliert er an US-Präsident Roosevelt, den Hungrigen auf beiden Seiten in Spanien mit Spenden zu helfen. In Gesprächen mit Regierungsstellen in England, Schweden, Norwegen und Dänemark erreicht er es, daß ihm Millionenbeträge zur Verfügung gestellt werden. Erste Geldsummen gehen nach Spanien. Toller erfährt, daß dieses Geld in die Hände Francos gefallen ist und für Kriegsmaterial benutzt wird.
Im Frühjahr 1939 sind die spanischen Republikaner besiegt. Die Diktatur Francos ist mit Hilfe der Nazis aufgerichtet. Ernst Toller ist verzweifelt. Er nimmt kaum noch zur Kenntnis, daß Berge von ihm gesammelter Nahrungsmittel nun Tausenden spanischen Flüchtlingen in Frankreich zugute kommen. Wieder einmal scheiterte er in politischer Mission.
In seinem politischen Kampf sieht er sich nun auch als Schriftsteller im amerikanischen Exil isoliert.
Sein dramatisches Hauptwerk jener Jahre ist auf keiner Bühne unterzubringen: das Stück Pastor Hall, die Geschichte eines Einzelgängers, der sich gegen die Diktatur Hitlers auflehnt. Schlaflosigkeit quält den 39jährigen seit seiner Haftentlassung. Seine Frau, die Schauspielerin Christiane Grautoff, die ihm ins Exil gefolgt war, verläßt ihn nach dreijähriger Ehe. Margaret Lackner, eine Bekannte, erinnert sich:

Manchmal kamen spätabendliche Telefonanrufe von ihm, die, wie ich es mir leider erst später erklären konnte, beinahe wie Hilferufe klangen.

Der letzte Anruf kommt am 21. Mai 1939. Am Morgen des nächsten Tages erhängt sich Ernst Toller im New Yorker Hotel Mayflower. An der Brause seines Badezimmers mit dem Gürtel seines Bademantels. Als man ihn tot entdeckt, sieht man auch die Fotos von abgemagerten spanischen Kindern, die er auf seinem Schreibtisch ausgebreitet hat.
Der ebenfalls emigrierte Schriftsteller Bodo Uhse erinnert sich:

Erst hieß es, Toller habe mehrere tausend Dollar auf der Bank liegen, später stellte sich heraus, daß er bettelarm war. Jemand, der ihm Tage zuvor Hilfe verweigert hatte, fand sich nun bereit, einen Beitrag zu seiner Bestattung zu geben.

Erwin Piscator, der Regisseur, hielt die Situation so fest:

Der amerikanische Schriftsteller Sinclair Lewis, den ich mobilisierte, hielt ihm die Leichenrede. Aber noch nach zehn Jahren war die Urne mit seiner Asche nicht abgeholt worden. Toller hat sein bitteres, verzweifeltes Ende in seinem Stück Hoppla, wir leben vorweggenommen.

Karl Thomas, der Held dieses Stückes, zerbricht an seiner Epoche. Der geschichtliche Ablauf ist für ihn zu einem absurden Mechanismus geworden, aus dem er herausspringt in den selbstgesetzten Tod.
Viel früher hat Toller das Motiv zu seinem Selbstmord in die Worte gefaßt:

Wer keine Kraft zum Traum hat, hat keine Kraft zum Leben.

Tollers Traum war nach 46 Jahren aufgebraucht.
Gustav Noske, der Mann, der den Traum vom Sozialismus zerstört und die Revolution nach dem Ersten Weltkrieg niedergeschlagen hatte, durfte in Hitlers Deutschland bleiben und bekam von den Nazis Rente.

Jürgen Serke, in Jürgen Serke: Die verbrannten Dichter, Fischer Taschenbuch Verlag, 1983

 

ERNST TOLLER

Ihr Wölfe, die ihr der Erde regiert.
Ich finde merde was ihr vollführt.
Ihr seid so ohne Volk und Land
Ihr seid nicht recht bei Verstand
Solang ein Mensch noch in euren Wämsten sitzt
bin ich der Toller, der euch den Arsch beschnitzt.

Peter Wawerzinek

 

 

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Zum 70. Geburtstag des Herausgebers:

Jan Wagner: Lob des Spreewals
Der Tagesspiegel, 11.6.2016

Stefan Sprenger: Dass der Mensch der Stil sein möge
Sprache im technischen Zeitalter, Heft 218, Juni 2016

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + DAS&D +
Übersetzungen 1 & 2 + KLG 1 & 2
Porträtgalerie:  Galerie Foto Gezett + deutsche FOTOTHEK
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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Pietraß“.

 

Richard Pietraß liest am 4.5.2018 für planetlyrik.de die 3 Gedichte „Hundewiese“, „Klausur“ und „Amok“.

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