Eugen Gomringer (Hrsg.): konkrete poesie

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Eugen Gomringer (Hrsg.): konkrete poesie

Gomringer (Hrsg.): konkrete poesie

PERFEKTION

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Ernst Jandl

 

 

 

vorwort

anthologien werden zumindest aus zwei verschiedenartigen anlässen zusammengestellt. sie erscheinen entweder rechtzeitig zur unterstützung eines trends und geben, wenn oft auch auf kosten der qualität, einen ersten überblick über einen vorgang, aus dem sie selbst aktuelles material beziehen. eine solche anthologie war z.b. transit. ein lyrikbuch der jahrhundertmitte, herausgegeben 1956 von walter höllerer. anderseits erscheinen anthologien in der mehrzahl wohl erst dann, wenn ein sozusagen ruhendes material vorliegt, das womöglich bereits mit historischen maßstäben gemessen werden kann. der aufmerksame betrachter der europäischen literarisch-künstlerischen szene der letzten zwei jahre weiß, daß die vorliegende anthologie zu diesem typus zählt. 1970 und 1971 waren die konkrete poesie und ihre ausweitungen gegenstand von ausstellungen in zürich, amsterdam, stuttgart und nürnberg, auf deren ausführliche kataloge als dokumente hingewiesen werden muß. diese ausstellungen waren im besten sinne und bezeichnenderweise internationale ausstellungen: entspricht doch eine internationale grundlegung und verbreitung ganz und gar der entstehung der konkreten poesie und den absichten ihrer strategen. früher schon waren vier gewichtige anthologien erschienen: 1967 gleich deren drei, nämlich eine in new york und stuttgart, herausgegeben von emmett williams, eine in london, die stephen bann besorgt hatte, sowie eine in prag und schließlich 1968 eine an der indiana university, usa, zusammengestellt von mary ellen solt. damit steht fest, daß die konkrete poesie in die zeit der retrospektive gekommen ist.
daß die vorliegende anthologie sich nun auf deutschsprachige autoren beschränkt, aus zweckbestimmung, kann ihr nicht unbedingt als nachteil angerechnet werden, spielen doch die hier versammelten autoren und damit sicher ein großteil der ausgewählten texte auch im internationalen konzert eine bedeutende rolle. zudem hatte es sich bald erwiesen, daß gerade durch die internationale verbreitung der konkreten poesie eine anzahl spielformen allgemeine währung wurde, zu deren entstehung die deutschsprachigen autoren wesentliches beigetragen hatten. so lagen z.b. einige entscheidende texte und manifeste in deutschland, der schweiz und in österreich bereits vor, als sich pignatari, als vertreter der brasilianischen gruppe noigandres, und gomringer im jahr 1955 an der ulmer hochschule für gestaltung trafen und sich einigten, ihre parallelen experimente aufgrund ästhetischer verwandtschaft und geistiger verpflichtung gegenüber den theoretikern, malern und bildhauern der konkreten kunst ebenfalls als konkret zu bezeichnen. interessant ist in diesem zusammenhang, daß in der erwähnten anthologie transit aus dem jahr 1956 auch bereits gedichte von bremer, gomringer und heißenbüttel aufnahme gefunden hatten.
mit dem vorbild der konkreten kunst, also eines visuellen bereichs, ist die frage nach der herkunft der bezeichnung „konkrete“ poesie zum teil beantwortet, noch früher als gomringer und pignatari sprach öyvind fahlström in einem manifest im jahr 1953 von „konkreter poesie“, was allerdings „mehr im anschluß an konkrete musik als an bildkonkretismus im engeren sinn geschah“.
das brennende interesse, das diejenigen jungen dichter der nachkriegsjahre, aus denen später die „konkreten“ werden sollten, an mallarmé, arno holz, appollinaire, ezra pound, cummings, carlos williams und an den poètes à l’écart, eine in bern im jahr 1946 erschienene wichtige anthologie, nahmen, läßt aber vor allem in diesen autoren die echten – literarischen – vorläufer, nebst dem bildkonkretismus, erkennen. von großer tragweite, bis heute von einem teil des konkreten lagers noch übersehen, ist vor allem auch die dimension, die ernest fenollosa 1908 in seinem essay „the chinese written character as a medium for poetry“, herausgegeben von ezra pound im jahr 1920, dem begriff ,konkrete poesie‘ zuordnete.
was der begriff „konkret“ in der poesie bedeute, die definition der konkreten poesie – diese frage hat in den letzten 15 jahren zahlreiche antworten gefunden, von der umschreibenden bis zur präzisen. der leser entnehme sie aus den angefügten theoretischen texten, oder er finde sie selbst in den dichterischen texten. daß eine abkehr von gewohnten poetischen vorstellungen und der immer wieder positivistisch vorgetragene versuch, gegenwart unmittelbar sprachlich festzustellen, was sich mit glasperlenspielerlösungen nicht schlecht zu vertragen scheint, kennzeichen der konkreten poesie sind, wurde in den zwei letzten jahrzehnten mit bestürzung, anfeindung, aber doch mehr und mehr mit verständnis – selbstverständnis? – zur kenntnis genommen. es wurde vielleicht auch vermehrt erkannt, daß die knapp zwei jahrzehnte – die fünfziger und die sechziger jahre – der konkreten poesie identisch waren mit den entwicklungsjahren jener internationalen kommunikation und zeichensprache, welche die ursprünglichen struktural-funktionalen intentionen der konkreten poesie bald nur noch als ästhetischen kern begriffen. anstelle des an widersprüchen leidenden begriffes der konkreten poesie hat sich immer wieder eine bezeichnung wie ,experimentelle poesie‘ mit ihrem viel weiteren fassungsbereich aufgedrängt. dieser zu nichts verpflichtende allerweltsbegriff – wer möchte es auf sich ruhen lassen, nicht auch experimentell zu arbeiten? – steht jedoch in direktem gegensatz zur heiter-verpflichtenden denkweise konkreter poeten. im gegensatz zu neuen methodischen erweiterungen und überlagerungen der mittel, welche bildungs- und ausbildungsgegensätze in unserer gesellschaft eher verdeutlichen als überbrücken, blieb die konkrete poesie – eine ihrer frühesten forderungen überschaubar, nachvollziehbar, provozierend und, vielleicht ihr größter vorzug, einfach, d.h. rätselhaft und poetisch. Daß sie dabei sprach- und gesellschaftskritisch ist, kann nur demjenigen entgehen, der zwar alles verändern möchte, im übrigen aber sprache sprache sein läßt.
bei der auswahl wurde sowohl nach der originalität der texte oder textgruppen, nach ihrem repräsentativen wert für den einzelnen autor wie auch nach der intensität des engagements der autoren gefragt. zum letzteren kriterium ist zu bemerken, daß die zahl der auch-dichter oder der sich vorübergehend mit konkreter poesie beschäftigenden ziemlich groß ist. so ist z.b. daniel spoerri, der gewiß ein oder zwei interessante frühe texte geschrieben hatte, heute bekannter als eat-art künstler. diter rot, auch hier ein großer anreger, besonders als bücher-macher und sprach-raum-typograf, hat sich anderen medien und dimensionen zugewandt. ebenso selbstverständlich ist, daß einige der vertretenen autoren, z.b. heißenbüttel, jandl, mon, rühm, noch eine weiter gefaßte literarische oder intermediale tätigkeit ausüben. bei bense und döhl überwiegen die theoretischen arbeiten. schließlich wurde bei der zusammenstellung einer subsumtion der texte unter einer „dichterpersönlichkeit“ gegenüber einer typologisierung der texte mit hintanstellung der autoren der vorzug gegeben. denn bei aller gleichgestimmtheit auf übernationaler ebene muß man doch immer auf charakteristische unterschiede in den arbeitsrichtungen, wenn man will der „dichtercharaktere“, hinweisen. da sind die mundart-minimals von achleitnar die frühen bewegungsstrukturen claus bremers, die grammatischen entlarvungen heißenbüttels, die auf internationalität und inversion angelegten konstellationen gomringers, jandls parodistisches element, die denkintimität von gappmayr und wezel usw. selbst bei fast gleichen themen unterscheiden sich der denkansatz und die darstellerische methode in typischer weise, wobei blick und empfindung sich vielleicht erst an minimale differenzierungen und an minimale spannungen, die hier die welt bedeuten können, gewöhnen müssen. eine abgrenzung wurde ferner gegenüber der modischen tendenz der buchstabengrafik vorgenommen, wohingegen die aus der buchstabengestalt entwickelte pikto-typografie von hansjörg mayer sozusagen zur grundlehre der konkreten poesie gezählt zu werden verdient.
in den ersten heften konkrete poesie / poesia concreta die von 1960 bis 1965 in frauenfeld erschienen, war als sinngebung und zielsetzung vorangestellt:

die konkrete poesie ist das ästhetische kapitel der universalen sprachgestaltung unserer zeit.

es braucht vielleicht noch etwas mehr distanz, um die konkrete poesie in dieser relation bewerten zu können – während ihre kritische einstellung zu allen sprachlichen vorgängen, aber auch ihre bereitschaft zum spiel, zur infragestellung der „werte“, sie zu einer praktischen, nützlichen denkdisziplin hat werden lassen.

Eugen Gomringer, Vorwort

 

Das Phänomen Konkrete Dichtung

1 Im folgenden Vortrag will ich versuchen, ein Phänomen vorzustellen, was unter dem Namen Konkrete Dichtung bereits in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Diese Vorstellung soll in drei Schritten erfolgen:

a) Zunächst wird in einem historischen Zugang Konkrete Dichtung als eine Form der Realisierung des Konkretismusprogramms in der Kunst des 20. Jahrhunderts skizziert;
b) dann folgt eine kurze systematische Überlegung zum gegenwärtigen Stand der Konkreten Dichtung, ihren Problemen und Perspektiven;
c) schließlich stelle ich einige Weiterentwicklungen Konkreter Dichtung vor.

2 (ad a) Konzentriert man sich auf den sprachlich-visuellen Teil der Konkreten Dichtung, so muß man die historischen Wurzeln dieser dichterischen Experimente m.E. in den Konkretismusprogrammen der Malerei um 1920 suchen.1
Piet Mondrian und Theo van Doesburg2 haben bei der Ausarbeitung des Programms der De-Stijl-Gruppe einige Vorstellungen formuliert, an denen die Entwicklung der konkreten und konzeptionellen Kunst bis heute gemessen werden kann. Betrachten wir Mondrians Ansatz unter dem Aspekt des Verhältnisses von Kunst und Wirklichkeit, so ergibt sich folgendes Bild:

(…) voran steht die vollkommene Abstraktion, d.h. die gänzliche Ausschaltung der sinnlichen Wahrnehmung der sichtbaren Wirklichkeit. Aus dieser Forderung folgt die strikte Beschränkung der bildnerischen Sprachmittel auf ihre Grundelemente: die gerade Linie, den rechten Winkel – die Horizontale und die Vertikale also – und auf die drei primären Farben – Rot, Gelb, Blau – und die drei Nicht-Farben – Schwarz, Grau, Weiß.
Der Grund für diese Beschränkung liegt in der Zielsetzung des Stijl: einer universalen Harmonie und der Überwindung des Individualismus.
3

Ähnlich formuliert der Stijl-Architekt Jakobus J.P. Oud:

Paradox ausgedrückt, könnte man sagen, der Kampf des modernen Künstlers sei ein Kampf gegen das Gefühl. Der moderne Künstler strebt nach dem Allgemeinen, während das Gefühl (das Subjektive) zum Besonderen führt.
(Jaffé, S. 92)

Diese Zitate kennzeichnen allgemein eine Tendenz der konkreten Kunst. Systematisiert man die Schriften ihrer Theoretiker, so läßt sich folgender Katalog allgemeiner Prinzipien konkreter Kunst aufstellen:

a) Ausschaltung der je individuell wahrgenommenen und in subjektiven Handschrift bzw. Manier zu repräsentierenden sinnlichen Wirklichkeit. Statt dessen: Thematisierung der Kunstmittel;
b) Reduktion der verfügbaren Kunstmittel auf die medienspezifische Grundelemente;
c) Überwindung des Subjektiven, des Individuellen, des Gefühls;
d) Konzentration auf allgemeine Elemente, Strukturen, Wirkungsweisen;
e) Internationalisierung der Kunst;
f) sinnliche Präsentation der Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten der Wirklichkeit bzw. der Wirklichkeitskonstitution.

So wird etwa bei Mondrian der Raum optisch realisiert als Räumlichkeit (= abstrakte Raumhaltigkeit) des Flächigen; Bewegung als Interferenz von Bewegung und Gegenbewegung, d.h. als Ruhe; Lineatur als Gerade; Lokalfarbe als die zur Bestimmtheit geführte reine Farbe.
Konkrete Malerei präsentiert (ihrem Selbstverständnis nach) die auf den optischen Begriff gebrachte „wahre“ Wirklichkeit; und zwar in der Weise, daß nicht Malmittel verwendet werden, um eine vorgegebene Wirklichkeitsszene in subjektiver Interpretation zu repräsentieren, sondern daß die Sprache des Optischen auf ihre elementaren Konstanten konzentriert wird, die dann als solche mit sich selbst identisch, d.h. konkret, auf der Malfläche präsentiert werden4: sie stellen nichts dar, sie verwirklichen sich selbst.5
Auf eine Malerei mit dieser Zielsetzung hat Theo van Doesburg den Begriff konkret angewandt. Konkret sind solche Malweisen, die nichtanschauliche Erfahrungswirklichkeit auf der Bildfläche repräsentieren, sondern reale Malmittel konkret auf der Fläche präsentieren ,die also nicht mit geläufigen optischen Korrelaten arbeiten, sondern das strukturelle Instrumentarium möglicher Darstellung selbst erarbeiten und präsentieren. „Konkrete, nicht abstrakte Malerei, weil nichts konkreter, nichts realer ist als eine Linie, eine Farbe, eine Fläche.“ (Art Concret, Paris 1930). Die im konkreten Bild präsentierten Gegebenheiten sind identisch mit dem, was sie zeigen: sie zeigen sich selbst, stellen sich selbst dar.
Eine Verschärfung dieser Position bringt dann die Minimal-Art bei F. Stella oder D. Judd, denen die Konzeption Mondrians noch zuviel Mimetisches zu enthalten scheint, noch zu relational ist, insofern sie die absolute Harmonie des Universums, Gleichgewicht und Schönheit ausdrücken will. Bei Stella und Judd wird die Bildfläche radikal zum einzigen Objekt und Thema, die Vermeidung von Teilbarkeit und die Wiederholung identischer Einheiten zum einzig zugelassenen syntaktischen Verfahren.

Like the shape of the object, the materials do not represent, signify, or allude to anything; they are what they are and nothing more.6

Das Selbstverständnis der konkreten Dichtung seit den frühen fünfziger Jahren hat sich – weitgehend analogisierbar dem der konkreten Kunst – in Äußerungen wie den folgenden artikuliert: In dem von den Brasilianern Augusto de Campos, Haroldo de Campos und Décio Pignatari entworfenen Pilot plan for concrete poetry7 heißt es:

Konkrete Dichtung: Ergebnis einer kritischen Entwicklung der Formen. Die konkrete Dichtung stellt fest, daß der historische Verszyklus (als formal-rhythmische Einheit) abgeschlossen ist, und wird sich zunächst des graphischen Raums als Strukturelement bewußt. Raum wird genannt: die Raumzeitstruktur an Stelle einer nur linear-zeitlichen Entwicklung. Daher die Bedeutung des ideographischen Konzepts, sowohl in seinem allgemeinen Sinn einer spatialen oder visuellen Syntax, wie auch in seinem spezifischen Sinn (…) einer Kompositionsmethode, die auf direkter – analogischer und nicht logisch-diskursiver Gegenüberstellung der Elemente beruht. (…) Konkrete Dichtung: Wortobjekte in das Raum-Zeitgefüge gespannt. (…) Das konkrete Gedicht ist Mitteilung seiner eigenen Struktur. Es ist sich selbst genügendes Objekt und nicht Darstellung eines anderen äußeren Objekts oder mehr oder weniger subjektiver Gefühle. Sein Material: das Wort (Laut, Seh-Form, Semantik). Sein Problem: die funktionellen Beziehungen dieses Materials. (…) Konkrete Dichtung: durch Gebrauch des phonetischen Systems und der analogischen Syntax Erschaffung eines spezifischen ,verbo-voco-visuellen‘ Sprachgebietes, das die Vorteile der nicht verbalen Mitteilbarkeit vereint mit den Wortwerten. (…) Es handelt sich um Mitteilungen von Formen und Strukturen und nicht um herkömmliche Botschaften. (…) Die konkrete Dichtung strebt danach, letzter gemeinsamer Nenner der Sprache zu sein. Deshalb die Tendenz zur Substantivierung und Bildung von Grundformen.
Konkrete Dichtung: totale Verantwortung vor der Sprache. Vollkommener Realismus. Gegen eine Dichtung des persönlichen und hedonistischen Ausdrucks. Um präzise Probleme zu stellen und sie mit den Mitteln verständlicher Sprache zu lösen. Eine allgemeine Wortkunst.

Eugen Gomringer hat 1954 in seinem Manifest „vom vers zur konstellation“ folgende Vorstellungen entwickelt:

das schweigen zeichnet die neue dichtung gegenüber der individualistischen dichtung aus. dazu stützt sie sich auf das wort. das wort: es ist eine größe (…) es besteht aus lauten, aus buchstaben, von denen einzelne einen individuellen ausdruck besitzen. es eignet dem wort die schönheit des materials und die abenteuerlichkeit des zeichens. es verliert in gewissen verbindungen mit anderen worten seinen absoluten charakter. das wollen wir in der dichtung vermeiden. (…) wir wollen es suchen, finden und hinnehmen. wir wollen ihm aber auch in der verbindung mit anderen werten seine individualität lassen und fügen es deshalb in der art der konstellation zu anderen worten. die konstellation ist die einfachste gestaltungsmöglichkeit der auf dem wort beruhenden dichtung. (…) mit der konstellation wird etwas in die welt gesetzt. sie ist eine realität an sich und kein gedicht über. (…) man erkennt ferner, daß sich in der konstellation mechanisches und intuitives prinzip in reinster form verbinden können.

Aus diesen und ähnlichen theoretischen Darlegungen lassen sich wieder – parallel zur konkreten Malerei – einige Grundsätze zur Theorie und Technik der konkreten Dichtung herauslösen:

a) Entdeckung des Raums bzw. Integration von Flächenwerten in die poetische Textproduktion;
b) Komposition elementarer Einheiten, simultane Konstellationen statt linearer Textsequenzen;
c) Bildung und Bevorzugung von Grundformen und deren selbständige Darbietung, meist in optischen Kontexten;
d) Strukturmitteilung statt Übertragung von „Botschaften“ oder Gefühlsausdruck, Objektivierung statt Darstellung;
e) antisubjektivistische und antimetaphorische Realisierung von Sprache;
f) konkrete Dichtung als gemeinsamer struktureller Nenner von Sprache als Dichtung;
g) Internationalisierung der Dichtung.

Angesichts der spezifischen Bedingungen und Gegebenheiten der Sprachkunst konnten diese allgemeinen Postulate nur in Formen von Annäherungen an strikte Konkretismusprogramme verwirklicht werden. Dabei war folgendes allgemeines Postulat zu erfüllen: Konkrete Dichtung mußte konzipiert werden als eine nicht mimetisch-repräsentative, sondern konstitutiv-präsentative Dichtungssorte, die die rekurrenten Bedeutungsdimensionen und Sinngebungstechniken pragmatischer Kommunikation aufhebt und sich auf die Thematisierung ihrer Mittel und Grundelemente (linguistische Spracheinheiten, Vertextungs- und Präsentationsstrukturen) selbst konzentriert. Diese Mittel werden nicht mehr dazu benutzt, semantische oder semiotische Bedeutungskomplexe zu repräsentieren; sie gewinnen vielmehr eine relative Selbständigkeit, sie werden aus der Fixiertheit auf eine oder wenige Funktionen gelöst und zu polyfunktionalen Objekten gemacht: d.h. sie werden konkretisiert.8

3 (ad b) Als Stammvater der Konkreten Dichtung gilt Eugen Gomringer, der von Max Bill die Grundzüge des Konkretismusprogramms übernommen und zusammen mit den Brasilianern Augusto und Haroldo de Campus den Begriff ,konkret‘ auch zur Kennzeichnung von Dichtung benutzt hat. Öyvind Fahlström und Carlo Belloli haben bereits in den vierziger Jahren Texte produziert, die zu Recht als konkret betrachtet werden können; und die Ahnenreihe läßt sich – je nach der zugrunde gelegten Definition von ,konkret‘ – sicher bis auf die Versuche Theo van Doesburgs zurückverfolgen.
Seit der kurzen öffentlichen Resonanz, die die konkrete Dichtung – sonst eher eine Spezialität für wenige Kenner – Ende der 60er Jahre gefunden hat (mit großen Ausstellungen in Münster, Amsterdam, Stuttgart und Nürnberg), gilt sie für viele ehemalige Produzenten wie Kritiker als ein vergangenes Phänomen.
Dieser „Tod der Konkreten Dichtung“ (vgl. den einschlägigen Titel der Zeitschrift Stereo Headphones 1, nos. 1 and 2, 1970: „the death of concrete poetry“) scheint inzwischen in der Tat eingetreten zu sein, wenn man das Verschwinden dieser Bezeichnung für gegenwärtige Kunstproduktion als ein Indiz dafür wertet. Nur hat dieser Tod – von den einen beklagt, von den anderen beklatscht – einen Schönheitsfehler, der vor allem Literaturhistoriker irritieren dürfte: Der Tote ist nicht eindeutig zu identifizieren! Das ist nun – wie mancher Kriminalfall lehren kann – keineswegs so sensationell; doch belegt dieser Schönheitsfehler zweierlei:

– der Tote war – wie alle Kenner der Szene wissen – schon zu Lebzeiten nicht eindeutig zu identifizieren, er trat in proteushaften9 Gestalten und Verkleidungen auf;
– wie es einem Proteus auch über’s Grab hinaus geziemt, weiß keiner nach seinem offiziell erklärten Ableben, in welcher seiner Gestalten er dahingeschieden ist, in welcher er noch lebt.

Denn dem aufmerksamen Betrachter der Literatur- und Kunstszene der siebziger Jahre muß auffallen , daß in vielen kleinen Zeitschriften, Anthologien, Privatdrucken und Editionen von Kleinverlagen10 weiterhin oder neu wieder Produkte präsentiert werden, die mit guten Gründen durchaus zur Großfamilie des Toten gezählt werden können. Große Festivals der Lautpoesie und neuen Musik (etwa in Amsterdam, Glasgow, London, Stockholm, Berlin) belegen, daß nicht nur der visuelle, sondern auch der akustische Bereich dessen weiterzuleben scheint, was bis heute und schon mit akademischen Ehren – ,Konkrete Dichtung‘ heißt. Tot ist Konkrete Dichtung also offenbar nicht hinsichtlich der tatsächlichen Produktion und Präsentation von Arbeiten, die dem eingangs geschilderten Konkretismusprogramm in irgendeiner Weise verpflichtet sind.11 Tot oder besser gesagt – erschöpft scheint sie vielmehr hinsichtlich ihres Innovationspotentials zu sein.12 Zum Innovationspotential Konkreter Dichtung – im Vergleich zu gleichzeitig produzierten anderen Literaturformen – gehörten bekanntermaßen Faktoren wie:

– ihr angestrebter Internationalismus;
– ihr Versuch, verschiedene Gattungen zu integrieren;
– ihr Versuch, mit Materialien, Techniken, Formen der Textorganisation und Themen zu „experimentieren“;
– ihr Versuch, sonst getrennte Kunstgattungen zu mischen bzw. zu integrieren;
– ihr Versuch, die Bedingungen, Gesetze und Grenzen von Kommunikation – mit Hilfe von Zeichensystemen zu thematisieren;
– ihr Versuch, Ideologie- und Gesellschaftskritik über das Mittel der Kritik sinngebender Verfahren zu realisieren;
– ihr Versuch, über alle traditionellen Dichtungsformen hinauszukommen und das Buch als Medium zu überwinden in Richtung auf neue Medien wie Poster, Film, Video, Tonband usw
– ihr Versuch, den Rezipienten zu einem aktiven Ko-Autor zu entwickeln, der Seh-Stücke und Denk-Spiele13 mit- und weiterspielt.14

Ebenso offenkundig wie ihr Innovationspotential, das nach dem 2. Weltkrieg Vorgaben der Kunst- und Literaturentwicklungen von A. Stramm bis M. Duchamp und von den Dadaisten bis zu den Surrealisten modifiziert wiederzubeleben versucht, ist inzwischen aber auch das grundlegende Dilemma Konkreter Dichtung geworden, das man geradezu als ihr vorprogrammiertes Paradox bezeichnen könnte. Dieses Paradox ist in den zwei Besonderheiten des Kunstmittels Sprache begründet: (1) ihre Elemente sind – anders als graphische oder akustische Kunstmittel – mit konventionellen stereotypisierten Bedeutungen verknüpft; (2) Sprache wird in allen westlichen Industriegesellschaften instrumental gebraucht, sie erfüllt primär praktische Funktionen (wie Kontaktherstellung, Information, Belehrung usw.).
Versucht man nun, im Sinne des klassischen Konkretismusprogramms von P. Mondrian und Th. van Doesburg, mit diesem Kunstmittel konkret zu arbeiten (also kurz gesagt: nicht-narrativ, nicht-mimetisch, sondern konstitutiv und präsentativ), dann gibt es theoretisch zwei Möglichkeiten:

a) man reduziert das komplexe Kunstmittel Sprache (bestehend aus Laut bzw. Schrift + Syntax + Bedeutung) auf Laut und Schrift als Materialien, mit denen graphisch bzw. musikalisch gearbeitet wird (= formale Manipulation einer Partialform von Sprache);
b) man benutzt Sprache als komplexe Größe und erfindet eine konkrete Semantik, die als Referenzebene nur die Sprache selber hat.

Wie bekannt hat die bis heute vorliegende Konkrete Dichtung nur die erste Möglichkeit verwirklicht. Die zweite scheint mir – in jedem strengeren Sinne – unrealisierbar, da Sprache im Rahmen der Sozialisation der Individuen in der Gesellschaft als ein Instrument erlernt worden ist, mit dem man etwas bewirkt, was notwendig über die Sprachverwendung hinausführt. Realisierbar und partiell realisiert ist der Versuch einer konkreten Semantik nur insofern, als man Sprache so behandeln kann, daß ihr allgemeiner semiotischer Mechanismus offengelegt und ausgenutzt wird. Wenn etwa Sprache ohne linearen Textaufbau – wie etwa in visuellen Texten Heinz Gappmayrs – oder ohne narrative Strukturbildung – wie in Tcxtkonvoluten von Typ des Herzzero von Franz Mon verwendet wird, dann signalisieren solche Verwendungsweisen dem Rezipienten, daß er die verwendete Sprache nicht auf die üblichen konventionellen Kommunikationsfunktionen sowie die üblichen Referenzrahmen beziehen soll, sondern auf andere Funktionen achten (bzw. Bezüge zu anderen Bezugssystemen herstellen) soll, elementarerweise auf den Akt der Sprachverwendung selbst.
So verweisen etwa die von Gappmayr thematisierten Sprachelemente wie sind oder alles nicht auf außersprachliche Referenzen, sondern auf die kategoriale Darstellungsproblematik von Sprache. selbst. Die Verweigerung von Narrativität bei Mon „bedeutet“ qua Handlung eine kunstpolitische Geste der Verweigerung erwarteter literarischer Verfahren, der Demonstration von Möglichkeiten nicht-instrumentellen Sprachgebrauchs in einer nach wie vor auf Narrativität festgelegten Bildungsgesellschaft. Damit aber Konkrete Dichtung als Entwurf einer Alternative zur bürgerlichen Literatur – die immer noch die öffentliche Diskussion beherrscht – konzipierbar und erkennbar werden kann, ist bei Autoren wie Rezipienten ein großer kognitiver Aufwand nötig: Beim Autor, um nicht in formalistischen Banalitäten stehenzubleiben; beim Rezipienten, um die semiotische Verwendung von Sprache als Dichtung erkennen und bewerten zu können. Dabei tritt ein doppeltes Rezeptionsproblem auf:

a) Durch Sozialisation und offizielle Kultur sind Rezipienten auf andere Literaturerwartungen festgelegt, als sie Konkrete Dichtung erfüllen kann und will. Um Konkrete Dichtung als alternative Dichtung erkennen zu können, müßten Rezipienten aber genau sehen und lesen gelernt haben, was da ist, was im einzelnen konkreten Text und als Konkrete Dichtung insgesamt realisiert wird. (Statt dessen haben Rezipienten, die an literarischer Kommunikation teilnehmen, meist nur gelernt zu interpretieren: also gerade das, was ist, nicht sein zu lassen, was es ist, sondern zu behaupten, es sei etwas anderes.);
b) wenn Rezipienten verbal (durch Kritiken, Theorien) an Konkrete Dichtung herangeführt werden sollen, dann muß eben jene Spracht, und Sprachverwendung im Übermaß strapaziert werden, der die Konkreten Dichter nach ihrer ganzen Einstellung mißtrauen, deren hirnlosen und unverantwortlichen Gebrauch sie ja nicht zuletzt anprangern wollten.

4 (ad c) Theoretisch oder praktisch hat wohl jeder der Konkreten Dichter die oben skizzierten Probleme erfahren und in irgendeiner Weise darauf reagiert. Auf einige Weiterentwicklung des klassischen Programms der Konkreten Dichtung möchte ich im folgenden kursorisch hinweisen, wobei diese Hinweise bewußt subjektiv sind und keinen Anspruch auf Repräsentativität erheben.

a) Gerhard Rühm und Ernst Jandl haben ebenso wie Vincento Accame („la pratica del segno“. Milano, 1974, centro tool) den Schreib- und Zeichenakt neuerdings thematisiert15. Dazu schreibt Rühm:

Mit den ,Schriftzeichnungen‘ werden die Ausdrucksmittel der Handschrift für die Kunst nutzbar gemacht. Zu beachten ist die Relation zwischen dem gewählten Wort (oder Satz) und der Weise, wie es sich grafisch niederschlägt, visuell ,zum Ausdruck bringt‘. Es handelt sich hier also um einen Grenzbereich, eine Mischform von Text und Bild, äquivalent zu den „auditiven Texten“, die sich auf musikalische Parameter erstrecken, mit den spezifischen Möglichkeiten der menschlichen Stimme operieren. Beim gegenwärtigen Stand der gesamtkünstlerischen Entwicklung ist es illusorisch zu fragen, ob es sich noch um Dichtung oder Musik, um Musik oder Grafik, um (mobile) Plastik oder (theatralische) Aktionen handelt. Die Produktionen lassen sich nicht mehr in gesonderten Disziplinen eingrenzen, die Produzenten nicht mehr auf einen Material-, Ausdrucksbereich festlegen. Das Interesse gilt vielmehr dem Problem des Ausdrucks und der Vermittlung überhaupt, der Material- und Bewußtseinserweiterung. (im Katalog: Visuelle Poesie der siebziger Jahre: H. Gappmayr, J. Gerz, E. Gomringer, G. Rühm, S.J. Schmidt, T. Ulrichs. Kunstverein Gelsenkirchen, 1978);
b) Arbeiten mit Foto-Text-Collagen in der poesia visiva (vor allem dokumentiert in der Zeitschrift Lotta Poetica), der poesia signalista und den Textbildern (etwa K P. Dencker). – (Siehe die Manifeste von Paul de Vree und Sarenco in den ersten Nummern der Lotta Poetica sowie P. Dencker: Textbilder. Visuelle Poesie international. Köln, 1972, sowie Dencker: „Drei Kapitel zur Visuellen Poesie“ in: Tecken. Katalog Malmö Konsthall, 1978, S. 58–64);
c) Erstellen von Textkörpern (V. Radovanovič, K.B. Schäuffelen), poèmes objects oder plastic poems (K. Katue);
d) öffentliche Aktionen mit Schrift, verstanden als Handlungsgedicht (A. Misson, G. de Liaño);
e) Zitat, Textcollage, ironische Brechung von vorhandenen Literatur- und Sprechmustern etwa bei H. Heißenbüttel (Projekt 1, d’Alemberts Ende; oder Projekt 3/1, Eichendorffs Untergang und andere Märchen)16;
f) found Poetry (J. Williams, Th.A. Clark, J.F. Hughes17);
g) Tastgedichte (bei L. Novak);
h) Konzeptualisierung der visuellen Poesie mit bewußter Aufarbeitung von Fragestellungen der bildenden Kunst (etwa bei H. Gappmayr, Jochen Gerz, Timm Ulrichs, Siegfried J. Schmidt).

Auf diesen Punkt möchte ich näher eingehen.

5 In den späten sechziger und den frühen siebziger Jahren treffen sich zwei Tendenzen, die als Konzeptualisierung der visuellen Poesie und als Lingualisierung der Bildenden Kunst bezeichnet werden können.
Die engen Berührungspunkte zwischen visueller Poesie und Konzept-Kunst haben u.a. Gianni Bertini und Sarenco in ihrer polemischen Artikelreihe „poesia visiva e conceptual art / un plaggio ben organizzato“ (in: Lotta Poetica, Nr. 1ff., 1971ff.) sehr einseitig interpretiert. Sie versuchen den Nachweis zu führen, die 1953 entstandene konkrete Dichtung und die 1963 entstandene visuelle Poesie hätten die entscheidenden Vorbilder für die 1967 entstandene Konzept-Kunst geprägt: So habe z.B. Joseph Kosuth lediglich Timm Ulrichs, Ben Vautier, Jean Claude Moincau u.a. kopiert; Richard Artshwager habe Heinz Gappmayr kopiert, usw.18 Zutreffender scheint mir zu sein, daß hier Entwicklungen aus partiell durchaus unterschiedlichen Traditionen Berührungsflächen entfalten bzw. entdecken. Die Entwicklungslinie hin zur Konzeptualisierung visueller Poesie habe ich oben erwähnt. Die Entwicklung im Bereich der Bildenden Kunst hat W.M. Faust (Bilder werden Worte. München, 1977, S. 27) auf den einleuchtenden Nenner gebracht:

(…) daß Sprache heute zu einem selbstverständlichen Medium der Kunst geworden ist. Sprache taucht im Kunstwerk auf, wie bei Lichtenstein, Ben Vautier und Jean le Gac, oder sie wird im Bild assoziiert wie bei Twombly und Hartung. Sprache stellt sich als Kommentar neben das Bild, wie bei Daniel Buren. Sprache tritt auf anstelle des Kunstwerkes (bei Robert Barry), das sich durch sie allein in der Vorstellung des Künstlers/Lesers realisiert. Sprache erscheint als Kunstwerk, so etwa in der analytischen Theorie der Art & Language Gruppe oder bei Boltanski. In mutilmedialen Aktionen wird Sprache zum integrativen Bestandteil einer Kunst, die Künstler und Rezipient in einem Handlungsvorgang miteinander verbindet.

Die Concept Art, Endstufe zunehmender Konzentration auf Sprachen und Ideen der Kunst seit den zwanziger Jahren19 (s. D. Karshan: Art becomes art oriented), visualisiert in minimalen Konstellationen denkerische Bemühungen.20
Sie materialisiert Kunst zur post object art, zur analytischen Kunst, zum Sprechen über das, was als Kunst getan werden oder gelten könnte21, zum Sprechen als Kunst (cf. Ian Wilsons Einladung zu einer Ausstellung: „There will be a discussion“), zur Reflexion über Kunst.22
Was Konzept-Kunst sei und solle, ist – wie es sich für bürgerliche Kunst gehört – von jedem Künstler und Kritiker anders bestimmt worden. Als eine Version zitiere ich Sol Lewitt:

Die Idee wird zu einer Maschine, die die Kunst macht. Diese Art von Kunst ist nicht theoretisch und keine Illustration von Theorien; sie ist intuitiv, schließt alle Typen geistiger Prozesse mit ein und ist ohne Zweck. Sie ist normalerweise unabhängig von der handwerklichen Geschicklichkeit des Künstlers (…) Wie das Kunstwerk aussieht, ist nicht allzu wichtig. Es muß irgendwie aussehen, wenn es physische Form hat. Egal welche Form es letztlich haben wird, es muß mit einer Idee anfangen. Der Prozeß von Konzeption und Realisation ist das, was den Künstler beschäftigt (…) Es kommt nicht wirklich darauf an, ob der Betrachter die Konzeption des Künstlers versteht, wenn er die Kunst betrachtet (…) Die Idee selbst, auch wenn nicht in sichtbare Form gebracht, ist ebenso ein Kunstwerk, wie irgendein abgeschlossenes Produkt (…) Konzeptuelle Kunst soll eher den Verstand des Betrachters als sein Auge oder sein Gefühl ansprechen und beschäftigen (…) Konzeptuelle Kunst ist nur dann gut, wenn die Idee gut ist. (Sol Lewitt: „Paragraphen über konzeptuelle Kunst“. in: G. de Vries, Hrsg.: Über Kunst – On Art. Künstlertexte zum veränderten Kunstverständnis nach 1965, Köln, 1974, S. 177–185. Dort finden sich auch einschlägige Äußerungen von L. Weiner, J. Kosuth u.a.)

Daß diese Form von „language art“ in den USA in einem relativ unverkrampften Verhältnis zur Visuellen Poesie steht, zeigt der erwähnte von Jerry G. Bowles und Tony Russel herausgegebene Sammelband This book is a movie, wo „Konzeptualisten“ wie Arakawa, Barry, Lewitt oder Weiner einträchtig neben „Konkretisten“ wie Finlay, Furnival, Saroyan, Solt oder Williams repräsentiert werden. In der Einleitung zu diesem Buch bemerkt J.G. Bowles:

Consider those areas called concrete, conceptual, visual, found poetry: all refer to specialized areas of language-structure experimentation. But none of them describe the movement as a whole. A better label might be simply „language art“, a term that seems broad enough to cover all the activities now underway.

Nach einem kurzen Blick auf Sprachexperimente von der Frühgeschichte („… when the first cave man carved a stick horse on the wall of his cave“) bis heute stellt Bowles fest:

(…) much of the best experimentation in the area remains uncharted and uncatalogued. Some of these reasons are easy to arrive at. Concrete poetry and conceptual art are movements that have been seriously damaged by intense parochialism, weak exhibitions and self-indulgent anthologies. This split has tended to hamper new developments and to shut out possible new adherents. In concrete poetry, there is the debate between the poet and the designer; in conceptual art, there is the philosopher pitted against the artist who continues to produce a product.

Schon diese wenigen Zitate belegen, daß der Begriff ,Konzept‘ ähnlich umstritten und unscharf ist wie der Begriff ,konkret‘. Ich benutze ihn daher lediglich als Hinweis in eine bestimmte Richtung, die durch Absichtserklärungen und Arbeiten von Autoren wie etwa Kosuth, Lewitt, Weiner oder Naumann absteckbar wird. In diesem vagen Sinne betrachte ich z.B. viele Arbeiten von Gappmayr, Gerz, Ulrichs und mir als Beispiele für das, was man „Konzeptliteratur“ nennen könnte. (Damit soll wohlgemerkt nicht behauptet werden, es gäbe nur diese Beispiele. Vielmehr sage ich hier eben nur etwas über diese Beispiele.)
Gappmayrs Arbeiten sind (wie der Übersichtsband von 1978: Texte. Auswahl 1962-1977 und neue Texte. München: Ottenhausen, deutlich zeigt) von 1962 an in zunehmendem Maße geprägt vom Versuch, die kategoriale Sprachproblematik visuell zu thematisieren. Dieser Versuch weitet sich dann – in bewußter Auseinandersetzung mit Theorien und Arbeiten konzeptioneller Künstler – zu einer Thematisierung von Darstellungs- und Kategorisierungsmöglichkeiten auch außerhalb natürlicher Sprachen aus (s. zahlentexte. München: UND, 1975; Raum. München: UND, 1977).
Wenn Gappmayr 1968 feststellt: „Wir stehen vor dem komplizierten Zusammenhang von Identifikationen, Differenzierungen, Analogien und Möglichkeiten visueller und gedachter Formen, die sich in der Reflexion auf die Idealität der Begriffe und auf den Lesevorgang jeder Vergegenständlichung entzieht“, so dürften solche Formulierungen P. Weiermair recht geben, der im Nachwort zu zeichen. ausgewählte texte (neue texte 15/1975) Gappmayr in die Nähe linguistisch orientierter Kunst rückt:

Zahlreiche Künstler, wie Graham, Andre, Weiner oder Barry, im übrigen oft von der konkreten Dichtung herkommend, haben sich mit einer solchen Thematik auseinandergesetzt. Barry oder Weiner etwa geht es ebenfalls um die Erfahrung entmaterialisierter Fakten, die Erweiterung der Erfahrung mentaler Prozesse, die sich auf die Wahrnehmung abstrakter mentaler Entitäten beziehen. In Kosuths Realitätsthematik spiegeln sich ebenfalls Probleme von Begriff-Denken-Wirklichkeit. Allen Konzeptkünstlern geht es wie Gappmayr um mentale, die Realitätserfahrung erst fundierende Prozesse.

J. Gerz’ diverse Aktivitäten sind ebenfalls seit 1968 bestimmt von einer radikalen Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten verschiedendster Medien, mit dem fundamentalen Mißtrauen in Kommunikation.23 „Den Medien den Ruecken kehren. Leben.“ heißt es in „Die Beschreibung des Papiers“ von 1973 (nach einem Stempel von 1972). Bilderfeindlichkeit, Esoterik, Verweigerung von Interpretierbarkeit, Destruktion von Medien: das sind Schlagworte, die vielleicht Tendenzen Gerzscher Aktivitäten kennzeichnen können. Sehr deutlich wird das in den Foto-Text-Konstellationen, die M. Jochimsen zwar dem äußeren Schein nach zu Recht in die Rubrik „Story Art“ ordnet (Magazin Kunst No. 14, 1974) (zusammen mit einer Reihe von Autoren von M. Badura über Ch. Boltanski, J. Baldessari, Jean Le Gac bis W. Wegmann und P. Hutchinson), die aber durch doppelte Abbildverweigerung eher zu einer „Anti-Story-Art“ gerechnet werden sollten. H. Molderings hat diesem Aspekt gut verklausuliert:

Dort, wo er die Fotografie einsetzt, bleibt ihr fiktiver, künstlicher Charakter immer gegenwärtig. Zu diesem Zweck ersinnt er eine neue Verknüpfung von Bild und Sprache; in der die Texte vermeiden, das beschreiben zu wollen, was sich von selbst beschreiben kann, und die Fotografien nicht vorgeben, Dinge abzubilden, die sich ihrem Zugriff entziehen. (a.a.O.)

Mit den Kulchur Pieces 1978 [# 1 Die Schönheit der Netzhaut (Vom Spiel & den Regeln), Hannover; # 2 The real window to the world, Porto, Lissabon # 3 Das Lächeln Mona L.’s bleibt unerwidert, Münster] konzentriert Gerz den Rückzug aus Darstellbarkeit und Bild. Dieselbe braune Abdeckfarbe auf allen präsentierten Objekten, dieselbe Verweigerung üblicher Lesbarkeit durch Verwendung von Spiegelschrift und teilweise Abdeckung der schriftlichen Teile der genannten Arbeiten, die voll sind von Gerz’ ständigen Themen: von der Fähigkeit und Unfähigkeit zu leben, zu lieben, von den Fragen der Sehbarkeit, der Sichtbarkeit, der Erfahrbarkeit von Welt (und auch von der Vergeblichkeit dessen, was man tut, wenn man das tut, was Gerz tut). „Das drohende des Fensters, das die Welt erschlägt, soll spürbar bleiben“, heißt es in den Notizen zur Ausstellung The real window to the world.24
Produktion als Hypertrophie, vom Anspruch und vom Ausstoß her Totalkünstler arbeitet Timm Ulrichs wie ein Besessener seit Beginn der sechziger Jahre. Es ist in der Tat leichter zu suchen, was er noch nicht gemacht hat, als aufzuzählen, was er alles gemacht hat – bis hin zu Versuchen mit dem eigenen Leben (cf. seine Aktion „Scylla und Charybdis“ und seine Anmerkungen dazu, Abano, 15.10.1978, im Katalog zu dieser Aktion). Tautologie- und Identitätsproblematik haben ihn seit seinem Studium intensiv beschäftigt (s. etwa die „tautologie aktion“, bei der er überall kleine Zettel anbrachte mit der Aufschrift „ZETTEL ANKLEBEN VERBOTEN“; s. die Neonlaufschrift „EINE TAUTOLOGIE IST EINE TAUTOLOGIE“ und die theoretischen Erwägungen dazu im Katalog zur Retrospektivausstellung 1960–1975, Braunschweig-Hagen-Heidelberg, 1975–76, S. 53 s. den Text „widerlegung des identitäts-prinzips“ „A # a“ von 1970; s. seine „ludistischen texte“, mit Fragen wie „Können Sie mir diese Frage beantworten?“ und Aufforderungen wie „ Mit geschlossenen Augen lesen!“; s. seine Übersetzungsaktion 1968/75 oder seine Präsentation von Lexikoneintragungen 1964/66. U.v.a.m.)
Selbst habe ich seit 1968 in theoretischer und praktischer Auseinandersetzung mit der klassischen Konkreten Dichtung wie mit der Konzeptkunst versucht, etwas zu realisieren, was ich „konzeptionelle Dichtung“ genannt habe; „konzeptionell“ deshalb, weil ich der Ansicht war und bin, daß die klassische Konkrete Dichtung das ganze Ausmaß der von ihr aufgeworfenen Fragestellungen – theoretischer, ästhetischer, linguistischer wie politischer Art – noch nicht ausdifferenziert und die Arbeit vielfach zu rasch ins Dekorative gewendet hat, ohne die damit verbundenen Konzeptionsprobleme auszustehen.
Mit dem volumina-projekt und Exponatserien25 habe ich bewußt begonnen, für mich, für meine Kognition und Emotion, die Beziehungen zwischen Sprachen, Bildsystemen und Konzeptionen systematisch zu untersuchen. Gleichsam als Arbeitstitel habe ich für diese Versuche den Titel „konzeptionelle Dichtung“ vorgeschlagen (wobei ich mich allerdings nicht wie Bertini und Sarenco auf die „poesia visiva“ beschränkt habe) und diesen Vorschlag in zwei Manifesten (1971 und 1973) begründet. Da dieser Vorschlag – wie M. Horst (1977) dargestellt hat – seither in der Diskussion eine Rolle gespielt hat, darf ich die beiden Manifeste im Wortlaut zitieren:

KONZEPTIONELLE DICHTUNG: MANIFEST I

1 die visuelle poesie hat verschiedene techniken entwickelt, um den raum als eine semantische dimension auszunutzen. sprache wurde in einer position präsentiert, die zwischen textsprache und codesprache lag.
2 während in visueller poesie die semantische dimension auf mögliche strukturen reduziert war, präsentiert konzeptionelle dichtung ein nukleäres gesprächsuniversum.
3 konzeptionelle dichtung konzentriert sich auf elementare möglichkeiten der reflexion. sie präsentiert sprache als vieldimensionales feld im optischen, akustischen und intellektuellen raum.
4 kommunikation ist gezeigt ohne aussieht, zu einem ende kommen zu können.
5 es ist außerhalb.
6 what should be said can’t be said. but be cautious: no reason für callin thar anywhat. look. speak. and think.

karlsruhe 1971 (in: neue texte, heft 8/9, märz 1972).

 

VON DER KONKRETEN POESIE ZUR KONZEPTIONELLEN DICHTUNG: 11 THESEN

1 Die konkrete Dichtung hat in ihren besten Texten stets zwei Aspekte zu integrieren versucht:
a) den Aspekt des Experimentellen und Innovatorischen (vor allem auf der Ebene der Manifestationsformen);
b) den Aspekt des Begrifflich-Semantischen bzw. Konzeptionellen. Nur durch die Verbindung dieser beiden Faktoren kann die für jeden ästhetischen Kommunikationsprozeß (aus strukturellen kommunikationspsychologischen Gründen) notwendige Komplexität gesichert werden.

2 Konkrete Dichtung ist überall dort steril geworden, wo sie einen dieser Aspekte reduktionistisch isoliert hat (Resultate: graphischer Gag bzw. bloße Absichtserklärung). Bei einer bewußt versuchten Integration beider Faktoren dagegen ergeben sich folgenreiche Möglichkeiten der Weiterentwicklung der bisherigen konkreten Dichtung zu einer konzeptionellen Dichtungsform.

3 Unter einer konzeptionellen Dichtungsform verstehe ich Versuche, komplexere Texte (als in konkreter Dichtung) mit einer elaborierten Integration von optischen und sprachbegrifflichen Konstituenten zu erzeugen.

4 Konzeptionelle Dichtung behält zwei Prinzipien konkreter Dichtung bei:
a) das Prinzip der Generativität der Textsprache (Ablösung des Mimesis-Modells von Dichtung, Aufhebung des Prinzips der Narrativität);
b) das Prinzip der Code-Integration (Komplexion sprachlicher und optischer Codes und Textbildungsverfahren).

5 Konzeptionelle Texte bauen komplexe Relationssysteme zwischen verschiedenartigen Bedeutungsmöglichkeiten der sprachlichen und optischen Textkonstituenten im sprachlich-optischen Mischkontext auf.

6 Konzeptionelle Texte realisieren nicht etwa außerhalb des Textes bestehende ( und in andere Codes übersetzbare) gedankliche Konzepte; sie erzeugen vielmehr solche Konzepte erst im Prozeß der Textherstellung, -übermittlung und -decodierung. Durch die Integration zweier Systeme der Bedeutungskonstitution bzw. zweier Codes mit jeweils verschiedenen, nicht eindeutig ineinander übersetzbaren Bedeutungsstrukturen wird das Resultat (der konzeptionelle Text) zu einem nicht mehr eindeutig interpretierbaren Kommunikationsprozeß zwischen den Codes (und deren Bedeutungsuniversen) und den Kommunikationspartnern (Autor, Rezipient).

7 Kommunikationsprozesse dieser Art sind nicht mehr in einfachen Verstehensresultaten abschließbar. Die Anschließbarkeit konzeptioneller Texte an Interpretationssysteme bleibt unentscheidbar.

8 Die Unabschließbarkeit der Deutung solcher Text-Seh-Werke beschäftigt den Leser-Betrachter intensiver als in konkreter Dichtung und macht ihn zum kreativen Mitspieler eines komplexen ästhetischen Kommunikationsprozesses.

9 Die Unabschließbarkeit des Erlebens- und Verstehensprozesses beim Rezipienten macht den Prozeß selbst thematisch; zugleich wird der Interpretierende/Rezipierende sich selbst im Verstehensprozeß zum Gegenstand intensiver Selbsterfahrung.

10 Im Umgang mit konzeptionellen Texten werden drei Erfahrungsweisen integriert: Werk-, Selbst- und Sinnerfahrung.

11 Konzeptionelle Texte vollziehen als Texte komplexe Möglichkeiten der Bedeutungskonstitution und ihrer kommunikativen Realisierung. Jeder konzeptionelle Text zeigt (simultan, nicht in sequentieller Narrativität) ein nukleäres Gesprächsuniversum.

(in: neue texte, heft 10, märz 1973).

Siegfried J. Schmidt, in Lothar Jordan, Axel Marquardt und Winfried Woesler (Hrsg.): Lyrik – Von allen Seiten. Gedichte und Aufsätze des ersten Lyrikertreffens in Münster, S. Fischer Verlag, 1981

 

Diethelm Brüggemann: Die Aporien der konkreten Poesie, Merkur, Heft 309, Februar 1974

 

Zum 85. Geburtstag des Herausgebers:

Nora Gomringer: Gedichtanalyse 2.0
Nora Gomringer: Ich werde etwas mit der Sprache machen, Verlag Voland & Quist, 2011

Zum 90. Geburtstag des Herausgebers:

Katharina Kohm: mein thema sei im wandel das was bleibt“
signaturen-magazin.de

Dirk Kruse: Eugen Gomringer wird 90
br.de, 20.1.2015

Rehau: Eugen Gomringer feiert 90. Geburtstag
tvo.de, 21.1.2015

Thomas Morawitzky: „Ich könnte jeden Tag ein Sonett schreiben“
Stuttgarter Nachrichten, 9.2.2015

Lisa Berins: Vom Vers zur Konstellation – und zurück
Thüringische Landeszeitung, 26.9.2015

Ingrid Isermann: „Eugen Gomringer: Der Wortzauberer“
Literatur & Kunst, Heft 76, 03/2015

Michael Lentz: Die Rede ist vom Schweigen
Neue Rundschau, Heft 2 / 2015

Klaus Peter Dencker: Laudatio für Eugen Gomringer zum 90. Geburtstag
manuskripte, Heft 208, Juni 2015

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + KLGIMDb + Archiv
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Eugen Gomringer: kein fehler im system.

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