Eugen Gomringer, Oskar Pastior, Michael Lentz und Heike Baeskow: Zu Eugen Gomringers Konstellation „schweigen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Eugen Gomringers Konstellation „schweigen“ aus Eugen Gomringer: KONSTELLATIONEN. –

 

 

 

 

EUGEN GOMRINGER

schweigen schweigen schweigen
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schweigen schweigen schweigen

 

schweigen

das gedicht besteht aus einer struktur von 14 wiederholungen des infrage stehenden wertes, die dadurch an auffälligkeit gewinnt, dass in ihrer mitte das wort schweigen einmal ausgelassen ist und als lücke wahrgenommen wird. das SCHWEIGEN-gedicht fällt paradoxerweise dermassen aus dem rahmen, dass es auf der grundlage einer auswahl von 200 gedichtsammlungen1die berühmtesten deutschen gedichte. auf der grundlage von 200 gedichtsammlungen, Stuttgart 2004 im jahr 2004 zu den berühmtesten deutschen gedichten gehört. inzwischen nimmt die zahl der interpreten zu, insbesondere, wenn noch seine übersetzung mit SILENCIO für alle spanisch sprechenden länder in betracht gezogen wird. obschon ich zu beginn meiner doktrinären darlegungen jede übersetzung verbat, damit das einzelne wart seiner elementaren kraft nicht verlustig würde, liess ich in diesem fall die übersetzung zu, weil auch das seidenweiche silencio meiner ansicht nach sinngerecht wäre.

Eugen Gomringer, aus Eugen Gomringer: poema. Gedichte und Essays, Nimbus, 2018

Mit dem Fleisch des Schweigens

Ich hätte es weder laut noch leise lesen dürfen. Der Widerspruch in sich. Schweigen schreibt man nicht, und eine Graphik spricht man nicht.
Wovon man nicht schweigen kann; davon wächst die Last, Niemandes Hose zu sein.
Wovon man nicht schweigen kann. Davon wächst die Last, Niemandes Hose zu sein.
Auf einen Schlag: Wieviel Zitate, wieviel verschwiegene Zitate sind das? Was klingt im Schweigen und im Reden vom Schweigen alles an, wenn ich also sage:

Wovon man nicht schweigen kann, davon wächst die Last oder Lust, Niemandes Hose oder Rose zu sein?

Gomringer der Anlaß / Rilke, der Grabspruch / Wittgen- und Gertrude Stein, die Zeugen / die Ausländer, ihr Vorname / Clan in einem frühen Band / Laurin in seinem mittelhochdeutschen Garten.
Und so viel anderes mehr: Windhose in allen Richtungen. Und Auschwitz natürlich, Diktum und Verdikt vom Vorher und Nachher – eine Peripatie des Schweigens.
Is a rose a rose, dann ist „a rose is a rose is a rose is a rose“ die Richtschnur des Nichtidentischen eines Schweigens.
So besehen, ist das „schweigen“ von Gomringer sehr geschwätzig. Bedeutungsschwanger geht es schwanger mit sich selbst, der Bedeutung. Begrenzt auf die fünf Zeilen, springt es aber auch ins Auge, wo es implodiert – was herauskommt, ist der Einfall.
„Schweigen“ oder „schweigen“, Substantiv oder Infinitiv – wo ist die Person, die es „tut“? Oder „sind“ es sie sie sie, vielfach im weißen Kästchen schweigend? Wie lese ich das Bild. Von links nach rechts, von oben nach unten? Ist das Bild ein Emblem, ein Wappen, ein Schild, mit der Halterung in der Mitte? Zeigt es ins Papier oder aus dem Papier heraus? Bietet die Halterung sich an, oder entzieht sie sich?
Schweigen.
Ich lese zwar durch seine Buchstaben hüpfend. Im Schweigen anagrammatisch auch dies: Einweg Schnee, eine weiche Nische, eigens gegen Schienen-Weh, Neigen wie Gegenwege; wegen Wiens Geigen weinte ich, schwinge; eine singen Schweinesengen; ich ging weg. Scheingeweih.
Anagramme legen immer Deutungsschienen. Warum freuen wir uns sonst ihrer Anklänge und Reime? Aber auch das wäre zu überlegen: Würde – mit anderen Wörtern, oder sogar Zeichen – die visuelle Anordnung des Textes nicht ebenso kontrastbildend zum Ausgesparten in der Mitte funktionieren? Denn was hier zwingend funktioniert, ist ja die Abstraktion einer Regelverletzung. Was sich semantisch monochrom und monoton, dem Auge aufbaut, wird in der „Lücke im System“ automatisch in etwas wie sein „Gegenteil“ gekippt – eine recht allgemeine Erkenntnis, unabhängig von der Bedeutung des hier verwendeten Bausteins namens „schweigen“.
In Eugen Gomringers Gebilde zeigt sich exemplarisch, „in nuce“ sozusagen (Pudel mit Kern) die Abstraktheit der konkreten Poesie.
Ich wollte, ich könnte dem Gebilde „Fleischlosigkeit“ nachsagen.
Das geht aber nicht. Denn – wohl wegen des „ei“ darin – muß ich sagen: es ist ja doch gefüllt: mit dem Fleisch des Schweigens.
Auch stellen wir uns vor: Das gleiche Modell, ausgeführt mit einem Wort wie Abacadabra. Was stünde dann, lesbar durch Kontrast im Loch? Das weiße Kaninchen? Die Aufklärung? Geist & Verstand? Gesetz? Pitigrilli? Oder Chlebnikovs Za-Um, die Poesie hinter, über der Magie?
So einfach ist es mit den Gegenteilen nicht. Auch das, auf diesem Umweg, eine Erkenntnis aus Gomringers Schweigen. Eine bitte vielleicht schwejkhafte Erkenntnis.
Und natürlich könnte das Gebilde mehr und weniger, kürzere und längere Zeilen haben. Oder das Rechteck (warum bloß ein Rechteck?) andere Seitenverhältnisse.
Im Prinzip bliebe es doch „das Prinzip des ausgesparten Zentrums“.
Aber es ist nun mal dieser eine, dieser dreispaltige fünfzeilige „Block des Schweigens“. Indem ich mich dem heraldischen Genitiv „Block des Schweigens“ überlasse, eröffnet sich jedoch, auf einer draufgesetzten Ebene, das „Loch des Schweigens“ als metaphorisches Genital der Interpretation.
Durch das nun auch etwas von der „historischen Dimension des Textgebildes als Zeitdokument“ der literarischen „Widerspenstigkeit der Nachkriegsjahre durch scheint“ – für mich, rückblickend durchzuscheinen scheint; denn damals war ich ja fernab, in Bukarest, sozusagen in der Diaspora und weit vom Zentrum der konkreten Poesie und ihrer Aktivitäten, des Frühwerks, auch Eugen Gomringers, und all der anderen innerhalb der Aura von Max Bense, versammelt um das Nierentisch-Design der knappen Machbarkeit und Nüchternheit von materialer Poesie; Magie des Wortes „text“, bis heute; oder das Flair der Formel von der Redundanz. Was ich da nachträglich an Atmosphärischem zusammenklaube, ist keineswegs sachkundig erschöpfend recherchiert; das mögen andere tun. Aus dem generativen „Loch der Interpretation“ steigt halt dies und das und hat genauso viel mit mir zu tun wie ich, sporadisch von den biographischen Rändern her, im Stand des Laien davon Kenntnis nahm. Dieses unvollkommene Wissen nehm ich mir heraus.
Vom Wappentier also der Interpretation des Schweigens. Durch das Bild, das ich mir von den frühen sechziger Jahren mache, wandelt ja auch immer noch das Einhorn als „Schweigen im Walde“, der Absolutheitsanspruch von Begriffen, sei es „der unbehauste Mensch“ aus Holthusen, sei es „das Prinzip Hoffnung“ – von Sartre kam die Art. Obwohl später; dem Wurzelstock.
Seltsam nur, wie die konkrete Poesie, indem sie alles Metaphorische verbannte, sich doch ebensolcher CHIFFREN bediente. Da setzt ein Unbehagen ein. Zumal die Revision auch dieses Unbehagens heute wieder einsetzt.
Der Block des Schweigens und das Loch des Schweigens. Grundriss der Interpretation. Oder Aufriss.
Der Blick auf einen Mund. Der Blick aus einem Mund.
Ausatmen – einatmen.
Die Zelle, der Atomkern, das Embryo.
Das Fenster in einer Mauer. Eingegrenzt ausgegrenzt. Auch Berlingeschichte.
Aus dem Tunnel – in den Tunnel, siehe Doderer. Der schweigende Berg ringsum, opak wie die Bergson’sche Dauer?
Dann gleich von oben gesehen: ein Mörser, in dem das Schweigen zerrieben wird; ein Barackengelände mit Appellhofplatz; ein Inka-Tempel mit Opferaltar. Richtstätte. Blick aus dem Brunnen, Blick in den Brunnen. Der Geschichte? Des Aufschreis? Gar Munch?
Vierzehn einzelne Schweigen. Schweigen die Schweigen zum Unrecht, das sie, die Schweigen (es schützend!) umgeben, oder zum Unrecht, das sie ringsum umgibt, weil sie das kleinere begrenzte Unrecht in ihrer Mitte schützen? Wer ist von wem in die Enge getrieben. Schweigende Mehrheit
Und was könnte man statt „Unrecht“ noch sagen? Welches Gegenteil von Schweigen ist genau und gerecht.
Zu solchen Überlegungen komme ich aber nur, wenn ich die vierzehn Schweigen wie das Schweigen überhaupt breche, aufsprenge, Verben und Präpositionen (als Wörter, die über das Schweigen hinausgehn) wuseln lasse und ihre Verhältnismöglichkeiten durchspielend spielerisch erkunde.
Darf ich das? Natürlich darf ich das, auch wenn die vierzehn Schweigen dazu schweigen, mich verschweigen oder sich um- und ausschweigen: Indem sie zu etwas, mit etwas, durch etwas eben nicht schweigen. Und somit etwas wie ein Geheimnis ausplaudern, indem sie es ausplaudernd ziemlich schmatzend bewahren.
Als Abstraktion einer breiten viereckig-breiigen Null.
Als Stadion der Stadien: 14 mal die neun, das sind die 146 Groteskschriftlettern, aufmarschierend, die Parade. Selbst die Kolonnenzwischenräume sind grotesk – wie der unsichtbare allegorische Wagen, den sie in der Mitte führen. Oder einfach das O. Staunen, Stöhnen, Stammeln.
Ein Nadeldrucker setzt aus Punkten, die streng genommen keine Ausdehnung haben, etwas Ausgedehntes zusammen.
Ich lese ein Bild.
Ich lese, Komma, ein Bild.
War das nun eine Interpretation von „schweigen“ – oder mein Text, den ich mir auf „schweigen“ gemacht habe?

Oskar Pastior, Badische Zeitung, 22.5.2001

Die Rede ist vom Schweigen

Es gibt im 20. Jahrhundert nur wenige Dichter, deren Gedichte zu internationalen Inkunabeln der Poesie geworden sind. Mit seinen „Ideogrammen“ und „Konstellationen“ hat Eugen Gomringer gleich eine Reihe solcher Inkunabeln kreiert, deren formbewusste Gestalt und Gestaltung die konkreten und assoziativen Ausdrucks-, Beziehungs- und Kommunikationspotentiale von Sprache und ihre Gebrauchsqualitäten erfahrbar machen. Gomringers Ideogramme WIND und SCHWEIGEN und seine Konstellationen BAUM KIND, WORTE SIND SCHATTEN und KEIN FEHLER IM SYSTEM zählen zum internationalen Grundbestand der Literaturgeschichte. Sie sind nicht nur in alle Weltsprachen übersetzt worden, sondern auch in verschiedenen Aggregatzuständen denkbar bis hin zu Stillleben, Skulptur und Tableau vivant.
In all seinen Tätigkeiten, ob als Dichter und Essayist, Herausgeber oder Vermittler, zielt Eugen Gomringer bis heute auf die Hervorbringung, Erforschung und Vermittlung von Konkreter Poesie und ihren intermedialen Transfer mit der bildenden Kunst. Dies lässt sich auch an seiner Biographie ablesen, die hier nur in wenigen Eckdaten wiedergegeben sei: Geboren 1925 in Cachuela Esperanza als Sohn einer Bolivianerin und eines Schweizers, war Eugen Gomringer in den 5oer Jahren Mitarbeiter von Max Bill in Ulm an der Hochschule für Gestaltung, deren Lehrinhalte u.a. auf die Produktgestaltung im Spannungsverhältnis von Ästhetik, Design und Nutzanwendung ausgerichtet waren, leitete von 1961 bis 1967 den Schweizer Werkbund sowie von 1967 bis 1985 die Kulturarbeit der Rosenthal AG. An der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf war er von 1977 bis 1990 Professor für die Theorie der Ästhetik und ist seit 1988 Intendant des Internationalen Forums für Gestaltung in Ulm. 2000 gründete er das Institut für Konstruktive Kunst und Konkrete Poesie (ikkp) an seinem langjährigen Wohnort, dem oberfränkischen Rehau. Gomringers umfangreiche Sammlung konkreter Kunst und Poesie bildete den Grundstock des 1992 eröffneten Museums für Konkrete Kunst in Ingolstadt. Seine auch intermaterialen Gemeinschaftsarbeiten mit Dichterkollegen und bildenden Künstlern, darunter u.a. Günther Uecker, Max Bill, Heinz Gappmayr, Rupprecht Geiger, Jo Enzweiler, Vera Röhm und Marcel Wyss, sind vorbildlich dokumentiert in dem von Annette Gilbert herausgegebenen Band NICHTS FÜR SCHNELL-BETRACHTER UND BÜCHER-BLÄTTERER. Eugen Gomringers Gemeinschaftsarbeiten mit bildenden Künstlern (2015).
Neben bildender Kunst und Design gibt es noch andere Bezugnahmen, die für Gomringers „programmieren der struktur“ und den ästhetischen „einbezug des raumes als zwischen- und umgebungsraum, der einzelne elemente nicht nur trennt, sondern auch verbindet und dabei Assoziationsmöglichkeiten schafft“ wesentlich gewesen sind. In seinem Aufsatz POESIE ALS MITTEL ZUR UMWELTGESTALTUNG – man beachte die doch unvermutete und heute wieder überraschende Querverbindung, scheint hier die Poesie doch die Kunst am Bau verdrängt zu haben –, schreibt Gomringer, er sei „bei den gestaltern und architekten, bei der industrie, den grafikern und typografen, bei den werbern und ergonomen nochmals in die schule“ gegangen.
In den „biografischen Berichten“ KOMMANDIERT(T) DIE POESIE (2006) hat der Autor die Wechselbeziehung von Leben und Werk im Zeichen der Konkreten Poesie beredt aufgezeigt. In diesen „Fragmente(n) der Erinnerung an ein armes, reiches Bolivien und der Wirklichkeit der Schweizer Jahre und der nun sehr vertraut gewordenen deutschen Umgebung“ (seit mehr als dreißig Jahren wohnt der Dichter in Deutschland) begegnet der Leser Elias Canetti, Max Frisch, Helmut Heißenbüttel, Hermann Hesse, Walter Gropius und Salvador Dali, er erfährt etwas über die benannten Lebensstationen, den Schweizer Werkbund, über sein Engagement als Kulturbeauftragter bei dem damals nur Insidern bekannten Porzellanfabrikanten Philip Rosenthal oder z.B. über seine Zeit als Sekretär bei Max Bill, dem Mitbegründer der Hochschule für Gestaltung Ulm.
Unvermutete Querverbindungen der Literatur- und Kunstgeschichte tun sich auf, der Sperrbezirk sich nach gängiger Meinung ausschließender ästhetischer Konzepte wird osmotisch durchbrochen.
Hier sei selbst eine Querverbindung erlaubt, ein osmotischer Durchbruch ästhetischer Konzepte vollzieht sich auch in QUADRATE ALLER LÄNDER, dem Band 4 der Gesamtausgabe. Die MÄRCHEN, TEXTE, GEDICHTE und WURLITZER VERSE des mehrfarbig gestalteten Bandes dokumentieren, dass die andere, die konventionellere Dichtung in der Konkreten bzw. intermedialen Poesie enthalten sein kann, zumindest aber mitgedacht ist – und umgekehrt, ganz nach einer Zeile aus den WURLITZER VERSEN:

was einmal war, ist längst gedicht.

Auch wer den Dichter zu kennen meint, seine MÄRCHEN und TEXTE sind eine wahre Überraschung, ein wunderschönes „wurzelwerk“. Und Wurzeln im Märchenbestand schlägt schon das GEHEIMNIS DES ALTEN BAUMES.
Hier ist jemand, der von Anfang an Sehen, Sprechen, Anordnen, Begreifen als eine Tateinheit verstanden hat und zwar von Kunst und Leben. Einer auch, dessen Credo immer war, dass es nicht vieler Umstände bedarf, dass es ruhig etwas weniger sein kann, nur dieses Wenige zu finden ist ungeheuer schwer. In diesem Sinne des Auffindens ist Eugen Gomringer sicher einer der wichtigsten Erfinder der Dichtkunst.
Vom Sonett zur Konstellation, zur Konkreten Poesie, zu Dialog und Märchen, zu Dreieck, Kreis und Quadrat und wieder zurück zum Sonett. So könnte die konsequente Bewegung von Gomringers Kunst beschrieben werden.
Wie es zu dem doch merkwürdig anmutenden Kommandiertitel des Buches KOMMANDIERT(T) DIE POESIE kam, erzählt der Dichter übrigens auch. Als junger Grenadierleutnant, zu dessen Aufgaben das Entschärfen von Blindgängern gehörte, fühlte er sich hin und hergerissen zwischen seinen Dienstpflichten und dem Schreiben von Gedichten. Auf keinem der beiden Gebiete wollte er selbst zum Blindgänger werden. Also fragte er seinen General, was in diesem Falle zu tun sei. Der antwortete mit Goethe:

So kommandiert die Poesie.

Das hat Eugen Gomringer fortan getan, im Geiste eines Aphorismus von Jean Paul:

Sprachkürze gibt Denkweite.

Wie heißt es so bündig in den WURLITZER VERSEN:

es adelt ihn die knappe strenge.

Kaum jedoch kann die Strenge noch knapper werden als im Ideogramm „Schweigen“.
Eugen Gomringers „Ideogramm“ SCHWEIGEN, 1960 zum ersten Mal erschienen in der Gedichtsammlung 33 KONSTELLATIONEN, ist eine internationale Inkunabel der Poesie im Grenzbereich zwischen Text und Bild, Text als Bild, Bild als Text.
Mit dem Begriff der „Konstellation“ knüpfte Eugen Gomringer an Stephane Mallarmé und die geometrisch orientierte, mit abstrakten Formmustern arbeitende Konkrete Kunst eines Josef Albers an.
Ein „Ideogramm“ – vom Griechischen „idéa“: Form, Gestalt, Erscheinung und „grámma“: Geschriebenes, Schrift(zeichen), Buchstabe – ist laut Duden ein „Schriftzeichen, das nicht eine bestimmte Lautung, sondern einen ganzen Begriff vertritt“. Kluge zufolge wurde die Bezeichnung „Ideogramm“ in der „Wissenschaftssprache gebildet, um ein Schriftzeichen zu benennen, das einen Inhalt (eine Idee) repräsentiert und nicht (oder nicht von vorneherein) auf die Lautform Bezug nimmt“.2 Welche Lautform könnte SCHWEIGEN haben? Ist SCHWEIGEN das Gegenteil jeder denkbaren Lautform? Gegenfrage: Wie kann SCHWEIGEN als Begriff abgebildet werden? Mit dem Wort „schweigen“? Über „schweigen“ kann man nicht sprechen. Also muss man über „schweigen“ schweigen. Ist in diesem „schweigen“ der Begriff schweigen ausgedrückt? Gleichwohl können wir „schweigen“ sehen – als Wort. Wir sehen die Buchstabenfolge s-c-h-w-e-i-g-e-n im Wortverbund SCHWEIGEN, aber nicht den Begriff „schweigen“, seine Extension (Umfang) und seine Intension (Inhalt; Bedeutung bzw. Sinn).
In Eugen Gomringers Ideogramm SCHWEIGEN ist das Wort „schweigen“ vierzehn Mal anwesend und zwar in Form seiner je dreifachen horizontalen Setzung zu fünf Zeilen bzw. seiner je fünffachen vertikalen Setzung zu drei Spalten, mit der Besonderheit, dass in der dritten Zeile bzw. in der mittleren Spalte anstelle des Wortes „schweigen“ die bloße Fläche des Trägermediums erscheint, Figur und Grund in ihrer Wahrnehmungshierarchie sich also umdrehen, der Grund zur alleinigen Figur wird. Hier fehlt das Wort „schweigen“, aber es fehlt genauso jedes andere Wort, das neun Buchstaben aufweist, „Gomringer“ zum Beispiel, lässt man einmal unberücksichtigt, dass auch ganz andere Wörter mit einer kleineren Schriftgröße und folglich einer größeren Anzahl an Buchstaben implementiert werden könnten, die das Schweigen repräsentieren oder auf „schweigen“ referieren.
Es ist nicht gesagt, dass in der Auslassung das Wort „schweigen“ verschwiegen wurde. Die berühmte Lücke in der dritten Zeile bzw. mittleren Spalte ist eben nur so groß, dass das Wort „schweigen“ darin Platz finden und die Lücke schließen würde. Die Anwesenheit einer Abwesenheit resultiert aus ihrer Einvierung. Geht man bei Gomringers Ideogramm allerdings von der Heautonomie der Serie aus, der Freiheit zur Erfindung eines Prinzips der Reihe, ist es eine Denknotwendigkeit, das Fehlen des Wortes „schweigen“ zu konstatieren.
Als Bildzeichen fungiert das Ideogramm insbesondere auch dann als Begriffszeichen, wenn der Begriff ungegenständlich ist. Das ist bei SCHWEIGEN der Fall. Das Wort bzw. der Begriff „schweigen“ meint einen komplexen Sachverhalt, es zielt nicht einfach auf das Fehlen von etwas.
Kann man Schweigen hören? Kann man Schweigen sehen? Wie materialisiert sich Schweigen? Ist es rechteckig? Ist es ein rechteckiges Loch, eine bezeichnenderweise von seiner Benennung umstellte Auslassung, die selber nicht benannt werden kann, weil sie dann kein Schweigen mehr wäre? Muss also die Benennung verschwiegen werden, um das durch sie Bezeichnete performativ erfahrbar zu machen? Handelt es sich demnach beim Schweigen um einen Erfahrungsbegriff? Ist es ein beredtes Schweigen oder eine schweigende Rede? Meint „schweigen“ bei Eugen Gomringer eine Aufforderung oder einen Zustand? Die Unentscheidbarkeit dieser Frage hat wohl die Kleinschreibung von „schweigen“ motiviert. So kann es als Verb und zugleich als Substantiv bzw. substantiviertes Verb gelesen werden.
Gomringer setzt mit seinem Ideogramm das Wort „schweigen“ autonom, er lässt es ohne ein anderes Umfeld als es selbst erscheinen, indem es bzw. der Betrachter zwischen den beiden Materialisierungsebenen seiner im Rechteck angeordneten vierzehnmaligen Benennung und der gevierten Auslassung seiner potentiellen fünfzehnten Benennung hin und her oszilliert. Als Ideogramm auf Papier gesetzt, inszeniert SCHWEIGEN eine Konstellation der Fläche, die vom Papier selbst begrenzt wird. Gehören die Grenzen des Papiers bzw. des jeweiligen Trägermediums bei jeder Reproduktion des Ideogramms also zu derselben, so gibt es gewissermaßen ein Interieur und ein Exterieur, ein inwändiges und ein auswändiges Schweigen: Im Feld des Unbenannten und Unbenennbaren leuchtet die Benennung auf: schweigen. Die Benennung kann nicht am selben Ort sein wie das Benannte.
Mit anderen Worten: Hat das Ideogramm SCHWEIGEN keine andere Umgebung als sich selbst im unaufhebbaren Wechsel von gesagtem und ge- bzw. verschwiegenem Schweigen, die beide wechselweise aufeinander referieren als Differenz des Anderen, ist das semiotisch-strukturelle Grundmodell, das dem Ideogramm SCHWEIGEN zugrunde liegt, ein paradoxaler Chiasmus: in der Rede vom Schweigen findest du das Schweigen nicht, das du nur findest, wenn vom Schweigen nicht mehr die Rede ist, der es aber bedarf, um Schweigen zu wissen. Die Rede vom Schweigen ist dort, wo das Schweigen nicht ist, das nur dort ist, wo von ihm als Schweigen gesprochen wurde im Sinne eines Zeigens.
Was sich hier vollzieht, ist ein unabschließbarer Prozess des gegenseitigen Verweisens. Hierbei operiert das Benennen statisch (schweigen = schweigen), seine Begriffs-Auslegung ist jedoch keinesfalls invariant; das Benannte erweist sich als leere Transzendenz, als das durch das Benennen immer wieder entdunkelte Imaginäre, mag man es als ewige Stille und die Angst vor ihr denken, als arkanes Wissen um das Unsagbare, zum Beispiel um den im Schweigen angerufenen Gott, oder als kontemplative Denkfigur, die als Benennung und Benanntes paradoxal in ihr Anderes kippt: Was hier abwesend ist, ist zugleich anwesend – und vice versa. Das Sichtbare und das Unsichtbare bilden so eine paradoxe Einheit. Die Stille des Schweigens wird permanent aufgehoben durch seine optische und mentale Valenz, die von der Performativität des Schweigens im Akt der (Selbst)Wahrnehmung – auch des Ideogramms SCHWEIGEN – sprechen lässt. Es gibt kein Schweigen, es gibt nicht Nichts.
Eugen Gomringers Ideogramm SCHWEIGEN repräsentiert weniger „schweigen“ bzw. das Schweigen, als vielmehr den Medienwandel von der oralen zur Schriftkultur. Es operiert mit Präsenz und Entzug. Das, was entzogen wurde, fungiert als Memoria, als Gedächtnis und Gedenken. Unsagbarkeit ist dem Ideogramm als Repräsentationsproblem eingeschrieben. Das Imaginäre ist vorläufig unsagbar. Es manifestiert sich in Traum und ästhetischer Gestaltung gleichermaßen, die beide das Imaginäre mobilisieren. Das Imaginäre ist im Ideogramm SCHWEIGEN zugleich entbunden und gefesselt: in bzw. als medial und gestalterisch kontrollierte(r) Umgebung soll es das imaginierende Subjekt nicht überschwemmen.
Das Ideogramm SCHWEIGEN affiziert die Imagination. Was Schweigen ontisch ist, kann nicht propositional ausgedruckt, sondern in synonymischen Reihen immer nur verschoben werden. Diese Verschiebung zeigt sich im Ideogramm SCHWEIGEN in der auch eine rhythmische Taktung und mithin Zeit signalisierenden Wiederholung: Das auf sich selbst abgebildete Schweigen vollzieht sich in der Zeit, die stillsteht (im Starren auf das Ganze) und gleichzeitig voranrückt (im Sprung von Wiederholung zu Wiederholung) und ist offen für die Operation, variierenden Signifikaten zugeordnet zu werden, während es doch selbst auf sich als einen Nullsignifikanten zielt. Das Verschwiegene, wenn es denn ein solches überhaupt gibt, und wir es nicht einfach nur appräsentieren, es dem Gebilde unterstellen – das Verschwiegene ist gewissermaßen die Sammelstelle, die Botanisiertrommel des Imaginären. Das Imaginäre als stets voranlaufendes, unerreichbares Begehren ist ein Paradox: es ist und ist zugleich nicht, es ist Etwas, aber zunächst nichts Bestimmtes. Die Lücke in Gomringers Gestaltung SCHWEIGEN, ein visuelles Gapping, die vielleicht berühmteste Ellipse der Literaturgeschichte, ist nicht nichts, sie ist etwas, aber nichts Bestimmtes. An ihr entzündet sich das poetische und das ästhetische Denken Eugen Gomringers. Durch diese Lücke schlüpfen seine Ideogramme und Konstellationen, die sich als Mobiles im kontextlosen Raum einfinden. Kontextlos, sieht man sie als autonome ästhetische Gebilde; nimmt man Gomringers Ideogramme und Konstellationen allerdings als ikonographische Statements im Bezugsrahmen einer Querelle des Anciens et des Modernes des 20. Jahrhunderts wahr, was ihrem Eigenwert nicht gerecht würde, läse man sie als bloße Inkunabeln avancierter/experimenteller Ästhetik, als das Andere, das dem Vorherrschenden das Stillschweigen auferlegt.
Ohne Ordnung ist Abweichung nicht zu denken. Mit dem Ideogramm SCHWEIGEN zeigt Eugen Gomringer eine Ordnungspoetik, in der die Digression als unendliche Denkfigur implementiert ist. Dergestalt kann das Ideogramm auch als rhetorisches Modell beschrieben werden, dessen Gestalt aus Änderungsoperationen hervorgegangen ist. Die Rhetorik kennt vier verschiedene Änderungsoperationen, mit denen von einer Ordnung abgewichen wird. Das Ideogramm SCHWEIGEN ist konstituiert durch die Operation der detractio, des Wegfalls bzw. der Entfernung eines Elements, wenn man die fünfzehnmalige Wiederholung des Wortes bzw. der Zentralchiffre „schweigen“ als heautonome Setzung einer/der Normalform betrachtet. Die Repetitio, im Ideogramm SCHWEIGEN auch in der Funktion einer rhythmischen Taktung, ist in der Rhetorik eine der „figurae per adiectionem“, die Lausberg zufolge der „Vereindringlichung“ dient, die meist affektbetont sei, aber auch intellektuell ausgewertet werde. Die Wiederholung ist eine rhetorische Figur mit differenzierter Wirkungsabsicht. Wenn bei der Wiederholung derselben Wörter die „Erstsetzung des Wortes“ die „normale semantische Informationsfunktion“ hat und die Zweitsetzung „die Informationsfunktion der Erstsetzung“ voraussetzt, darüber hinaus eine „affektisch-vereindringlichende Funktion“ hat, so Lausberg gemäß dem römischen Rhetoriker Quintilian,3 fragt es sich, welche Informationsfunktion das Wort „schweigen“ hat bzw. haben kann und ob das Wort „schweigen“ bei Gomringer durch seine asyndetische Kontaktwiederholung nachdruckhaft gesteigert wird, oder ob nicht vielmehr die ideogrammatische Form den Affekt diszipliniert und ableitet in einen vom Teil zum Ganzen hin- und her oszillierenden Rezeptionsmodus meditativen Starrens, so dass dem Ideogramm trotz seiner Repetitio keine Pathosformel affektischer Überbietung eignet? Ich neige zu letzterer Annahme, mit folgender Begründung: Das Ideogramm SCHWEIGEN ist und bleibt stumm. Insofern vollzieht es performativ einen Medienwandel von der Rede bzw. der Schrift hin zur stummen bildenden Kunst, es kann weniger gelesen als angeschaut werden: Der Betrachter kann auf Eugen Gomringers Ideogramm SCHWEIGEN sehr schön starren.
Schweigen ist erfahrbar im Selbstvollzug des Schweigens. Als solches ist es jedoch ephemer, als Typus wird es von verschiedenen Token bespielt, die alle nur seine Stellvertreter sind. Mit seinem Ideogramm SCHWEIGEN, aufgebaut mittels Wiederholungsprinzip und signifikanter Abweichung von ihm, zeigt uns Gomringer eine artifizielle Präsenz, eine stumme Anrufung des Schweigens, sein denkbares, mögliches Design. Das Ideogramm SCHWEIGEN kreist in seinem eigenen viereckigen Kontext. Es fehlt nicht viel, und es wäre die Quadratur des Kreises.
Was repräsentiert Gomringers SCHWEIGEN? Repräsentiert es das Nichtrepräsentierbare schlechthin, für das der Begriff „Schweigen“ selbst nur eine Art Katachrese darstellt? Steht der Begriff „schweigen“ für das Nicht-Begriffliche, das angeschaut, erlebt, kaum aber gedacht werden kann? „schweigen“ kann nicht in den „epistemischen Kontext wahrheitsbezogener Begriffsverwendung und ihrer Logik“4 gesetzt werden. Das Ideogramm SCHWEIGEN als ein Bildzeichen des Nicht-Begrifflichen lässt sich nur schweigend adäquat rezipieren.
Ist Gomringers SCHWEIGEN zweidimensional? Es ließe sich sicherlich als dreidimensionaler Kubus realisieren. Was aber wäre hierdurch gewonnen? Es ist ein Token der Literatur, aus Buchstaben gemacht. SCHWEIGEN ist eine Denkfigur. Als Denkfigur ließe es sich mehrdimensional denken/appräsentieren, ohne dass Mehrdimensionalität realisiert wäre.
Was verschweige ich, wenn ich auf diese Weise über Gomringers SCHWEIGEN spreche? Verlasse ich Fragen der experimentellen Semiotik und Materialästhetik und die ihnen korrespondierenden Wahrnehmungsmodi, steht es mir frei, mit „schweigen“ einen bislang unterdrückten Begriff zu assoziieren: Silentium ist ein Begriff, der als Gebot vorbildlich in klösterlichen Kreuz- und Zellengängen praktiziert wird. Gibt es eine Rhetorik des Schweigens, so gibt es auch das Sakrale des Schweigens. Und es gibt eine Synthesis von Rhetorik und Schweigen: die rhetorica sacra. Von hier aus ist es nur ein Sprung zu Punkt 6.522 in Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus:

Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.

Eugen Gomringers Ideogramm SCHWEIGEN zeigt Unaussprechliches. Gomringers Kunst elementarer Reduktion und Rekombination im Spannungsverhältnis der Intermedialität von Text, Bild und Skulptur hat ihm zuweilen den Vorwurf des (zu) Einfachen und sprachphilosophisch Naiven eingebracht und selbstreferenziell bloß an der Langue orientiert zu sein. Übersehen wurden dabei neben dem zeitgeschichtlich grundierten Impuls programmatischer Dekontextualisierung von Sprache bzw. Wörtern Kontemplation und Meditation als die rezeptiven Entsprechungen von Gomringers konkreten Verfahrensweisen, die sich nicht nur aus ästhetischen Kalkülen der Frühen Moderne, der historischen und (zeitparallelen) Nachkriegsavantgarden speisen, sondern auch von europäischer (Meister Eckhart) und fernöstlicher Mystik (Zen) beeinflusst sind.
Dieser spirituelle Einfluss ist bildlich gesprochen zugleich die Brücke zu den späten Sonetten von Eugen Gomringer, die mit ihrer regulativen Strenge meditative Sinn-Erfahrungen konstellieren ganz im Sinne der Konkreten Poesie: „verstummen soll beim übertritt der schwelle / all dein geschwätz und achte jedes wort“, heißt es in CITEAUX aus dem Band EINES SOMMERS SONETTE (2008). Hier schließt sich ein Kreis, als Sonettschreiber ist Eugen Gomringer zu seinen eigenen Anfängen zurückgekehrt.
Achte jedes Wort, auch wenn es sich vielfach wiederholt. Was sich in SCHWEIGEN vollzieht, ist kein antipoetischer Pleonasmus, kein Spiel, kein Witz. „schweigen“ ist ganz ernst – und es macht Ernst: mit den Grenzen des Sagbaren, mit dem Imaginären, dem es so schön begehrenswert das Fenster öffnet. Und es fliegt hinein und wieder hinaus, das Imaginäre, wenn wir nicht hinschauen, und deshalb müssen wir Eugen Gomringers Ideogramm SCHWEIGEN immer wieder durchqueren.

Michael Lentz, Vortrag zu Eugen Gomringers 90. Geburtstag in der Akademie für Gesprochenes Wort, Stuttgart, 7.2.2015; veröffentlicht in Neue Rundschau, 126. Jg., Heft 2, 2015

Die Vergangenheit der Zukunft

Bei dem folgenden Dialog handelt es sich um einen Auszug aus dem Kapitel „In geselliger Runde“. Die Schüler Christiane, Alex, Tim und Kevin sitzen mit einem Herrn, der sich als Anno von Dazumal vorgestellt hat, im Weimarer Residenz-Café.

[…]

Kevin erwiderte die Anspielung auf seinen ungezügelten Appetit mit wieherndem Gelächter, bis er von Alex übertönt wurde. „Hey, mir kommt gerade ’ne Idee!“
Kevin hörte auf zu lachen, und alle Augen richteten sich erwartungsvoll auf Alex. Er sah aus, als hätte ihn ein Geistesblitz getroffen. „Mach’s nicht so spannend“, drängelte Christiane. Alex wandte sich dem Gastgeber zu und sagte: „Anno, du hast doch das Dichten so gut drauf. Vielleicht kannst du uns ’nen kleinen Tipp geben. Wir sollen nämlich für nächste Woche Freitag ’ne Interpretation zu einem Gedicht schreiben, aber irgendwie kriegen wir das nicht auf die Reihe.“ „Mit dem größten Vergnügen“, erwiderte Anno. „Wovon handelt es denn, euer Gedicht? Wer traut sich, es aufzusagen? Nur zu.“ Christiane begann zu drucksen. Dann sah sie hilfesuchend zu ihren Freunden. Kevin stocherte in seinem Kuchen herum, Tim spielte mit seinem Feuerzeug, und Alex grübelte vor sich hin. Als Anno ihr aufmunternd zunickte, murmelte sie: „Also, aufsagen kann man das eigentlich gar nicht so richtig.“
„Ist es zu lang? Sind es der Worte zu viel?, fragte Anno.
„Nee, im Gegenteil, eher zu wenig“, sagte Tim und steckte das Feuerzeug wieder ein.
Anno stutzte. „Geriet das Versmaß aus den Fugen?“
„Nö, das ist eigentlich noch im Lot, und die Fugen sind auch noch da“, überlegte Kevin laut.
„Ist der Inhalt so heroisch, dass es nicht mehr zeitgemäß ist?“
„Auch nicht“, gab Christiane kichernd zur Antwort, bevor sie einen Versuch unternahm, Anno das Gedicht nahezubringen.
„Weißt du, das ist also… das ist wie ein kleiner Kasten aus Wörtern, und in der Mitte…“
„Ein Kasten aus einem Wort“, schulmeisterte Kevin.
„Na gut, aus einem Wort, das da so ungefähr zwölfmal steht.“
„Es steht genau vierzehnmal da, und in der Mitte steht nichts“, ereiferte sich Alex.
„Okay, also vierzehnmal.“
Nun gab auch Tim seinen Senf dazu. „Das ist kein Kasten, das stellt einen Raum dar.“
Christiane verlor allmählich die Geduld. „Unterbrecht mich doch nicht andauernd, Mann! Ich will Anno das ja erst mal veranschaulichen, damit er sich das optisch vorstellen kann. Außerdem ist das mit dem Raum schon deine Interpretation, Tim. Soweit sind wir ja noch gar nicht.“
So viel Mühe Anno sich auch gab, er konnte sich beim besten Willen nichts unter dem poetischen Werk vorstellen, über das seine Freunde beinahe in Streit gerieten. Christiane unternahm einen neuen Versuch. „Also, pass mal auf. Da ist ein einziges Wort, und das ist vierzehnmal so gedruckt, dass das Ganze die Form eines kleinen Raumes… äh, ich meine, eines kleinen Kastens hat. Nur in der Mitte ist eine Lücke. Da steht gar nichts drin.“
„Und welches Wort befindet sich in jenem Kasten, außer in der Mitte“, fragte Anno erwartungsvoll.
„Schweigen“, riefen alle vier lachend im Chor.
Genau darin bestand auch Annos erste Reaktion. Dann blickte er belustigt in die Runde. „Ihr beliebt zu scherzen.“
Prompt folgte das nächste Unisono: „Neiiin!“ Kevin bekräftigte: „Das ist echt wahr, darum schnallen wir das ja alle nicht.“
„Das Gedicht ist von Eugen Gomringer“, erläuterte Tim. „Das ist der Erfinder der Konkreten Poesie.“
Da Christiane bemerkte, dass Anno dem Diskurs nicht mehr zu folgen vermochte, zottelte sie einen kleinen Notizblock und einen Kugelschreiber aus ihrer Tasche hervor und schrieb das SCHWEIGEN kurzentschlossen nieder. Dann schob sie ihm den Block zu.

Gedicht „schweigen“ von Eugen Gomringer in Schreibschrift

Zeile für Zeile studierte Anno das Gedicht und schlürfte dabei seinen Wein. Nachdem er den Block ein paarmal gedreht hatte, suchte er nach einem möglichen Sinn.

Der Dichter versteht sich darauf, mit Worten zu zeichnen. Er schafft auf diese Weise eine Form der Kunst, in der das Dichterhandwerk sich mit Malerei vereint. Das ist vortrefflich. Vielleicht ist es gerade diese Schlichtheit, diese Sparsamkeit im Ausdruck, die eine Botschaft transportieren soll… eine Botschaft, die in sich widersprüchlich ist… beredtes Schweigen.

Gebannt lauschten die Schüler den Überlegungen des Meisters.

„Willst du dich am Ganzen erquicken, so musst du das Ganze im Kleinsten erblicken“, sagt Goethe. Die wahre Schweigsamkeit entspringt der Lücke, denn Schweigen lässt sich nicht in Worte kleiden. Spiegelt dies Gedicht die Seele dessen, der es konstruierte? Wenn dem so ist, so liegt es nahe, dass er sein Schweigen uns enthüllen will. Er macht es zum Mittelpunkt seiner Wortarchitektur und errichtet ringsherum Mauern des Schweigens, die gleich einer Festung es umschließen. Stimmt der Betrachter in das Schweigen ein, so sieht er unversehens sich gefangen in der Sprache seiner eigenen Sprachlosigkeit.

Anno verstummte.
An seinem Tisch wurde wieder laut applaudiert. „Sag ich doch!“, rief Tim enthusiastisch, „das ist eher ein Raum als ein Kästchen.“
„Los, Christiane, schreib das schnell auf, bevor wir’s wieder vergessen“, mahnte Kevin. Christiane nahm den Block wieder an sich und kritzelte einige Stichworte aufs Papier. „Aber schreiben muss es nachher jeder für sich allein“, betonte sie. „Du bist wirklich unsere Rettung, Anno. Danke!“
Trotz der allgemeinen Begeisterung schien Anno mit seiner Interpretation noch nicht ganz zufrieden zu sein.

Weshalb der Dichter jedoch schweigt und dies in Rätseln kundtut, entzieht sich meiner Kenntnis.

Christiane winkte ab.

Macht nichts, das hat bestimmt irgendwas mit der Entstehungszeit zu tun. Das muss unsere Lehrerin selbst rausfinden. Außerdem sagt die immer, wir sollen nicht überinterpretieren, also wir sollen uns hauptsächlich an das halten, was da steht. Auf jeden Fall hast du uns sehr geholfen. Wir hatten schon überlegt, ob wir nächste Woche Freitag blaumachen sollen.

[…]

Heike Baeskow, aus Eugen Gomringer: poema. Gedichte und Essays, Nimbus, 2018

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