Eugen Gomringer und Hans Peter Riese: Zu Eugen Gomringers Konstellation „est est est“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Eugen Gomringers Konstellation „est est est“. –

 

 

 

 

EUGEN GOMRINGER

est est est
est est est
est est est

 

est est est

diese KONSTELLATION besteht aus dem vielsagenden wort „est“. damit wird dem hilfsverb in der dritten person einzahl eine alleinstellungsbedeutung auferlegt. es tritt ein in die bedeutung von „sein“. es steht im zusammenhang mit einem so wichtigen philosophischen satz wie „esse est percipi“ – „sein ist wahrgenommen werden“ (george berkely 1685–1755).
für mich war die wahl dieses wortes wichtig auch noch aus dem grund, dass es als grundwert begriffen wird, auch wenn sein zusammenhang nicht überall mitverstanden wird. und ebenso wichtig war mir seine kürze. es gehörte ja zu den frühesten forderungen an die neue konkrete poesie, dass sie das einwort-gedicht zustande bringen sollte. in einem einzigen wort sollte der umfang eines gedichtes aufleuchten. es war vielleicht diese forderung, dass nach dem einwort-gedicht gesucht wurde. ich fand es für mich im „est“, das kurz und bedeutend ist.
da zum findungsprozess einer KONSTELLATION mit worten stets auch techniken wie permutation, addition und progression zählen, ergab sich aus der dreizahl der buchstaben von „est“ die dreimalige folge horizontal, aber auch die wiederholung in zwei weiteren zeilen, so dass ein block von 3 x 3 wörtern entstand, entstehen musste. die dreizahl stimmt demnach horizontal, vertikal und – wenn man will – diagonal. es kann sozusagen vollkommenheit beansprucht werden. doch war damit auch die bedeutung irgendwie gefordert.
ein freund, der vertraut ist mit meinen vorlieben für den wein „est est est“ hat sofort einmal daraus geschlossen, dass die KONSTALLATION sich lediglich als hommage an den bekannten wein zu verstehen habe. wahr ist, dass ich während meines ersten studienaufenthaltes in rom im jahr 1947 besonders diesem wein zusprach nebst einer mozzarella, welche die studentische kost abrundete.
„est est est“, wurde bald festgestellt, war ein wein aus orvieto, nicht weit von rom, eine stadt, berühmt auch wegen ihres doms mit der relativ seltenen gotischen frontseite. beides war eine reise wert und eines berichtes an anderer stelle. erst kürzlich aber erfuhr ich von einer legende, wonach ein hoher geistlicher würdenträger einst auf der reise nach rom seinen diener vorausschickte, um ihm die besten orte für weingenuss mit einem „est“ zu bezeichnen. nun, der diener erreichte den höhepunkt seines vorkostens, sodass er den ort nur mit dem maximum „est est est“ auszeichnen konnte.
die KONSTELLATION aus dem wortblock gilt unter liebhabern der gestaltperfektion als ein absolutum, das nicht mehr zu übersteigen ist. ich gebe gerne zu, dass ich das anstrebte, mir jedoch zum intellektuellen vergnügen in diesem fall auch das genüssliche zuhilfe kam.

Eugen Gomringer, aus Eugen Gomringer: poema. Gedichte und Essays. Nimbus, 2018

est est est

Eigentlich sollte es nicht schwerfallen, über eine so vertraute Gestalt wie Eugen Gomringer zu schreiben. Seit über zwanzig Jahren gehören seine poetischen Texte, seine Künstlermonographien, seine Manifeste und Katalogeinleitungen zum intellektuellen Standard all jener, die sich mit der konkreten Poesie und der konstruktiv-systematischen Kunst befassen. Dennoch: je intensiver ich die Bücher wieder lese, mich mit seinen Theorien auseinandersetze, der konkrete Mensch hinter all den Worten entzieht sich immer wieder der Annäherung. Die landsmannschaftliche Färbung seines gesprochenen Wortes verrät unschwer den Schweizer. Aber Vorsicht! Die Benutzung der Mundart verrät gar nichts über den Autor als Schweizer! Helmut Heißenbüttel hat uns einen Hinweis gegeben, wie seine Texte zu lesen sind:

Die Erschliessung der KONSTELLATIONEN muß sich an die Zusammenstellung der Wörter, an die Gleichklänge der Kontraste, an die Wiederholungen, an die typographische und graphische Anordnung, an die, vor allem in den KONSTELLATIONEN in Schweizer Mundart benutzten, akustischen Kombinationsmöglichkeiten halten.

Mir scheint, die Methode taugt auch zur Annäherung an den Menschen Eugen Gomringer, der sich so perfekt hinter die Worte zurückzuziehen versteht. Die Frage nach der Biographie beantwortet er ohnehin mit einem geschriebenen Lebenslauf: Worten. Er benutzt sie, um den subjektiven Eindruck zu objektivieren. Wenn Worte aber Zeichen bedeuten, ähnlich den internationalen verkehrszeichen, dann müssen sie in der Lage sein, gleich oder ähnliche Reaktionen hervorzurufen. Und welche Rolle spielt der Urheber in dieser Kommunikation, Eugen Gomringer?

im allgemeinen kommunikationssystem sitzt der dichter an den beiden menschlich-psychologischen polen: an der quelle der information und deren aufschlüsselung für den gebrauch. Er gehört zur gruppe der universalökonomen und ist berater des ingenieurs.

Das Zitat reizt zu einem biographisch-psychologischen Exkurs. Die Mutter gerät ins Blickfeld. In der Biographie werden die Eltern nur mit einer Zeile erwähnt: Mutter Bolivianerin, Vater Schweizer. Die Mutter ist eine spanisch sprechende Indianerin, sie kann bis heute nicht lesen und schreiben, sie ist eine kluge Frau, eine weise?
Wir wollen die Psychologie nicht zu sehr strapazieren, aber es reizt schon, sich den Kontrast vorzustellen zwischen einem Sohn, dem Sprache, zumal geschriebene Sprache, zum Lebensinhalt geworden ist, und einer Mutter, die sich einen Teil ihrer Identität auch dadurch bewahrt, daß sie die Schrift der Eroberer ihrer Heimat und der Kolonisatoren ihres Volkes nicht lernen mochte. Für Eugen Gomringer mag in diesem Kontrast eine Wurzel der besonderen Sprachsensibilität liegen, die ihn sich der konkreten Poesie zuwenden ließ. Er spricht mit seiner Mutter Spanisch, hat sich vom Vater und aus der Jugend- und Studentenzeit die heimatliche Schweizer Mundart bewahrt, in Italien studiert und das Hochdeutsch als Sprache seiner Dichtung gewählt. Das herausragende Merkmal dieser Dichtung ist dennoch nicht ihre regelhaftige sprachliche Internationalität, sondern ihre intellektuelle Universalität. Sein in fünf Sprachen (in einem Band) erschienenes STUNDENBUCH zeigt dies auf besonders eindrucksvolle Weise. Nimmt man den Benutzungshinweis von Heißenbüttel als Lesehilfe dieser Gedichte, so kann man sich auch ohne Kenntnisse in den verschiedenen Sprachen bewegen. Die Sprachlogik überwindet die syntaktischen und grammatikalischen Besonderheiten und läßt das Wesen der Dichtung in allen Sprachen gleichermaßen deutlich werden.
Gomringers Dichtung zieht sich nicht in das Getto einer eigenen, hermetischen Logik zurück, sondern sie zielt auf die Reaktionen der Rezipienten. Er will nicht nur eine gemeinsame Sprachebene als Mittel einer universalen Kommunikation schaffen, er will das ästhetische Bewußtsein seiner Leser universalisieren.

semantisch: auf der ebene des sich bildenden gemeinschaftserlebnisses universalen ausmaßes werden gleiche ereignisse gleich bezeichnet.

In diesem Anspruch der Dichtung liegt der Schlüssel nicht nur für die ästhetische Theorie Gomringers, sondern für alle seine weitgespannten kulturpolitischen Aktivitäten.
Bereits 1953 setzte er zusammen mit Marcel Wyss und Diter Roth dem sich ausbreitenden künstlerischen Individualismus des Informel das Programm der Zeitschrift Spirale entgegen. Der subjektiven ästhetischen Geste des expressiven Ausdrucks wurde die ojektivierbare ästhetische Aktion entgegengesetzt. Das ästhetische Gesetz stand gegen das private Erlebnis.
Der Weg von Eugen Gomringer an die „Hochschule für Gestaltung“ in Ulm (als Sekretär des Rektors, Max Bill) folgte der inneren Logik dieses ästhetischen Bemühens. Die Nachfolge des „Bauhauses“ und die Wiederanknüpfung an die Theorien der künstlerischen Avantgarde der zwanziger Jahre, mit den Stichworten „De Stijl“ und „Konstruktivismus“ war ein Programm wider den Zeitgeist, der damals wie heute sein kulturpolitisches Unwesen trieb. Die Freundschaften dieser Jahre waren Ausdruck einer inneren Haltung, sie waren ästhetisches Programm: Max Bill, Josef Albers, Friedrich Vordemberge-Gildewart, Richard Paul Lohse, Almir Mavignier, Walter Gropius, Max Bense, Helmut Heißenbüttel. Die mit diesen Namen illustrierte Avantgarde der fünfziger Jahre stand für eine rationale ästhetische Theorie als Gegenentwurf zu einer individuell-nihilistischen Weltsicht, die sich ihrerseits in ein privates Getto zurückzog. Der positive Ansatz dieser Avantgarde war gleichermaßen ästhetisch und gesellschaftlich. Die Regelhaftigkeit der Kunst endete nicht in der logischen Tautologie, sondern legitimierte sich in dem in ihr aufgehobenen Gesellschaftsmodell.

zur verwirklichung der neuen gemeinschaftssprache, die nicht von einem tag auf den anderen geschaffen werden kann und soll, ist die dichtung, bewußt gesellschaftlich verstanden und bezogen, ein entscheidendes phänomen. wir leben in der stunde der sich bildenden welt-dichtung.

Ein solches Bewußtsein sucht die Ebene der konkreten Anwendung, den Kontakt zum Rezipienten. Gomringer fand ihn in der Tätigkeit im Rahmen der Rosenthal AG als „Kulturbeauftragter“. Hier sind wir uns in den sechziger Jahren zum ersten Mal persönlich begegnet. Der bis heute nachwirkende, beherrschende Eindruck dieser ersten Anschauung der konkreten Umsetzung der ästhetischen Theorie in gesellschaftliches Wirken: Die Ehrlichkeit, mit der die auftretenden gesellschaftlichen Widersprüche dieser Funktion ausgehalten und dargestellt wurden. Die unzerstörbare Gewißheit, dass der Adressat des ästhetischen Programms unbeschadet seiner gesellschaftlichen Stellung und seines Bildungsgrades das schöpferische Potential in sich trägt, das zur mitschaffenden Rezeption befähigt. Ein Programm, das weit mehr enthält, als am Produkt des Porzellanherstellers ablesbar ist. Die von Walter Gropius geplanten und gebauten Fabrikanlagen als der Ort, an dem der kulturelle genius loci die Widersprüche der entfremdeten Arbeitswelt aufheben sollte, die ästhetische Theorie als die Basis für einen universalen Lebensentwurf.
Aber auch: die Natur als das allumfassende Reservoir für eine humane Kunst, die ihren archimedischen Punkt nicht aus dem Auge verliert. Diese Kunst kann nicht mehr den Anspruch erheben, allein aus der subjektiven Befindlichkeit des Künstlers heraus ihre Legitimität zu beziehen, sie muß sich auf ein gesellschaftliches Modell einlassen, das jederzeit an den Realitäten kontrolliert werden kann.
Diese Rückkoppelung hat auch das ästhetische Bewußtsein von Eugen Gomringer verändert. Es scheint, als wenn das Axiom der Regelhaftigkeit sich stärker zugunsten einer organischen Ganzheit verändert habe. Diese Entwicklung entspricht einer Bewegung innerhalb der bildenden Kunst der letzten Jahrzehnte. Die zunehmende Komplexität der modernen Naturwissenschaften hat vor allem die systematisch-konkrete Kunst vor die Aufgabe gestellt, ihre universelle Funktion der Integration wieder stärker zu reflektieren. Der Kunst und der sie begleitenden Theorie ist damit erneut eine philosophische Dimension zugewachsen. Eine solche Theorie muß sich der gemeinsamen Grundlagen der Wissenschaften als der Voraussetzung eines humanen Lebens versichern.
Suchen wir immer noch den Menschen Eugen Gomringer hinter all den Worten? Er läßt sich mit Schrift nicht wirklich erfassen. Man muß ihn erlebt haben, im Umgang mit Kunst, in seinem Engagement für künstlerische Produkte und Menschen, um seiner Motivation auf die Spur zu kommen. Seine Begeisterungsfähigkeit folgt stets einem unbestechlichen qualitativen Anspruch, sein Avantgardismus ist jenseits jeder modischen Attitüde. Dass er heute eine der unbestrittenen Autoritäten auf dem Gebiet der systematisch-konstruktiven Kunst ist, verdankt er nicht zuletzt der Überprüfbarkeit seiner ästhetischen Maximen in der eigenen künstlerischen Produktion. Bei allen theoretischen Reflexionen spürt man doch immer den schöpferischen Künstler, der sich die Offenheit für jede mögliche Entwicklung bewahrt hat und deshalb nie die Ehrfurcht vor der damit verbundenen Leistung verliert. Auf dieser Haltung, mehr als auf aller theoretischen Kompetenz beruhen die zahlreichen Freundschaften, die Eugen Gomringer mit bedeutenden Künstlern unserer Zeit verbindet. Sie versetzt ihn aber auch in die Lage, jederzeit die Kommunikation mit der jungen Generation aufrechtzuerhalten, sei es als Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie, sei es als Entdecker und Förderer junger Künstler.
Sprechen wir also gar nicht erst über den Anlaß dieser kleinen Ehrung. Denken wir vielmehr an die weise Frau irgendwo in Bolivien, die über achtzigjährige Mutter; der wir eines der frühen Gedichte des Sohnes zugeeignet wissen möchten:

est est est
est est est
est est est

Hans Peter Riese, aus Cornelius Schnauber (Hrsg.): Deine Träume – Mein Gedicht. Eugen Gomringer und die konkrete Poesie, Greno Verlag, 1989

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