Eugene Ostashevsky: Der Pirat, der von Pi den Wert nicht kennt

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Eugene Ostashevsky: Der Pirat, der von Pi den Wert nicht kennt

Ostashevsky-Der Pirat, der von Pi den Wert nicht kennt

So wie Logik erster und zweiter Ordnung vollständig und unvollständig sind auf unterschiedliche Art,
Bleiben die Unterschiede zwischen dem Piraten und dem Papagei immer apart. 

Der Papagei hat gerade eine halbe Stunde damit verbracht, den folgenden Satz zu lesen: „Denn gegeben, dass es unmöglich ist, dass A, es unmöglich ist, dass sowohl A und nicht B (und gleichermaßen, wenn es notwendig ist, dass B), es notwendig ist, dass, wenn A, dann B, nicht so offenkundig aus der Behauptung folgt, dass A unmöglich ist (oder B notwendig ist)“,
Aber der Pirat hatte einmal eine Halbtagsstelle als Springbeschneiderchen, der bei seinem Sprung aus der Schachtel in das Lied „It’s a lang way to Tipperary!“ ausbricht.

Der Pirat entspannt sich bei einem Spiel mit Action-Figuren, die Einstein, Eisenstein, Gertrude Stein, Frankenstein und Wittgenstein porträtieren,
Aber der Papagei hat einmal Gertrude Stein geklaut und dem Piraten erzählt, sie wolle nach Palästina emigrieren, 

Er verkleidete Einstein und Eisenstein mit den Kostümen von Batstein und Robinstein
Und ließ Frankenstein ringen mit Wittgenstein in einer Landschaft in Liechtenstein (mit Sprechblasen, in denen stand „Aua, mein Bein!“ und „Dein Name ist nach wie vor nicht Frankenstein“, großzügig zur Verfügung gestellt von Roy Lichtenstein). 

Der Papagei mag alles Reime-Habende,
Aber der Pirat denkt, kein Reim ist auch fein, wichtig ist das Erhabene! 

Ein andermal verlor der Pirat eine Regatta in einem Kutter mit Bergen voller Ricotta,
Wovon der Papagei, um Ballast loszuwerden, so viel aß, dass er bessere Läufe hatte als eine Kantante oder Toccata, 

Und als er sich später über der Reling seines Inneren entäußerte wie eine Art Piñata,
War der Pirat zerrissen zwischen Fluchen und Lachen und fing stupende an zu stottern, 

Und danach – wie der alte Mann aus Alma Ata, der nach seinem Fall von einem Gatter, als er eben nachstellte dem jungen Harry Potter, in der Hand eine Panna cotta,
Derjenige Harry Potter, der ohne sein Spukbetakelung aussah wie ein Eros – ohne Errata – 

Jedenfalls für den alten Mann aus Alma Ata, der jetzt klagen wollte auf dem Boden vor besagtem Gatter: ,,Oh ich schäme mich, weil ich meine Frau (Alles in Maßen war ihr Motto), obwohl sie erst gerade verstorben, beinahe vergessen hätte!“,
Der aber nur Inkohärentes und Inkonsistentes hervorbrachte, denn sein gesamtes Selbst war so (unn)e(u)rotisch am Flattern – 

Löste der Pirat seine Sprechhemmung durch eine Gaumenmassage mit fast flüssiger, Peter-(parla)-silien-geschmückter Butter,
Und der Papagei setzte sich auf einen Doppelpoller, um sein Moppelkotzen zu stoppen.

Bei der Lektüre dieses Gedichts findet der Papagei manche Witze komisch und andere chronisch gezwungen, die Gesamtwirkung so arbiträr wie Aristophanes,
Und der Pirat entgegnet: ,,Aristophanes? Ach, du bist doof, Hannes!“

Der Pirat glaubt, dass nichts alles ist: Die Welt ist bloß geronnener Schleim und gewinnt Form allein durch den Kontakt mit Sprache (wobei die so entstandene Form für jeden Kontakt einzigartig ist),

Und der Papagei hält dies zuweilen für eine Tatsache und zuweilen für keine Tatsache, zuweilen meint er, es könnte eine Tatsache sein, zuweilen fragt er sich, ob man, wenn es eine wäre (oder selbst wenn es keine wäre), überhaupt feststellen könnte, ob es eine ist oder keine ist… und dann versucht er herauszufinden, was eine Tatsache ist, und wird total verstrickt… 

Wenn der Papagei sich mausert, schließt er die Jalousien und lässt kein Licht entfliehen, nicht ein einziges Photon,
Der Pirat aber fotografiert sich gerne als Che Guevara mit kubanischer Zigarre im Anschlag neben einem Schild, das anmahnt:
aaaaaaaaaaaaaaa„Nur für Kapitalisten:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaRauchen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaverboten!“

So vertreiben sich beide die Zeit,
aber wir wissen noch immer nicht Bescheid, 

wie viele Piraten man braucht,
um von Pi den Wert zu errechnen.

 

Eugene Ostashevsky: Der Pirat, der von den Wert Pi nichts wusste (Buchpremiere am 1.6.2017), Ausschnitt aus Berliner Künstlerprogramm

 

 

Der Pirat, der von Pi den Wert nicht kennt

ist eine Art Roman in Gedichten über Verständigungsschwierigkeiten zwischen Piraten und Papageien. Was vor acht Jahren als Kinderreim begann, hat sich zu einer Untersuchung heutiger und historischer Bedeutungen der Begriffe „Pirat“ und „Papagei“ ausgewachsen. Urheberrecht, kapitalistische Ideologie, Tierintelligenz, Cartesische Philosophie, kolonialistische Ethnografie, Erstkontakt-Narrative und insbesondere Berichte über Piraten und Papageien aus der Renaissance und frühen Neuzeit (etwa Ulisse Aldrovandis Ornithologiae Libri XII aus dem Jahr 1599, worin exakte anatomische Beobachtungen an toten Papageien auf belanglose Anmerkungen zu ihrem Verhalten treffen) kommen vor.
Im Grunde geht es aber schlicht darum, wie es ist, mit jemandem zu reden, und ob dieser jemand überhaupt jemand ist. Und weil Pirat und Papagei auf einer einsamen Insel stranden und einen Streit darüber beginnen, ob sie sich mit Indigenen, so es sie dort gäbe, verständigen könnten, geht es auch um Immigration. Und weil für Papageien Englisch offensichtlich nicht als Muttersprache gelten kann, geht es auch um Zweitsprachengebrauch. Das Piratenenglisch wiederum ist von fremden Einsprengseln wie von seiner eigenen lausigen Geschichte ramponiert und kontaminiert, ahmt Texte aus dem 16. und 17. Jahrhundert nach und raubkopiert daraus. Die vollständige englische Version wird in der Lyrikreihe der New York Review of Books am 14. März – dem Internationalen Pi-Tag – 2017 erscheinen. (Eugene Ostashevsky)

kookbooks, Ankündigung

 

Von den schlaflosen Nächten in New York

– Der russisch-amerikanische Lyriker Eugene Ostashevsky treibt einen philosophierenden Piraten und einen kritischen Papageien in gewitzte Gespräche über Sprache, Verstehen und Irrfahrten. –

1979 kommt Eugene Ostashevsky als Elfjähriger aus Leningrad nach New York. Seine Familie lässt sich im Stadtteil Brooklyn nieder. Den alten Industrien geht es dort immer schlechter, die Kreativ-Wirtschaft und der Kreativen-Tourismus lassen noch auf sich warten. Brooklyns öffentliches Leben aber war schon längst davon geprägt, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft irgendwie miteinander leben und reden müssen. Eine Herausforderung jeder Immigration ist der Erwerb zumindest derjenigen neuen Sprache, die den Verkehr in den staatlichen Institutionen regeln  soll.
Im Elternhaus Ostashevskys wird Russisch gesprochen. Die russische Lyrik mit ihren klaren Metren, ihrer Lautmalerei und der Affinität zum Reim prägt Eugenes erstes Verständnis von Poesie. Kindergedichte von Wladimir Majakowski, Ossip Mandelstam oder Daniil Charms wird er später übersetzen. Die amerikanische Lyrik dieser Zeit ist hingegen in Zeilen gesetzte nüchterne Prosa und hat nur wenig Einfluss auf den Heranwachsenden. Ostashevskys englisches Sprachgefühl schult sich stattdessen am Hip-Hop von Gruppen wie  RUN DMC  oder  Beastie Boys, die Mitte der Achtziger ihre ersten Alben veröffentlichen. Nach seinem Studium in Stanford landet Eugene Ostashevsky im Literature-Department der New York University, wo er heute unterrichtet: 

Der Fokus meines Interesses liegt auf dem Schnittpunkt von Poesie, Sprachphilosophie, Philosophie der Mathematik, Erkenntnistheorie und Übersetzung. Leider ist es möglich, dass es diesen Schnittpunkt gar nicht  gibt.

Ostashevsky ist Skeptiker. Wem akademisch zertifizierte oder ewige Wahrheiten nicht geheuer sind, geht seinen Fragen besser künstlerisch nach und erfährt vielleicht so versuchsweise, was es mit der Sprache auf sich hat. Ein „kompetenter Sprecher“ einer Sprache zu sein, wie es in der Linguistik heißt, also jemand mit großem Wortschatz und guten Kenntnissen grammatischer Gesetze, bietet jedoch nie die Sicherheit, ein lebendiges Gegenüber wirklich zu  verstehen.
Dieses Problem ist zentral im aktuellen vierten Gedichtband von Ostashevsky, betitelt Der Pirat, der von Pi den Wert nicht kennt. Er entstand im fremdsprachigen Ausland, nämlich im Zuge eines Stipendiums des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Der Dichter lässt bei den Irrfahrten und Überfällen eines philosophierenden Piraten und eines kritischen Papageien situativ Kommunikation misslingen und die zwei Protagonisten den Grenzen von Mitteilbarkeit nachgehen. „Der Pirat die Spanische See durchjettet / Sein Schiff kurvt eine Markow-Kette/ Er lehnt am Bug, trinkt Sekt-Limette“ und fragt sich dann, ob der Papagei eine wesentlich andere Erfahrung vom Meer hat als er. Einst „terrorisierten sie Touris auf Bali / und der Biennale in Venedig“, dann diskutieren sie mit ihrem alten Freund „Schlappnik-jetzt-bin-ich-Dschihadnik“ oder kentern ein türkisches Schlachtschiff zu russischer  Musik.
Anekdoten, Gespräche und kurze Abenteuer wechseln einander ab, die typografische Gestaltung gibt den Sprechsituationen visuell Raum. Ostashevskys rasantem Strom aus Reimen, Rhythmen, Referenzen auch im Deutschen gerecht zu werden, war die Herausforderung der Lyrikerinnen Monika Rinck und Uljana Wolf. Ihre Übersetzung, mit dem Original in einem Band erschienen, kann in Sachen Tempo, Gelehrsamkeit und Witz über weite Strecken mithalten. Nur selten trifft man auf zu viel Seminarhumor, etwa wenn bei einem Piraten-Party-Rap das Lob „Ihr seid wie Buddenbrooks auf guten Drugs“  fällt.
Die Piraten-Folklore und gelehrigen Verweise staffieren aber kein steriles linguistisches Labor, in dem ausgetüftelte Experimente ablaufen. Die Gedichte zeigen immer wieder, dass die Theorien und Termini, mit denen der Pirat gerne hantiert, große Folgen für das Zusammenleben nie ganz identischer Wesen  haben.
Das wird am dringlichsten, wenn Pirat und Papagei auf einer einsamen Insel stranden und mal wieder in Streit geraten, da der Papagei die Menschensprache besser beherrscht als der Pirat. Er behauptet, ein Papagei könne noch so viele Wörter lernen, er werde sie nie so fühlen wie ein Mensch. Später bekennt er: 

Ich möchte so gern wissen, wie es sich anfühlt, in einer anderen Sprache zu  sein.

Der ganze Band aber widerspricht dem Piraten, seinem Vorwurf wie seinem Wunsch. Er zeigt, dass es einen Abstand zur Sprache braucht, und das Bewusstsein, dass keine Sprache nur „meine“ ist, sondern viele Sprachen verschiedener Zeiten und Sprecher, unter dem Namen „Englisch“, in einem Augenblick kollidieren oder koalieren. Zugleich ist, so gesehen, jede Sprache Papageiensprache, eine Folge von Lauten, die immer Gefahr läuft, nachzuplappern, die nichts bedeuten muss und sich vielleicht auf nichts  bezieht.
Es ist das Verdienst des Skeptikers Ostashevsky, dass in den polyfonen, gewitzten Texten gerade diese Brüchigkeit spürbar  wird.

Vincent Sauer, Süddeutsche Zeitung, 27.2.2018

Fremde Sprachen

Zitieren heißt sich begegnen. Auf der Suche nach Aufbrüchen besiedeln zeitgenössische Dichter ihre Verse nicht selten mit Zitaten, auch aus Gesängen und diversen Fachsprachen; oder sie spielen mit der Sprache als Fremder, wie jüngst der Dichter Eugene Ostashevsky. Geboren in Petersburg, richtiger: Leningrad, kam er mit 11 Jahren nach New York. Derzeit lebt er meist in Berlin und Paris. Er ist ein großer Performer seiner Werke und ein großartiger Übersetzer russischer Avantgarde-Literatur. Aber zuallererst ist er Dichter. Viele seiner Text haben Paare zu Protagonisten, die je auf ihre Weise demonstrieren, in welchem Ausmaße Kommunikation ein Ding der Unmöglichkeit und dennoch das Sprechen bitter nötig ist. Schließlich ist Sprache ein Mittel, in der die menschliche Verschiedenheit sich austragen und aushandeln lässt.
Ostashevskys jüngster Gedichtband, dieses Jahr bei Kookbooks erschienen, handelt von einem Piraten und einem Papagei – a pirate and a parrot. Die Konsonanten verbinden, die Vokale trennen den Räuber der Meere und den Räuber der Sprache. Der Titel: rätselhaft. Der Pirat, der von Pi den Wert nicht kennt funktioniert nach dem bekannten Prinzip des Sprachwitzes, des „pun-dits“. Ähnlich wie wir als Kinder fragten: „Wie viele Elefanten passen in einen Käfer?“ beginnt Ostashevsky sein Buch:

Wie viele Piraten braucht es, um von Pi den Wert zu errechnen?

Niemand erwartet eine vernünftige Antwort auf solche Fragen: bei Ostashevsky setzt die Frage Geschichten, Beobachtungen und Überlegungen in Gang, unterbrochen von Gesprächen, erfundenen Piratenliedern, absurden Dialogen. Fragen der Geistesgeschichte ragen hinein: Etwa ob man überhaupt eine fremde Erfahrung verstehen könne? Und was eigentlich den Mensch vom Tier unterscheide, oder das Verhältnis von Mensch und Tier bei Wittgenstein.
Neben der Internet-Piraterie ist natürlich auch Stevensons Schatzinsel Thema: Als Pirat und Papagei auf einer Insel stranden, dekonstruieren sie, welche Strategien sprachlicher Ausgrenzung in Begriffen wie Eingeborene, Flüchtlinge und Muttersprache stecken.

– Meinst du, auf dieser Insel leben irgendwelche Indigenen?
– Wenn ja, werden wir sie nicht verstehen. Oder sie uns.
Indigene haben nie gesunden Menschenverstand. Hätten sie gesunden Menschenverstand würden sie auswandern.
– Aber Papagei, warum sollten sie auswandern.
– Aber Pirat, warum sollten sie nicht auswandern. Sollen sie ihr ganzes Leben lang hier rumsitzen. Haben sie keine zweite Chance verdient?
– … Arme Indigene! Arme, arme Indigene! Arme, fotogene, insgeheeme, kenstukeene Indi-
– … Hau weg die Gene, Mister Empathene! Was, wenn sie auftauchen und unsere Visa sehen wollen…

Mit allem, was das Zeug hält – inklusive schwarzem Humor – durchsegelt das ungleiche Paar die Stürme des Daseins und zeigt, dass Zustände wie „disparate“ und „desperate“ – ungleich und verzweifelt – manchmal nur zwei Buchstaben entfernt liegen. Und „boarding“ nicht nur für eine Schule, sondern auch fürs Boot verwandt wird. Jedes Internat ein Enternat? erschwindeln sich die Übersetzerinnen grandios gekonnt diese im Deutschen nicht existente sprachliche Verwandtschaft.
Ostashevsky bringt die Nichtkommunikation in der Kommunikation zur Aufführung. Ideen und Sprechweisen werden geentert, gekapert. „I Parrot“ sagt der Autor in einem Interview über die vielen Stimmen und Soziolekte im Buch. Wie soll man das übersetzen? „Fagissess“, krächzt der Papagei an einer Stelle des Buches: „Fagissess“. Großartig inspiriert haben Monika Rinck und Uljana Wolf die Geschichte vom parrot und pirate ins Deutsche übertragen. „Werden wir existieren, wenn das Buch fertig ist?“ fragt der parrot irgendwann, und der pirate antwortet:

Wenn es ein gutes Buch ist.

Ostashevskys Der Pirat der von Pi den Wert nicht wusste ist unterhaltsam und sprachmächtig und geistreich. Doch vor allem ist das Buch ganz von heute, grenzüberschreitend und zutiefst human.

Marie Luise Knott, perlentaucher.de, 13.12.2017

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Jan Kuhlbrodt: Die wir von Pi den Wert nicht kennen
signaturen-magazin.de

Jonis Hartmann: Pirate Parrot Charms
fixpoetry.de, 10.4.2018

Jamal Tuschick: Kein Reim ist auch fein
der Freitag, 12.7.2018

 

Russia meets Monty Python

meets history of philosophy

– Der russisch-amerikanische Lyriker Eugene Ostashevsky hat im Sommersemester 2016 die Siegfried-Unseld-Gastprofessur für Mittel- und osteuropäische Literaturen an der Humboldt-Universität zu Berlin inne. Am 31. Mai hielt er im Collegium Hungaricum seine Antrittsvorlesung zum Thema Poetry and Multilingualism. Die Einführung dazu hielt Katharina Raabe. –

Liebe Ulrike Vedder, liebe Susi Frank, lieber Eugene Ostashevsky, verehrtes Publikum,

mit Eugene Ostashevsky hat sich endlich das amerikanische Englisch als osteuropäisches Idiom die Siegfried-Unseld-Professur erobert. Wer Tschechisch, Ungarisch, Polnisch oder BKMS (Bosnisch-Kroatisch-Mazedonisch-Serbisch) schreibt, möchte doch nur noch in sehr eingeschränkter Bedeutung als osteuropäischer Autor gelten. Exotisierung, der lange Schatten von Krieg und Verbrechen, die Dominanz der Geschichte über die Gegenwart, des Politischen über das Poetische, der Ruf, schwer verständlich und noch schwerer verkäuflich zu sein – die Gründe für diese Aversion sind bekannt.
Was Mittel- und Osteuropa einst ausmachte, sein Reichtum an Sprachen und Kulturen, die Vielsprachigkeit seiner Bewohner, das Zusammenleben vieler verschiedener Nationen, ist längst vorbei. Heute beobachten wir ein erschreckendes Erstarken nationaler Werte – bis hin zur Forderung, in einer ethnisch reinen Sprache zu schreiben.
Dass sich, wie es in der Vorlesungsankündigung heißt, in vielen Nationen heute ein Vermischen von sprachlicher und kultureller Vielgestaltigkeit ereigne und damit ein weniger sprachzentriertes Konzept nationaler Identität im Entstehen begriffen sei, kann kaum für die Länder zwischen Ostsee und Schwarzem Meer gelten.
Umso mehr aber für Orte wie Berlin und New York, wo unser Professor heute lebt. Hier entstehen deutsch-russisch-englische oder sogar englisch-russisch-karibisch-iranische Dichterzirkel, die auch Übersetzerzirkel sind. Das Übersetzen ist essentiell für die poetische Arbeit.
Für Autoren wie Ostashevsky, die als Emigrantenkinder gleichzeitig im abgeschlossenen Milieu ihrer Muttersprache (in einem von Puschkin, Mandelstam, Brodsky, von der klassischen Poesie bestimmten Lese- und Hörraum) und in einer amerikanischen Sprach-, Literatur-, Musik- Popwelt aufwuchsen, kann die Sache nicht ganz einfach gewesen sein. Dass alles doppelt ist, man sich aber dennoch entscheiden muss, einer zu sein, prägt als Grunderfahrung seine poetische Arbeit.
Auffällig viele Paare und Zwiepaare treten bei Ostashevsky auf: die Strophen sind fast immer Zweizeiler. Jede Figur hat eine andere an ihrer Seite: The Pirate Who Does Not Know the Value of Pi im gleichnamigen Band tut sich mit einem parrot, einem Papagei zusammen: Bonny and Clyde. DJ Spinoza disputiert mit – Gott, streitet mit Joseph Bédier, dem Herausgeber der Chanson de Roland, er findet einen Sparring-Partner in MC Squared, vor allem aber in – und nun muss ich meine Lieblingsfigur erwähnen: dem Begriffon.

The Begriffon is something out of Geistesgeschichte.

In „The Life and Opinions of DJ Spinoza“ (Tristram Shandy und Pan Cogito lassen grüßen) tritt das Begriffon zum ersten Mal auf. Gryphon, Griffin, Greif – skythisch, altsumerisch, mykenisch bis zu den Brüdern Grimm als mythische Fabelwesen bekannt, hat es 2,7 mal 10 hoch fünf Klauen, aber nur eine Nagelschere und trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift: I am Ambivalent vorn und I am not ambivalent hinten. Lügen erträgt es nicht. Nachdem DJ Spinoza Definitionen, Axiome, Lehrsätze ausgelegt hat wie ein Zahnarzt sein Besteck zum Löcherfüllen, beginnen sie zu streiten. Am Ende beschimpft DJ Spinoza sein Gegenüber: 

Listen, you čudo-iudo-zamorskij Begriffon…

und in der letzten Strophe heißt es: 

The Begriffon stands for me, Eugene Ostashevsky…

Ist es übrigens Zufall, dass (neben der hier anwesenden Uljana Wolf) Monika Rinck, Inhaberin eines Begriffsstudios, das mittlerweile mehr als 3.000 begriffs umfasst, Ostashevsky übersetzt?
Es gibt den gescheiterten Versuch DJ Spinozas, mit MC Squared (Einstein-Formel – Beatboxer) das Begriffon abzumurksen. Doch es überdauert alle Fährnisse – und begegnet uns wieder in „Enter Morris Imposternak, Pursued by Ironies“, in einem wunderbaren, natürlich aus Zweizeilern komponierten, von der barocken Vanitas-Dichtung umwehten Gedicht 

Do not love
It is possible that nothing is true anyway 

That we live in a forest of begriffons
And that even we ourselves are begriffons…

„Morris Imposternak“? Pasternak? „De tribus impostoribus“ (Über die drei Betrüger) – einer anonyme Kampfschrift gegen die drei monotheistischen Religionen, der viele Verfasser zugeschrieben wurden, u.a. Spinoza?
Man komme mit dem Wikipedia-Nachschlagen gar nicht hinterher, schrieb eine entnervte amerikanische Rezensentin über Ostashevskys Lyrik. In der Tat: Ihr Hauptmanöver, ihr „main move“, ist der „pun“, das Wortspiel. Der Dichter selbst bezeichnet sich selbst als pundit – zu Deutsch poeta doctus.
„English is always going to be second-skin to me. It’s never going to be first skin. And that’s the basis of my poetry.“ Seine Sprache ist imprägniert von der Erfahrung, wie arbiträr die Beziehung zwischen grammatikalisch-lexikalischem System und Welt ist. Ich bin sicher, diese Zweite-Haut-Disposition hat die Nähe gestiftet zu Daniil Charms und Aleksandr Vvedenskij, deren Werk er – in preisgekrönten Übersetzungen und Ausgaben – dem amerikanischen Publikum, darunter rezeptionsfreudige viele Dichterkollegen, bekannt gemacht hat. Die Oberiuten interessieren ihn als Philosophen, die grundlegende Annahmen des common sense in Frage stellen: Zeit, logische und kausale Folgen. Jede Affirmation hat ihre Negation: 

Ich sagte, dass ich gestern bei dir war, doch du sagtest, dass ich gestern nicht bei dir war. (Vvedenski, „Kuprijanov und Nataša“)

„Russia meets Monty Python meets history of philosophy“, so führte Robert Hass vor vielen Jahren den jungen Ostashevsky, in der Reihe Lunch Poems ein. Als „poet, scholar, reckless metaphysician and comedian“ stellte er ihn vor. Was macht der waghalsige Metaphysiker? Er lässt Andrew Marvell, einen metaphysical poet aus dem 17. Jahrhundert, auf einen russischen Altgläubigen treffen. In dem kleinen Versdrama à la Vvedenski spricht Marvell Latein, der Altgläubige Deutsch, und als ihm Marvell ungeduldig Pecuniam non habeo verklickern will, verfällt der Altgläubige in eine Mischung aus Altkirchenslawisch und kyrillisch transkribiertem amerikanischen Englisch.
Zurzeit arbeitet EO an einer Ausgabe des russischen Futuristen Vassilij Kamenskij, an dem ihn der Gebrauch der Sprache als plastisches Material interessiert. Es sind Bildgedichte, Gebilde, in denen das Linguistische und Visuelle untrennbar sind. Zart inspiriert davon ist sein jüngste Büchlein, wie immer gestaltet mit dem Künstler Eugene Timerman, der Titel kam schon vor: 

The Pirate Who Does Not Know the Value of Pi.

Auf das kleine Versepos, die Alice-in-Wonderland, Winnie-the-Pooh-Dialoge, Charms-Pastiches und Knittelverse näher einzugehen, würde zu weit führen. Wir sollten Eugene bitten, es uns irgendwann einmal vorzutragen.

The Begriffon is something out of Geistesgeschiche.

Eugene Ostashevsky is something – out of what?

Zhenja, poshalujsta, the floor is yours.

Katharina Raabe, Logbuch Suhrkamp

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor

 

Eugene Ostashevsky Lesung und Gespräch am 14.11.2018 im Kelly Writers House an der Van Pelt Bibliothek der Universität von Pennsylvania.

Porträtgalerie: Dirk Skibas Autorenporträts
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Fakten und Vermutungen zu Uljana Wolf + DAS&D + KLGPIA
Porträtgalerie: Galerie Foto GezettDirk Skiba Autorenporträts +
Autorenarchiv Isolde OhlbaumAutorenarchiv Susanne Schleyer
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Uljana Wolf liest drei bögen: böbrach und andere Gedichte.

 

Fakten und Vermutungen zu Monika Rinck + Schow + Porträt +
DAS&DCoupettes + PIA
Porträtgalerie: Keystone-SDA
shiyan 言 kou 口

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Monika Rinck

 

Monika Rinck beim 22. Literaturfestival Druskininkai Poetic Fall 2011.

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