Eugenio Montale: Wer Licht abgibt, setzt sich dem Dunkel aus

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Eugenio Montale: Wer Licht abgibt, setzt sich dem Dunkel aus

Montale-Wer Licht abgibt, setzt sich dem Dunkel aus

Frag uns nicht nach dem Wort, das allseits begrenze
die formlose Seele uns, sie beschrifte
mit feurigen Lettern und wie ein Krokus erglänze,
verloren auf staubiger Wiese.

Ach, wie der Mensch so sicher seines Weges geht,
den andern und sich selber freund,
nicht achtend seines Schattens, den die Hundstagssonne
auf eine verwitterte Mauer prägt!

Von uns verlange nicht die Formel, die Welten öffne –
nein, ein paar Silben nur, wie Reisig krumm und trocken.
Nur eines ist’s, das heut wir sagen können:
was nicht wir sind, was nicht wir wollen.

 

 

 

Nachwort 

Am 12. September 1981 ist Eugenio Montale, nach allgemeiner Übereinkunft der größte lyrische Dichter Italiens in diesem Jahrhundert, fünfundachtzigjährig in einer Mailänder Klinik gestorben. „Ich bin wie eine Sanduhr, die sich allmählich entleert hat“, hatte er in den letzten Monaten seinem Notizbuch anvertraut. Er ist so still und diskret davongegangen, wie er gelebt hatte. Sein Tod wurde in der italienischen Presse, vom Osservatore Romano bis zur Unità, im Blick auf sein Werk und auf seine nationalen und internationalen Ruhmestitel, ausgiebig kommentiert. Bevor er im florentinischen Ponte a Ema beigesetzt wurde, fand im Mailänder Dom eine offizielle Trauerfeier statt, zu der der Staatspräsident, der Ministerpräsident und andere Spitzen des öffentlichen Lebens erschienen, um dem Nobelpreisträger von 1975 die letzte Ehre zu erweisen. Und, für italienische Verhältnisse nur zu natürlich, kam es zu einem (in diesem Fall sanften) Streit der Parteien darüber, wo Montale „einzuordnen“ sei: im Lager der Laizisten und Agnostiker oder in dem der heimlichen Christen. Den Annexionisten im christlichen Lager muß man entgegenhalten, daß sie weder Montales Äußerungen in verschiedenen Interviews noch seine dichterischen Aussagen im letzten Lebensjahrzehnt zur Kenntnis genommen zu haben scheinen. Auf jeden Fall war die weltanschauliche Begleitmusik zum Tod dieses Dichters denkbar unangemessen. Sein Verhältnis zum Überweltlichen hat er einmal in die folgenden Worte gefaßt:

In meinen Gedichten habe ich versucht zu hoffen, an die Wand zu klopfen, das zu sehen, was jenseits der Mauer sein könnte, überzeugt, daß das Leben eine Bedeutung hat, die sich uns entzieht. Verzweifelt habe ich geklopft wie einer, der eine Antwort erwartet…

Das ist vielleicht das Bekenntnis eines „anonymen Christen“ im Sinne Karl Rahners, aber es ist wahrscheinlich weniger als das, was der Osservatore Romano und der Mailänder Erzbischof verlangen. Was sein staatsbürgerliches Selbstverständnis betrifft, so hat Montale einem Interviewer gegenüber rückblickend geäußert:

Ich habe meine Zeit mit dem Minimum an Feigheit gelebt, das meine schwachen Kräfte mir gestatteten; aber andere haben mehr, viel mehr getan, auch wenn sie keine Bücher veröffentlicht haben.

Sein Lebensmotto war „decenza“ (Anstand): ihm ist er während seiner schwierigen Lebensjahre, in der Epoche des Faschismus und in dessen wirrnisreicher Nachfolgezeit, beispielhaft treu geblieben.
Mit der von Rosanna Bettarini und Gianfranco Contini besorgten kritischen Ausgabe (1980) liegt uns heute sein dichterisches Werk in abgeschlossener Gesamtheit vor. Es kann und muß unter zwei Aspekten gelesen werden: einem poetologischen und dichtungsgeschichtlichen und einem politischen und zeitgeschichtlichen. Mit Ungaretti und Quasimodo bildet Montale jene Dichtertrias, die, sich der Vätergeneration der Carducci, Pascoli und D’Annunzio entgegensetzend, die moderne Lyrik in Italien begründete. Ein subtiles dialektisches Verhältnis besteht vor allem zwischen Montale und D’Annunzio. Montales erste lyrische Landschaft waren die Cinque Terre an der Riviera di Levante, zwischen seiner Geburtstadt Genua und La Spezia: hier, in Monterosso, besaßen seine Eltern ein Sommerhaus („la casa delle mie estati lontane“); hier hat der werdende Dichter erste und entscheidende Eindrücke gesammelt und gespeichert. Nur wenige Dutzend Kilometer südöstlich davon, in der Versilia, hatte Gabriele D’Annunzio sein pathetisch-rauschhaftes Sommerbuch Alcyone angesiedelt (1903). Aus diesem Lehrbuch der modernen italienischen Lyrik hat auch Montale für seinen Erstling Ossi di seppia (1925) einen bestimmten Wortschatz, bestimmte Fügungen und Bilder geschöpft; aber wie anders der „Geist“! Statt des selbstgewissen, rundum mythisierenden Übermenschentums des großen Artifex begegnet man bei Montale bohrendem Zweifel an der eigenen Identität sowohl wie an der Realität der Außenwelt, deren Umrisse sich im Glast der mediterranen Mittagsstunde aufzulösen, zu einer „Welt als Vorstellung“ zu werden scheinen. Und von dieser Erfahrung spricht der junge Dichter, im Gegensatz zur Wortfülle und zum Belcanto seines Vorgängers, in antirhetorischen, negativ-klangvollen Versen, dem angemessenen Korrelat seiner pessimistisch-deterministischen Weltsicht, die als einen ihrer Hauptpunkte die immer neue Klage über die monotone, unentrinnbare Herrschaft der mechanischen Zeit in sich schließt („Haus am Meer“).
„Da ich von allem Anfang an eine vollständige Disharmonie mit der mich umgebenden Wirklichkeit empfunden hatte, konnte der Stoff meiner Inspiration nichts anderes sein als eben diese Disharmonie“, hat der Dichter in einem „Selbstbildnis“ geäußert. Bald wurde diese Uneinigkeit zu einem unaufdringlichen, aber kompromißlosen Dissidententum gegenüber dem zur Herrschaft gelangten Faschismus. Berühmt sind die Schlußzeilen eines programmatischen Gedichts ohne Titel geworden: „Nur eines ist’s, das heut wir sagen können: was nicht wir sind, was nicht wir wollen“ – Verse, die bald von Mund zu Mund gingen, und durch die Montale zum Bezugspunkt für Andersdenkende, zum Dichter der inneren Emigration im faschistischen Italien wurde.
Poetologisch gesehen sind die Ossi di seppia ein Musterbeispiel des dichterischen Symbolismus, der in Italien gerne „Ermetismo“ genannt wird. Das heißt, daß Montale seine Wahrheiten in bildhaften Konzentraten ausdrückt, die subjektiv-mehrdeutig sind und sich nur der intuitiven Einfühlung erschließen wollen und können. Am „Schwellengedicht“ des ganzen Zyklus, „In limine“, läßt sich dieses Verfahren besonders gut beobachten. Wie alle großen Dichter der Moderne verfügt Montale über einen beschränkten, aber nicht zu beschränkten Vorrat solcher Symbole, die er in immer neuen Variationen, besser: Nuancierungen verarbeitet. Eine gegenläufige Tendenz verhindert jedoch, daß sich dieses Dichten im Wolkigen verliert: es ist das Streben nach Gegenständlichkeit, die Suche nach dem Unterscheidenden, dem Konkreten, dem präzise Dinghaften; beides zusammen macht erst die, unverwechselbare Montale-Weise aus. Nicht von Schiffen ist bei Montale die Rede, sondern von „Dreimastern“, nicht von Vögeln, sondern von „Hähern“ oder „Steinhühnern“ („Meiner Mutter“), nicht von Bäumen, sondern von „Pappeln“ oder „Pinien“, nicht von einem Strauch, sondern einem „Holunder“ oder einer „Agave“. Jedoch ist seine „Neigung zum Nennen“ kühl und frei von romantischer Zärtlichkeit, was nicht hindert, daß auch er sich selbst oder sein Werk mit bestimmten Elementen der Dingwelt identifiziert – dem Meer, der Agave, dem Fels, dem Kiesel, den Knochen des Tintenfischs, so daß deren natürliche Seinsweisen zu Sinnbildern seiner eigenen Empfindungen, Nöte oder Schreibversuche werden, Zwischen der geheimen Vermutung vom Illusionscharakter der realen Welt, dem Hang zu deren Vernichtung und dem Zug zur Konkretheit zeichnet sich so eine innere Dialektik ab, die zugleich eine Eigenart Montales und ein verbreitetes Merkmal der Weltsprache moderner Poesie ist.
Er war ein Dichter, der sich Zeit ließ. Nach dem Erstling dauerte es sieben Jahre, bis wieder eine kleine Plaquette, und abermals sieben, bis (1939) das zweite Werk erschien: Le occasioni (Die Gelegenheiten). Die archetypische Landschaft der ligurischen Küste liegt nun hinter ihm, Montale sieht sich in der Welt um und läßt sich vielfältig inspirieren: durch andere italienische Regionen, in Frankreich, in England, in Österreich. Indessen muß hier eine weitere seiner Eigenheiten erwähnt werden, welche die landläufige Vorstellung von „Gelegenheitsgedichten“ modifiziert: zwischen der Wahrnehmung des Inspirationsmaterials und seiner schöpferischen Gestaltung können Jahre, ja mehr als ein Jahrzehnt verstreichen. Nichts geht überstürzt bei diesem Autor, an keiner Stelle verrät sich ein Nachlassen der geistigen Spannung, ein Sichzufriedengeben mit Leichtem und Vorläufigem. Unverkennbar ist im übrigen der enge Zusammenhang mit den vorausgehenden Ossi di seppia, die organische Fortsetzung des eingeschlagenen Weges.
Fort setzt sich vor allem, was man die Un-Welt der Ossi nennen möchte: die Negativität, der moderne Weltschmerz, das existentielle Gestimmtsein zwischen Depression und Verzweiflung. Und deutlicher steht nun hinter dem existentiellen Inferno das des Landes unter dem Faschismus, gegen den die neue Gedichtsammlung durch ihre grundsätzliche Negativität in jeder Zeile protestiert, der einige Male aber auch direkt und mit düsteren Zukunftserwartungen angesprochen wird: „Gift träuft ein grausamer Glaube“, heißt es im zweiten der Dora-Markus-Gedichte; „was will er von dir?… Es ist spät, immer später.“ Oder:

Dieser Zwiespalt unter Christen, der nur
Worte des Schattens und der Klage kennt
was bringt er dir von mir?

(„Nachrichten vom Berg Amiata“).

Das waren poetische Signale, die von der langsam wachsenden Leserschaft Montales verstanden wurden – so dunkel, so verkapselt, so ins Persönlichste eingebunden auch die „Anlässe“ dieser Gedichte sein mochten.
Dominierend wird der Bezug zur Zeitgeschichte schließlich im Opus III, dessen erster Teil, Finisterre, 1943 in Lugano erschien und dann von Montale durch neue Gedichte bis ins Jahr 1954 erweitert und als Der Sturmwind und anderes in nunmehr fortgeschrittener Nachkriegszeit herausgegeben wurde. Charakteristisch ist jedoch, daß Montale nicht die geschichtliche Thematik selbst in den Vordergrund rückt, sondern hauptsächlich von anderem zu sprechen scheint, von seinen alten lyrischen Gegenständen, Motiven und Symbolen. Indessen lassen sich aus diesen Texten „Intarsien“ herauslösen, die einerseits fest zum jeweiligen Kontext gehören, sich aber andererseits zu einem neuen, unmittelbar zeitbezogenen Muster zusammensetzen lassen: „Die Lunte ist am Blitz“ – „Der Gegner schließt die Klappe des Visiers“ – „Dort draußen summen Eisenflügel, lärmt der Totentanz“ – „Diese vom Blitz getroffene Erde, / Mörtel und Blut, kochend / Im Abdruck des menschlichen Fußes…“ – Und schließlich:

Nun, da der Kampf der Lebenden wilder tobt
wer wird, wer wird dich beschützen?

(„Meiner Mutter“).

All diese Symptome des zeitgeschichtlichen Grauens werden in Der Sturmwind und anderes kontrapunktiert durch ein individuelles Gotteserlebnis, in welches das fast immer präsente weibliche Du miteinbezogen wird; das Anerbieten der Selbstaufopferung des Dichters, das von Anfang an da war („In limine“, „Haus am Meer“), gewinnt nun einen religiösen Hintergrund. Andererseits wird dieses Du, das noch in den Motetten der Occasioni eine zwar pathetische, aber durchaus irdische Konfiguration hatte, im neuen Zyklus zur Botschafterin des Göttlichen, zum Engel stilisiert und mythisiert, gelegentlich („Die Franse der Haare“) auch durch neuplatonische Vorstellungen angereichert. Zusehends füllen sich die Gedichte mit Anspielungen auf das Gottesproblem, auf verschiedene Facetten der Christusgestalt, auf eine Stelle des Lukasevangeliums, auf das Schweißtuch der heiligen Veronika. Wir stehen geschichtlich am Kriegsende und in den allerersten Nachkriegsjahren – einer Zeit, in der Alberto Moravia einen Essay mit dem damals tiefbezeichnenden Titel „La speranza: ossia cristianesimo e comunismo“ veröffentlichte. Für Montale allerdings war dieser Titel von vorneherein alternativ: seine Suche ging in diesen Jahren in die Richtung einer Wiederfindung christlich-religiöser Substanz. Aber dieser Weg führte doch nur soweit, wie es sich mit einem grundsätzlich laizistisch-liberalen Gewissen vereinbaren ließ, und er endete ohne Fortsetzung mit diesem Werk.
Verschiedene Artikel aus den ersten Jahren nach der Befreiung vom Faschismus bezeugen, wie sehr auch Montale vom italienischen Nachkriegsenthusiasmus ergriffen war, wie sehr er bereit gewesen sein muß, seine Verkapselung im „Ermetismo“ zugunsten einer öffentlichen Verantwortlichkeit aufzugeben. Aber die politische Entwicklung warf ihn bald auf sich selbst zurück. Sie machte ihm das unausweichliche historische Dilemma seiner Generation bewußt: als bürgerlich-liberale Antifaschisten waren die ihr Zugehörigen während der zwanziger und dreißiger Jahre aus ihrer eigenen – den Faschismus tragenden – Gesellschaftsklasse ausgeschlossen und zu einer – in ihrer Art ehrenvollen – inneren Emigration gezwungen gewesen; in der Resistenza hatte es auch für sie einen Platz im sogenannten Partito d’Azione gegeben; aber der Zusammenbruch des „Aktionismus“, die neue Fixierung auf Parteien, die Polarisierung des politischen Lebens in Italien auf die Alternative Democrazia cristiana oder Partito comunista isolierte sie abermals, und nun erwartungsgemäß für den Rest ihres Lebens. Angesichts des allgemeinen Werteverfalls in der neuen Demokratie konnte es wiederum nur eine „bewegungslose Flucht“, ein neues sich Abkapseln in „Grüften, Höhlen, Schlupfwinkeln“ („A quella ehe legge i giornali“), eine neue Verweigerung geben. Es ist genau die Situation, die Montale später, im „Diario“, in einem der packendsten Texte aus der Spätzeit („Brief an Malvolio“) festhalten wird.
Nach der Bufera hat Montale über neun Jahre lang kein Gedicht mehr geschrieben. Die poetische Ader schien versiegt und der Dichter äußerte seinen besorgten Interviewern gegenüber, er fühle sich „in Quarantäne“ und überlasse das Verseschreiben einstweilen anderen. Durch den Tod seiner Frau wurde er im Frühjahr 1964 wieder zum lyrischen Schaffen zurückgeführt. Er widmete den Erinnerungen an sie zwei anrührende, „Xenia“ betitelte Folgen von Kurzgedichten, die zusammen mit anderem 1971 unter dem Gesamttitel Satura erschienen. Damit beginnt das Spätwerk und eine neue Präsenz Montales innerhalb der modernen Poesie. Was nun entsteht, unterscheidet sich tiefgreifend vom Schaffen seiner Jugend- und Reifezeit. Zunächst in quantitativer Hinsicht: den 265 Seiten der ersten 37 Jahre stehen (nach der Paginierung der kritischen Gesamtausgabe) 438 der letzten 18 gegenüber. Während der Dichter in der frühen und mittleren Schaffensphase seine Texte einer unerbittlichen selbstkritischen Kontrolle unterzogen hatte, quillt und strömt „es“ jetzt mit bemerkenswerter Leichtigkeit; und während er früher in sorgfältiger Differenzierung bestrebt gewesen war, auf die Poetik seiner Vorgänger mit einem anspruchsvolleren, strengen Gegengewicht zu antworten, gibt er sich nun einem unbekümmerten prosaischen Laisser-faire anheim („Venezianische Prosa“). Die Dichte der Metaphern vermindert sich, sie flachen – im physikalischen Sinne – ab. (Daß er auch jetzt noch, wie in seinen besten hermetischen Zeiten, nun aber spielerisch, ein perfektes Rebus herzustellen weiß, zeigt ein Text wie „Farbe wechselnd“.) Montales Spätwerk ist ein Tagebuch, bestehend aus Antworten „au jour le jour“ auf Begegnungen, Zeitereignisse, aus Resultaten der einsamen Reflexion; es sind Zeilenblöcke, in denen das Irrational-Symbolische ganz zurückgedrängt ist, und die sich in pointierter Begrifflichkeit erfüllen. Mit dem sechsten Sinn des kaum noch Dazugehörenden umkreist der Autor die letzten Fragen nach Sinn und Wert des Lebens und der Welt, nicht selten klingen Motive oder auch nur Vokabeln des früheren Werkes an – die Antworten sind resigniert, manchmal besorgt, manchmal sarkastisch; sie enden in Verzweiflung in der Erwartung eines Todes ohne Erlösung („Im Nichtmehrmenschlichen“). Daß viele dieser meist sehr privaten „Notizen zu Gedichten“ (Montale) den Leser nur schwach ansprechen, liegt in ihrer Natur, doch sind auch „Perlen“ darunter, auf die kein Montalekenner und -liebhaber wird verzichten wollen.
Noch einmal eine Auswahl aus Montales Werk auf deutsch! Ich war bemüht, die Gesamtentwicklung des Dichters, zum größten Teil anhand bisher nicht übersetzter Gedichte, anschaubar zu machen; von bereits übersetzten wurden nur solche aufgenommen, die einerseits essentiell erschienen, andererseits durch mehr oder weniger schwere Mißverständnisse den Sinn und den Ton Montales nicht erreicht hatten, und die deshalb neu vorgestellt werden mußten. Als Beitrag zu einer idealen Montale-Anthologie in unserer Sprache und als neuerliche Werbung für den Dichter möchten die vorstehenden Versuche verstanden werden – als beschwörende Abwehr auch des „Fegefeuers“, dem nur wenige Autoren in den ersten Jahrzehnten nach ihrem Tod zu entgehen vermögen.

Hans Hinterhäuser, Nachwort

 

Den bisherigen Versuchen,

Gedichte von Eugenio Montale ins Deutsche zu übertragen, fügt unsere Auswahl, die vom Tode des Dichters im Herbst 1981 veranlaßt wurde, zwanzig neue oder in wichtigen Punkten revidierte Textbeispiele hinzu – nicht einfach als eine letzte Ährenlese, sondern als einen stichprobenhaften Überblick über Montales Gesamtwerk, von den mediterranen Knochen des Tintenfischs über die dunkle Symbolik der Gelegenheiten, das zeitgeschichtliche Grauen und die subjektive Metaphysik im Sturmwind bis zu den Gedankensplittern des Spätwerks. In diesen Texten tritt der tiefe existentielle Ernst des Dichters hervor, seine disharmonische Haltung angesichts einer unannehmbaren Wirklichkeit, sein verzweifeltes Suchen nach einer haltbaren Sinngebung des Lebens, seine strenge, oft dissonautische lyrische Essenzialität. Montale ist kein leichter Dichter, er liebt die mehr- oder vieldeutigen Symbole; Verwandtschaften lassen sich erkennen zu Eliot und Benn, und zuletzt zum prosaisch-pointierten Dichten der heutigen Generationen. Als Gebrauchsanweisung für den Leser möge ein Rat des Dichters, Kritikers und Altergenossen Montales, Sergio Solmi, dienen: „Montales Dunkelheit ist nie oder fast nie unüberwindlich, sie ist vielmehr das Ergebnis einer konzentrierten Ausdruckskunst, einer Konkretion, die aus dem Gedicht einen sinnlich erfaßbaren Gegenstand macht, in den der Leser langsam eindringen muß, um seinen Bedeutungsreichtum Schritt für Schritt auszuschöpfen…“

Horst Heiderhoff Verlag, Klappentext, 1982

 

Verse im Frack und Verse im Schlafanzug 

–Eugenio Montale, Dichter zweier Jahrhunderthälften. –

Die meisten Dichter leisten ihr Bestes in jungen Jahren, wenn die Gefühle heftig und die Widersprüche des Lebens begrifflich noch nicht geklärt und emotional nicht entschärft worden sind. Doch es gibt auch Lyriker, die länger erregbar und produktiv bleiben – manche sogar bis ins hohe Alter hinein. Und diese Poeten, die es irgendwie fertigbringen, das Magma ihrer Affekte und ihres Denkens vor der Erstarrung zu bewahren, sind (der größeren Zeitspanne wegen, die sie überblicken) in der Lage, Erfahrungen einzubringen, über die jüngere Autoren nicht – oder doch nicht in solcher Fülle und Konsistenz – verfügen können.
Umberto Saba, Gottfried Benn, Günter Eich, Pablo Neruda… sie und einige andere haben gegen Ende ihres Daseins Werke geschaffen, die nur der reife Mensch hervorbringen kann, jedenfalls dann, wenn er noch nicht angepaßt, abgenutzt, abgestumpft ist.
Zu den Dichtern, die über die Jahrzehnte hin ihre poetische Stimme nicht verloren haben, gehörte auch Eugenio Montale, ja bei ihm kann man – ähnlich wie bei Neruda – im Alter geradezu von einer Zäsur der kreativen Steigerung sprechen. Die Verkrampfung, die über einen langen Zeitraum ein unübersehbares Merkmal von Montales lyrischem Schaffen gewesen ist, weicht einer gelösten Art des Redens, und das als Folge eines schweren, innerlich nie verkrafteten Schicksalsschlages – des Todes seiner Frau, die 1963 starb, als der Dichter selbst schon auf die siebzig zuging.
Montale hatte bis dahin mehr oder weniger schwermütige Verse geschrieben: Texte, die vielen als dunkel und abweisend erschienen, weswegen man sie – wie auch die Gedichte Ungarettis und Quasimodos – mit der (keinesfalls immer schmeichelhaft gemeinten) Bezeichnung Hermetismus etikettierte.
Das Werk des Dichters besteht aus zwei sehr ungleichartigen Teilen: den drei „hermetischen“ Bänden seiner ersten Lebenshälfte, die seinen Ruhm begründeten, und den (weitaus konsumerableren) Büchern, die er nach dem Tod seiner Frau publizierte und die spontan und alltagsnah wirken.
Von seiten der Kritik wurde ihm nun allerdings vorgehalten, nicht mehr die kompositorische Strenge seiner früheren Zyklen zu erreichen, sondern sich zu sehr auf beiläufige Mitteilungen zu kaprizieren – ein Vorwurf, der jedoch nicht stichhaltig ist, schließlich hatte Montale auch die schwierigen Texte seines vorangegangenen Werkes als subjektive Äußerungen begriffen, weswegen er eine seiner Sammlungen ausdrücklich mit dem programmatischen Titel Le occasioni, Gelegenheiten, überschrieb. 

Keine freie Wahl
Montale, der Jahrzehnte hindurch das Gefühl hatte, unter einer Glasglocke tätig zu sein, reagierte in den beiden Hälften seines Lebens unterschiedlich auf äußere Anlässe, die ihm Stichworte zur Mitteilung seiner psychischen Binnenwelt gaben: 

ein Künstler wird gezwungen; er hat keine freie Wahl. In diesem Bereich besteht tatsächlich Determinismus. Ich folgte dem Weg, den meine Zeit mir vorschrieb, morgen werden andere ihrem Weg folgen, sogar ich kann mich ändern.

Obwohl der Dichter ein erklärter Gegner des Faschismus war, wies er jeden direkten Zusammenhang zwischen seiner oft eingedunkelten Schreibweise und der politischen Zensur zurück, ja er deutete sogar an, daß ihm die Mussolini-Ära und später der Krieg womöglich „jenes Alibi“ verschafft hätten, das er „für seine Abgeschlossenheit“ brauchte, um zum Ausdruck zu bringen, was in ihm rumorte und nichts zu tun hatte mit „diesem oder jenem geschichtlichen Ereignis“.
Montale hat sich, seinen eigenen Worten zufolge, seit seiner Geburt in völliger Disharmonie gefunden mit der Wirklichkeit, die ihn umgab. Das ist umso verwunderlicher, als über seiner Kindheit und seiner Jugend keinesfalls ein Unstern stand. Er war das Kind eines wohlhabenden Kaufmanns, und es war ihm vergönnt, in langen Sommermonaten das Mittelmeer an einer seiner schönsten Küsten zu erleben: in der Landschaft der Cinque Terre, die heute zu einem Touristenziel verkommen ist, die um die Jahrhundertwende aber noch den Zauber unberührter maritimer Südlichkeit widerspiegelte.
Der Dichter hat nie gern Auskunft über seine Person und seinen Werdegang gegeben. Im Gegenteil. Es hat ihm Vergnügen bereitet, falsche Fährten zu legen oder sich in mehrdeutigen Antworten zu ergehen. Doch die Tatsache, daß er sich rückblickend mehr an Mägde und Hunde als an Familienangehörige und Spielkameraden erinnert, läßt auf eine einsame, unglückliche Kindheit schließen, wie sie nicht eben selten ist im Dunstkreis der Bourgeoisie.
Zwar gibt es auch einige nachleuchtende Bilder („Kindheit, die einen Innenhof erforscht, / als sei er die Welt“); im großen und ganzen sind Montales frühe Gedichte jedoch spröde, sperrig und – frustriert. Da mediterrane Licht wird gleichsam eingeschwärzt, und ein nicht erklärbarer Weltschmerz drückt sich aus in einer Wehklage, die sich bis zur Wehleidigkeit steigern kann: „Ich schenk dir selbst noch meine karge Hoffnung. / Sie täglich neu zu schaffen, bin ich zu müde“; oder, ausgesprochen larmoyant:

Verlaß mich nicht, du meine Traurigkeit…

Das Glück nebenan
Die Gedichte in Montales Bänden Tintenfischknochen (1925; erw. 1928), Gelegenheiten (1939) und Der Sturm (1956) sind nur insofern kryptisch, als der Autor die Gründe seiner Melancholie verschleiert, die zu tun haben mit seiner Abkapselung von der Gemeinschaft.
Der Dichter spürt die Isolation und stellt elegisch fest: „Wohl dem Menschen, der in Sicherheit geht, / den anderen zugetan und sich selber gut…“ – Das Glück ist immer nur da Glück nebenan, und erstaunlicherweise bedarf es zu seiner Erfüllung sehr wenig: 

Der Reigen der Kinder im Flußbett
war das Leben, das aus der Dürre hervorbrach.

Montale, der sich selbst einen „allzu Toten“ nennt, vergewissert sich aus entrückter Position: 

Die Welt ist wirklich…
die hungernden Menschen feiern ein Fest.

Die Freude des Normalmenschen empfindet der Poet als einen Stachel in seiner Brust. Allein bei den Erscheinungen der Natur findet er Zuflucht und Trost, vor allem im Rückblick auf seine Kindheit: 

Zwischen Weinlaub und Pinienschatten
erhoben sich Felsen,
kahle, bucklige Anhöhen;
ritt da ein Mann
auf dem Maultier vorüber,
war er in frischer Bläue geprägt
für immer – und im Erinnern.

Solche Bildgesättigtheit findet sich vergleichsweise selten in der Lyrik der ersten Lebenshälfte. Zwar gilt Montales „hermetische“ Dichtung als entschiedene Absage an die vorangegangene rhetorische und redundante Poesie Italiens. Doch aus heutiger Sicht – und unter Berücksichtigung seines späteren Schaffens – waren seine ersten drei Bände keinesfalls frei von Oratorik und Ausschweifung.
Wegen diverser kühner Metaphern war man nur zu geneigt, das gesamte Textgewebe für extrem modern zu halten – dabei gab es viel Verqueres und Verschachteltes, ganz zu schweigen von der antiquierten Methode des Ansingens, dem emphatischen Gebrauch des „Oh“: „Oh Horizont, du fliehender…“; oder: „Oh, das Surren / des Bogens nach dem Schluß…“; oder: „Oh, Versunkne!: du verschwindest / ganz wie du kamst…“ 

Das unbedachte Wort
Man hat Montales pessimistische Lyrik gelegentlich mit der T.S. Eliots verglichen. Das ist insofern richtig, als es bei ihm eine Waste-Land-Stimmung gab, einen nihilistischen Grundakkord, der unüberhörbar durchklang, freudlos und trocken:

Ist schon Fasching
oder immer noch Dezember?

Die besten Texte in Montales ersten drei Bänden sind meist kürzere Stücke wie „Portovenere“, „Zu Lubias Abreise“, „In der Manier von Filippo de Pisis“ oder das folgende kleine Poem, das ein lyrisches Reisemitbringsel ist und – plaziert in dem Band Der Sturm – bereits etwas von der wortökonomischen Beiläufigkeit des weniger gewürdigten Spätwerks vorwegnimmt: 

AM LLOBREGAT

Aus dem beständigen Grün des Kampferbaums
die große Terz, gerufnes Intervall.
Der Kuckuck, nicht der Kauz, sagt’ ich zu dir; doch du
tratest im Nu aufs Gaspedal. 

Hier, in dieser leicht verrätselten lyrischen Momentaufnahme, klingt schon jener intime Ton an, der nach dem Tode seiner Frau „Mosca“ („Fliege“) die Xenien bestimmen sollte, eine Folge privater Gedichte, die etwas in der Weltliteratur Einmaliges darstellen, weil sie den Dialog mit einer Verstorbenen aufrechterhalten… auf so unmittelbare und selbstverständliche Weise, wie das eigentlich bloß zwischen Lebenden möglich ist: 

Dein Wort, so kümmerlich und unbedacht,
bleibt doch das einzige, an dem ich mich freue.
Doch verändert ist die Betonung, anders die Farbe.
Ich gewöhne mich daran, dich im Ticken
des Fernschreibers zu spüren und zu entziffern
im sich kräuselnden Rauch meiner
Brissago-Zigarren. 

Rührend, welche Vertraulichkeiten da vernehmbar werden aus dem Munde des Zurückgebliebenen: 

Ich habe nie begriffen, ob ich
dein treuer, staupekranker Hund war,
oder ob du es für mich warst…

Oder, verkürzt zu einem epigrammatischen Zweizeiler: 

Zuhören war deine einzige Art zu sehen.
Die Telefonrechnung ist auf wenig zusammengeschrumpft. 

Verbrauchte Dinge
Der Verlust seiner Frau bringt den Dichter ab von der (teilweise nur eingebildeten) Seelenqual der vorangegangenen Jahrzehnte, und so resümiert er einsichtig und mit Selbstbezichtigung: 

Nie dachtest du daran, Spuren zu hinterlassen
in Versen oder in Prosa. Und das war
dein Zauber – und später mein Ekel vor mir…

Fast klingt es paradox, und doch war es so: erst der Tod seiner Frau versöhnte Montale mit der Idee des Todes, die ihm von Kindheit an das Leben verdüstert hatte.
Zwar gab der Dichter seinen Pessimismus nicht auf, aber er fand sich ab mit der Lage der Dinge… jetzt, wo er im Jenseits (an das er nicht glaubte) eine Vertraute hatte, die einen Platz für ihn bereit hielt. Fast augenzwinkernd baute Montale zu seiner verstorbenen Frau ein Verhältnis auf, das gerade in seiner nicht transzendierenden Alltäglichkeit ein Phänomen ist. Hin und her geht das Weberschiffchen und spinnt Fäden, in die meist noch ein feiner spöttischer Doppelzwirn gewirkt ist: „Ich war nie sicher, auf der Welt zu sein.“ / „Hübsche Entdeckung“, gabst du mir zurück, „und ich?“ / „Ach, du hast an der Welt genagt, wenn auch / in homöopathischenDosen. Aber ich…“ 

Was ihm früher nicht gelingen wollte, parlandohaft von seinen Befindlichkeiten zu sprechen – nun, im Alter, brachte er es zustande, und das nicht nur in den Gedichten, in denen er Zwiesprache mit seiner toten Frau hielt, sondern auch in jenen Texten, die den Xenien folgten und Reaktionen auf alle möglichen Gelegenheiten und Ungelegenheiten waren: 

Heute ist Generalstreik.
Auf der Straße ist niemand.
Nur ein Transistorgerät jenseits der Mauer.

Ich frage mich, was aus der Produktion wird.
Auch das Frühjahr produziert sich verspätet.
Vorzeitig hat man die Heizung abgestellt.
Man hat gemerkt, daß die Postzustellung unnötig ist…

Montale sagt, was er auch früher schon gesagt hat:

Das Leben ist ein solcher Aufwand verbrauchter Dinge.

Doch er bringt sein Empfinden jetzt auf andere Weise zum Ausdruck: lapidar, konkret, ablesbar von ganz banalen Vorkommnissen:

Ein Käfer versucht über meine Einkommensteuer
zu laufen…

Oder:

Es sang eine Grille, vollkommen inbegriffen
in die klinische Therapie…

Gebeugt über Kanten
Dieser Dichter, den man allgemein als Hermetiker ansah, schrieb unerwarteterweise Gedichte, die von der Gelehrtenwelt nicht mehr dechiffriert zu werden brauchten, weil sich das Mysterium, das sich in ihnen offenbarte, unverhüllt zu erkennen gab – mit so viel durchtriebener Offenheit, daß der Hebel der Interpretation kaum noch ansetzbar war: 

AM TELEFON MITGEHÖRT

Ich glaubte, ein Bischof zu sein
in partibus
(gleichgültig in welchem Teil der Welt
wenn er nur unbewohnt ist),
doch ich war wahrscheinlich Kardinal
in pectore,
ohne davon unterrichtet zu sein.
Auch der Papst hat sterbend vergessen
es mitzuteilen.
So kann ich in Glorie leben
(soviel die eben wert ist) mit oder ohne Glauben
und in jedem Land,
aber außerhalb der Geschichte
und in Zivil. 

Nicht weniger ambiguent als sein Verhältnis zur Religion war das zur Historie, in der er weder einen Gott noch den Hegelschen Weltgeist walten sah: 

Die Geschichte wird nicht gemacht
von dem, der sie überdenkt, und auch nicht
von dem, der sie nicht kennt.

Die Geschichte rechtfertigt nicht
und bedauert nicht,
die Geschichte ist nirgends zuinnerst,
da sie außerhalb steht.
Die Geschichte verschreibt
weder Zärtlichkeit noch Peitschenhieb.
Die Geschichte lehrt nichts,
was uns angeht.
Sich dessen bewußt werden, taugt nicht,
sie wahrhaftiger und gerechter zu machen.

Der greise Montale war verzweifelt auf eine weise humorvolle Art, etwa wenn er konstatierte: „Gebeugt stehe ich über Kanten und Ritzen des Erdreichs, / Insektenforscher und Ökologe meiner selbst“ und wenn er dann, ein gutes Dutzend Zeilen weiter im selben Gedicht, wiederum auf seine „Mosca“ zu sprechen kam: 

Einstmals, du weißt es, sagte ich zu der kurzsichtigen Frau
die meinen Namen trug und ihn noch trägt, wo sie jetzt ist:
wir sind zwei Probe-, zwei nicht korrigierte
Fahnenabzüge, die der Übersetzer
keines Blickes gewürdigt…

Amüsement im Jenseits
Immer schon hatte sich Montale für einen realistischen – einen von der Wirklichkeit ausgehenden – Poeten gehalten. Doch sein Ziel, ganz direkt und ungeschminkt zu sagen, was er fühlte und dachte, erlangte er erst im Alter. Und mit einer Ironie, die Zufriedenheit, wenn nicht gar Stolz enthielt, bemerkte er, er habe seine frühen Verse im Frack, doch seine späten im Schlafanzug geschrieben.
Der gefeierte Dichter, der 1975 den Nobelpreis erhielt und den sein Land mit der Würde eines Ehrensenators auf Lebenszeit ausstattete, machte sich weit weniger aus dem Ruhm als Ungaretti, der sich in Rom von der Society und Snobiety herumzeigen ließ, sich jedoch fragend:

Wäre es nicht würdiger, ich zöge mich zurück in mich selbst?

Montale wahrte aristokratische Distanz, und als er 1981 im Alter von fünfundachtzig Jahren starb, erhielt er eine pompöse Totenmesse im Mailänder Dom: ein Requiem – das der Erzbischof höchstpersönlich zelebrierte – im Beisein des Staatspräsidenten, des Kabinettchefs und einer großen Trauergemeinde. Doch am nächsten Tag wurde der Dichter ohne Aufhebens neben seiner Frau beigesetzt, in einem Vorort von Florenz.
Von hier, von seinem Grab aus, inszenierte er einen letzten Spuk über die Grenze von Tod und Leben hinweg – dadurch, daß er anordnete, man solle sechsundsechzig „posthume“ Gedichte, die er noch im hohen Alter verfaßt hatte, elf Jahre lang veröffentlichen… erst ab 1986, doch dann regelmäßig.
Ein Notar hatte den Auftrag erhalten, das Ganze zu überwachen. Der Dichter, der nicht an Gott glaubte, aber – wie Luis Buñuel, ein anderer großer Agnostiker – die letzte Ölung erbat, bestand darauf, einen kleinen spirituellen Grenzverkehr zwischen Sein und Nichtsein aufrechtzuerhalten; oder, wie es in einem seiner nachgelassenen Gedichte heißt:

Im Jenseits möchte ich mich noch amüsieren.

„Vernichter“ und „Krieger“
Montales nachgelassene Gedichte sind ein genialischer Schabernack, doch in literarischer Hinsicht ein eher marginales Werk, das nicht den gleichen Rang besitzt wie seine anderen, noch zu Lebzeiten publizierten Alterspoeme.
Die Idee zu dem Zyklus war ihm 1968 gekommen, fünf Jahre nach dem Tod „Moscas“, die während der letzten neunzehn Jahre ihres Lebens an einer Tuberkulose-Erkrankung der Wirbelsäule gelitten hatte.
Eng verbunden mit Montales posthumen Versen ist der Name Annalisa Cimas, einer jungen literarisch ambitionierten Frau, die der verwitwete Dichter alsbald zur Bezugsperson seines Schaffens und zur Treuhänderin seines Nachlasses machte – gemeinsam mit der Rechtsabteilung des Verlages Mondadori, die für die formale Abwicklung zuständig blieb.
Aus dem Blickwinkel der Nachwelt betrachtet, besitzt Montales lyrisches Vermächtnis nicht jene Aureole, die ihr Annalisa Cima anzudichten versucht, wenn sie sagt: 

Ein imaginärer winziger Staat von Personen, eine Burg-Gemeinde nahm nach und nach Gestalt an, und in ihr die Kaiserin, von ihren Botschaftsräten flankiert.

Die Kaiserin – das war und ist niemand anders als Annalisa Cima selbst, die das hohe schmückende Prädikat eigens von Montale erhalten hat, zusammen mit anderen denkwürdigen Bezeichnungen wie „lebendiger Mensch“, „flinker Bote“, „verlegener Junge“, aber auch „Vernichter“ und „Krieger“ (was immer mit solchen kryptischen Festschreibungen gemeint sein mag).
Montales posthume Gedichte haben, von wenigen Einzelstücken und manchen sententiösen Einsprengseln abgesehen, weder die artistische noch die menschliche Plausibilität wie viele Texte seiner Sammlungen Satura von 1970 und Diario del ’71 e del ’72 von 1972. Manches ist so privat, daß es nicht vom Persönlichen ins Individuell-Exemplarische vorzustoßen vermag. Es entfaltet lediglich eine Art Insider-Jargon: so etwas wie verbale Geheimbündelei, die niemanden als die verschworenen Logenbrüder miteinbezieht, den elitären Zirkel der „Burg-Gemeinde“.
Hier und da bringt Montale sogar sein Unbehagen zum Ausdruck – auch in Bezug auf die neue Vertraute seines Herzens: 

Dein Alter macht mir angst
dich schützt es und mich klagt es an.

Oder: 

Ein Büchlein taucht auf
aus dem Magazin einer Riesentasche
und klar tönt ein Vers
den ich beurteilen soll.

Im Morast versunken
Irritiert nimmt der Dichter den Rollentausch wahr, der sich da unversehens vollzogen hat… zwischen sich, dem weltweit anerkannten Poeten, und der Novizin, die ihm ihre Arbeiten unterbreitet: 

… ich die Muse… und du der Sänger.

Der Seher ist tot, es lebe der Vernichter.

Lieber sterben als besudelt werden, lautet die Übersetzung der lateinischen Auftaktzeile, mit der Montale sein Gedicht „Aber es gibt den“ beginnt, einen Text, in dem er seiner latenten Schuldgefühle ledig zu werden versucht – sowohl im Hinblick auf das Leben, das er führt, als im Gedenken an seine verstorbene Frau: 

Potius mori quam foedari
ist das unversehrte Gefühl
vom Leben, das du weitergibst
in chiffrierten Botschaften.
Aber es gibt den der einsichtslos ist
und die Welt bevorzugt
so wie sie ist: im Morast versunken. 

Das Dasein, früher weitgehend noch als Fatum begriffen, wird nun als reine Illusion oder als bloßer Scherz angesehen. Und der Dichter nennt sich einmal einen „Schönredner“, der Schiffbruch erlitten habe „an den überlaufenen Stränden des Belanglosen“.
Pathos und seraphischer Ton sind endgültig aus der Poesie verschwunden, und in finaler Selbsteinschätzung heißt es: 

Mag sein nach so viel Vergeudung
endet auch das Wort in der Kloake.

Eugenio Montale, der gern den Abdruck einer heraldischen Wegspur hinterlassen hätte, argwöhnte schließlich, sich auf Erden nur als „Überbringer lebloser Zeichen“ betätigt zu haben, denn: 

Dichter sein ist kein Vorzug.
Es ist nur ein Fehler der Natur.

Hans-Jürgen Heise, die horen, Heft 183, 3. Quartal 1996

 

MONTALE IN FIRENZE

An einem späten Sommertag, im Herbst
lief er die Hügel hinauf zu den Tennisplätzen
weißbärtig, und die Schachspieler rückten vor
mit Pferd und Dame. Das Laub ist warm und
weich. Ich halte einen Schlüssel für die Violine
Restmusik, inneres Ohr (es gibt nicht arm und reich

sagt Montale, nur Spatzen, Weißbrotkrümel).
Nichts ist egal und alles. Hier klafft die Mitte:
Von Bäumen umgeben, bewachsen mit Büschen
auf tausenden Füßen das Auge der Ameise.
(Für ihn kein Wiederkommen, nur ein Leuchten
zwischen Blattnestern, Knochen, Spaten.)

Das Feuer im Garten hat keiner entfacht
und niemand weiß. In jenem Frühjahr, als sich
die Hakenrunen verbanden, stand er zwischen
Keller und Wasserkante. Er schöpfte nicht aus
dem liturgischen Meer, in dem Blut schwamm.
Möwen schissen, Päpste flogen aus den Fenstern.

Die Partie? Gewinnt keiner, und die Stadt
taucht in versteinertes Licht.

Tom Schulz

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope
Nachruf auf Hans Hinterhäuser: De Gruyter

 

Jan Wagner: Götter und Landstreicher. Nicht zuletzt über Eugenio Montale. Vierter Bamberger Poetikvortrag im Rahmen der Bamberger Poetikprofessur

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Nora Urban: Zu Eugenio Montales siebzigstem Geburtstag
Die Tat, 12.10.1966

Zum 80. Geburtstag des Autors:

N. U.: Eugenio Montale zum achtzigsten Geburtstag
Die Tat, 12.10.1966

Zum 125. Geburtstag des Autors:

Google Doodle von Andrea Serio

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLfGIMDb + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA
Nachruf auf Eugenio Montale: ndl

 

Eugenio Montale – Interview.

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