Ezra Pound: ABC des Lesens

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ezra Pound: ABC des Lesens

Pound-ABC des Lesens

WIE MAN DICHTKUNST ANGEHT

Das vorliegende Buch soll eine ausführlichere und einfachere Erklärung der in How to Read umrissenen Methode bringen. How to Read mag man als polemische Flugschrift ansehen, als die Summe der zügigeren und bösartigeren Unternehmungen aus dem frühen kritischen Geplänkel des Autors, als Streifzüge zur Erkundung einer Feindstellung. Die vorliegenden Seiten sollten unpersönlich genug sein, um als Lehrbuch zu taugen. Der Autor hofft, in der Nachfolge eines Gaston Paris und S. Reinach zu stehen, also ein Handbuch vorzulegen, dessen Lektüre auch jenen „zu Genuß und Nutzen gleicherweise“ dient, die ihre Ausbildung abgeschlossen haben; jenen, die nie eine Ausbildung hatten; jenen endlich, die in ihren Universitätstagen erduldeten, was die meisten meiner Generation erdulden mußten. Ein vertrauliches Wort an Lehrer und Professoren findet sich gegen Ende des Buches. Ich säe nicht mutwillig Dornen auf ihren Pfad. Ich möchte auch ihr Los und Leben heiterer gestalten und sogar sie vor unnötiger Langeweile im Klassenzimmer bewahren.

Warnung!

1 Gleich nach dem Anfang des Buches kommt eine ziemlich lange öde Strecke; der Lernende wird sie durchhalten müssen. Ich bemühe mich da nach Kräften, Mehrdeutigkeiten auszuschalten, in der Hoffnung, ihm für später Zeit zu sparen.

2 Trübsinn und Feierlichkeit sind auch in der fachgerechtesten Untersuchung einer Kunst fehl am Platze, die ursprünglich bestimmt war, dem Herzen des Menschen Freude zu bringen.

Gewichtigkeit, eine geheimnistuerische Haltung des Körpers, bestimmt, die Blößen des Verstandes zu verdecken. Laurence Sterne

3 Die rauhe Behandlung, die manchen verdienten Autoren hier zuteil wird, hat einen Zweck; sie entspringt der festen Überzeugung, daß es nur eine Möglichkeit gibt, die besten Werke in Umlauf zu halten, oder „die beste Dichtung volkstümlich zu machen“, nämlich eine scharfe Trennung des Besten von der Masse Literatur, die lange für wertvoll gehalten wurde, die alle Lehrpläne überlastete und die Schuld trägt an der landläufigen, schädlichen Vorstellung, ein gutes Buch müsse notgedrungen ein langweiliges Buch sein. Ein klassisches Werk ist klassisch, nicht weil es sich gewissen Regeln des Aufbaus fügt oder zu gewissen Definitionen stimmt (von denen sein Autor höchstwahrscheinlich nie gehört hat). Es ist klassisch kraft einer gewissen ewigen und nicht kleinzukriegenden Frische.

Der Prüfungskommissar an einer italienischen Schule, den meine Cavalcanti-Ausgabe aufrüttelte, äußerte seine Bewunderung für die nahezu ultramoderne Sprache Guidos.

Unwissende Männer von Genie entdecken ständig „Gesetze“ der Kunst wieder, die die Akademiker verlegt oder versteckt hatten.

Am heutigen Neujahrstag ist es die Überzeugung des Verfassers, daß Musik anfängt zu verkümmern, wenn sie sich zu weit vom Tanz entfernt; daß Dichtung anfängt zu verkümmern, wenn sie sich zu weit von der Musik entfernt; womit nicht gesagt sein soll, daß alle gute Musik Tanzmusik sei oder alle Dichtung liedhaft. Bach und Mozart entfernen sich nie zu weit von der Bewegung des Körpers.

Nunc est bibendum Nunc pede libero Pulsanda tellus.

 

 

 

Vorwort

Als Descartes die Zuständigkeit der Sprache für die exakte Mitteilung in Frage stellte und die mathematische Formel an ihre Stelle setzte, fing das Selbstbewußtsein der Dichter zu kranken an. In zunehmendem Maße sehen wir seither, wie sich das Mißtrauen gegenüber der Wirksamkeit der sprachlichen Mitteilung einschleicht, was vor allem in der ständigen Berufung auf die Gewohnheiten und Erfahrungen des Lesers zutage tritt. Die Gewichte sind verschoben: während es früher darauf ankam, eine Wahrnehmung, ein Erlebnis, möglichst getreu zu Papier zu bringen und dann „die Sache sprechen zu lassen“, kommt es nunmehr darauf an, den Leser zu gewinnen und zu überreden. Das literarische Werk ist von der Aufklärung an nicht mehr autonom – es stellt vielmehr einen Versuch der gegenseitigen Durchdringung dar, der Identifizierung von Autor und Leser, und enthält als solcher ein – mehr oder minder starkes – rhetorisches Element. Die erste Gegenströmung zu dieser Entwicklung findet sich bei den großen französischen Prosaisten des neunzehnten Jahrhunderts, bei Stendhal und Flaubert, die zu der Einsicht kamen, daß die präzise Aussage kein Vorrecht der Wissenschaft ist und sich, im Gegensatz zur herrschenden Meinung, durchaus mit der künstlerischen Tätigkeit verträgt, ja, daß der ästhetische Impuls vor allem auf dem Drang zur Präzision beruht. Das wichtigste Kunstmittel, das diese Franzosen dabei entwickelten, war der Begriff des mot juste. Nun besteht aber, wie Pound einmal bemerkt, ein großer Unterschied zwischen dem „üblichen Wort“ und dem „mot juste“: das Prinzip des mot juste muß den Leser, wenn es konsequent angewandt wird, vor Wortzusammenhänge stellen, die ihm neu und mitunter fremd sind; es verlangt eine aktive Aufmerksamkeit, es biedert sich nicht an, sondern gewinnt seine Überzeugungskraft aus einer inneren Autonomie. Ezra Pound und seine Weggefährten, die „schwierigen“ Dichter: T.S. Eliot, James Joyce und in mancher Hinsicht auch W.B. Yeats, holten die Revolution der französischen Prosaisten des 19. Jahrhunderts für die anglo-amerikanische Dichtung nach. Deutlich sehen wir den französischen Einfluß in einem Brief Pounds an Harriet Monroe aus dem Jahre 1915, in dem er schreibt:

… Es darf keine Clichés, keine fixen Phrasen, kein stereotypes Journalistisch geben. Man entrinnt dem nur durch Präzision – einem Ergebnis der konzentrierten Aufmerksamkeit auf das, was man schreibt… Sachlichkeit und nochmals Sachlichkeit und Ausdruck… Jedes Literatentum, jedes Buchwort, vertut ein Stück von der Geduld des Lesers, ein Stück von seinem Glauben an Deine Ehrlichkeit. Wenn man wirklich denkt oder fühlt, stammelt man in einfacher Rede daher – nur in der Hast, der seichten, schaumigen Erregung des Schreibens, oder dem Rausch des Versmaßes, verfällt man der leichten, allzu leichten Sprache von Büchern und Gedichten, die man gelesen hat … Sprache ist aus konkreten Dingen gemacht. Allgemeine Äußerungen in nicht-konkreten Worten sind bloße Faulheit; sie sind Gerede, nicht Kunst, nicht Schöpfung. Sie sind die Reaktion des Dichters auf die Dinge, keine schöpferische Tat des Dichters… Beiworte sind meist Abstraktionen.

Das Trachten nach der genauen Bezeichnung der Dinge hatte zur Folge, daß sich die Schriftsprache aus den konventionellen Bindungen losmachte und auf Lebensbereiche ausdehnte, die ihr bisher verwehrt waren. Wir finden deshalb in Pounds Sprache eine Reihe von ungleichartigen Elementen: die Umgangssprache neben der wissenschaftlichen Wendung, das Parodistische neben der ernsthaften Ermahnung, das Ausfällige neben dem terminus technicus. All diese Dinge sind zulässig, wenn – wie Pound einmal sagt – der gute Stil darin besteht, „genau das auszuführen, was man sich vorgenommen hat“. Pounds Absicht aber ist, den Leser zum Denken anzuregen. Es liegt ihm gar nicht daran, seine Gedankengänge bis ins letzte auszuspinnen – er will lediglich bestimmte Ansatzpunkte zum Denken geben. Und dies ist wohl die Ursache seines großen Einflusses auf das literarische Schaffen im anglo-amerikanischen Sprachbereich in der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Zur Gabe des großen Anregers gesellt sich bei Pound ein sicherer Blick für das, was in einem gegebenen Augenblick gesagt werden muß. Dag Hammarskjöld, der Generalsekretär der UNO, bezog sich einmal in einer Ansprache darauf, als er sagte: „Vorreiter und Seher müssen wir sein, wenn wir etwas ausrichten wollen, Seher wie Ezra Pound.“ Den Ruf, ein „Vorreiter und Seher“ zu sein, erwarb sich Pound in seiner literarischen Kampfzeit, zwischen 1910 und 1937, als er mit zahlreichen Aufrufen, Manifesten, Briefen, Zeitschriften und Essays an der „Erfindung einer zeitnahen Ausdrucksweise“ mitwirkte. Unter den vielen Prosa-Arbeiten aus dieser Zeit nimmt das ABC DES LESENS insofern einen besonderen Platz ein, als es die Reihe der didaktischen Schriften zum Abschluß bringt. In der Gestalt eines ironisierten Handbuches faßt Pound hier seine Bemühungen um ein zuverlässiges Gerüst der Bewertung und Einstufung von literarischen Werken aller Zeiten und Breitengrade zusammen: „Morgen bricht über Jerusalem an, indes Mitternacht noch die Säulen des Herkules verhängt. Alle Zeitalter sind gegenwärtig… die Zukunft regt sich im Geist der Wenigen… Das trifft vor allem auf die Literatur zu, wo die wirkliche Zeit unabhängig ist von der scheinbaren und viele Tote Zeitgenossen unserer Enkel sind.“ Die Schwierigkeit der Aufgabe, die sich Pound stellte, als er auszog, „Zeitgenossen“ in der Dichtung zu finden, läßt sich heute nur noch ermessen, wenn wir uns die literarische Lage im England der Jahrhundertwende vor Augen führen. Zu der Zeit als Pound dort eintraf, glichen die landläufigen literarischen Vorstellungen in mancher Hinsicht dem spät-viktorianischen SaIon: sie waren möbliert mit einer Anhäufung von Namen und Maximen, deren relative Bedeutung in dem allgemeinen Wust untergehen mußte, und deren schierer Raumanspruch jede kräftigere Bewegung unterband. Es herrschte eine Denkweise, die solche Anhäufung von geistigem und materiellem bric à brac für die Kultur schlechthin hielt. Um nun die Literatur zu entrümpeln – von ihren Produkten abzusehen und zu ihren bewegenden Kräften vorzustoßen legte es Pound darauf an, das Ansehen der großen Dichter von ihren Werken zu dissoziieren, um festzustellen, worin ihre Leistung gegenüber den Leistungen der je eigenen Vergangenheit tatsächlich bestand. Diese Zurückführung der Literatur auf ihre reellen Werte macht den eigentlichen Beitrag Pounds und Eliots zur heutigen Literaturkritik aus, und der Aufbruch der anglo-amerikanischen Dichtung in unserer Zeit wäre ohne sie nicht denkbar. Der Sinn solcher Dissoziation liegt aber nicht nur darin, daß sie an Hand der Namen, die ihr standhalten, eine klare historische Linie nachzuzeichnen vermag – die Namen stellen vielmehr in Eliots Worten ein „objektives Korrelat“ dar, eine greifbare Entsprechung für gewisse Werte der Wahrnehmung, für unwägbare Verlagerungen der menschlichen Sensibilität, dem Nährboden des künstlerischen Schaffens. Dieses „objektive Korrelat“ stimmt in vielen Punkten mit dem „ideogrammatischen Verfahren“ überein, das in dem vorliegenden Band umrissen wird – es ist ein Mittel, um schwebende oder emotionale Sachverhalte im Sinn zu verankern. Wenn man die Betrachtung der Dichtkunst so auf die Wendemarken ihres geschichtlichen Werdens zurückführt, kommt man bald darauf, daß eine Einteilung nach nationalen Gesichtspunkten rein äußerlich bleiben muß. Pound weist wiederholt darauf hin, daß jeder große Aufschwung der englischen Literatur an die Leistungen der Übersetzer anknüpfte, welche die Spanne der Möglichkeiten ihrer eigenen Sprache erweiterten und sie in Stand setzten, Sinngehalte aufzunehmen, die ihr bis dahin verschlossen waren. So brachte Chaucer, der Übersetzer des „Romaunt of the Rose“, Virgil und Ovid in das Gesichtsfeld seiner Zeit; Gavin Douglas übertrug den Äneas; Golding die Metamorphoses des Ovid; Marlowe die Amores; Pope lernte viel von seiner Homer-Übersetzung; Landor von der griechischen Lyrik, Rossetti von der früh-italienischen, Fitzgerald von der persischen. Wenn Pound aber im zweiten Teil der englischen Ausgabe dieses Bandes, der hier entfällt, eine Anthologie von englischen Dichtern und Übersetzern zusammenstellt, welche die Entwicklungen der englischen Verskunst anschaulich machen soll, so will er damit keineswegs sagen, daß irgendein Mensch von heute mit einer einzigen Sprache auskommt: seine Auswahl ist lediglich ein Notbehelf für diejenigen Leser, die nur englisch können. Für uns ist es das Naheliegende, Pounds Wert-Ordnung aus dem besonderen angelsächsischen Zusammenhang zu lösen und die Anwendbarkeit seines Bezugsrahmens auf unsere eigenen Möglichkeiten zu prüfen.

Eva Hesse, Vorwort

 

Nachbemerkung des Verlages

In dieser Ausgabe ist Teil II des englischen Originals von ABC of Reading nicht enthalten. Er ist vorwiegend mit dem Abdruck englischer Gedichte von Chaucer (1340–1400) bis zu Browning (1812–1889) ausgefüllt, die zu lesen teilweise auch bei Engländern Kenntnis des Altenglischen voraussetzt. Pound stellt mit knappen Anmerkungen zu dieser Anthologie heraus, daß die englische Verskunst die Blüte an einem alten Stammbaum ist. Bei Übertragungen der Gedichte ins Deutsche würden sie als Anschauungsmaterial und Belege für seine Beobachtungen eingebüßt haben. In Pounds Anthologie ist die Auswahl der Autoren allein schon höchst bemerkenswert. Wir haben aus dem zweiten Teil seine Liste der Autoren, an deren Gedichten nach seiner Meinung die Metamorphose des englischen Verses und das Widerspiel bei französischen Dichtern zu verfolgen ist, auf Seite 119 eingefügt; auch grundsätzliche Abschnitte aus Pounds Text, wie „Chaucer“ und „Villon als Widerspiel“, wurden herübergenommen. Die Fußnoten in dieser Ausgabe sind Erläuterungen des Verlages für den deutschen Leser.

Suhrkamp Verlag, Juni 1957

 

Geborener Lehrer und fanatischer Leser

Ein ABC des Lesens

John Gould Fletcher charakterisierte Ezra Pound in seinen Londoner Jahren einmal als „eine sonderbare Kombination eines internationalen Bohemiens und eines amerikanische College-Professors out of job“… Das war, ehe Pound 1920 London verließ, um nach Paris und dann, vier Jahre später, nach Rapallo zu gehen, das für zwei Jahrzehnte sein Wohnsitz wurde. Iris Barry nannte, den Einfluß Pounds richtig einschätzend, diese Zeit in einer 1931 erschienen Publikation „The Ezra Pound Period“. Tatsächlich ist Ezra Pound der geborene Lehrer. Seine Zeit als amerikanischer College-Professor freilich war nur kurz. 1905, also mit gerade zwanzig Jahren, wurde er „Instruktor mit den Funktionen eines Professors“ an der Universität von Pennsylvania. Diese Stellung hatte er zwei Jahre inne. 1907 lehrte er vier Monate im Wabash College in Crawfordsville, Indiana, wo er wegen „europäischen“ und „unkonventionellen“ Verhaltens hinausgeekelt wurde. Fand seine akademische Lehrtätigkeit auch ein jähes Ende, so hat er doch in seinem ganzen Leben nie aufgehört, angehende und auch schon berühmte Schriftsteller und Dichter (wie zum Beispiel William Butler Yeats) zu unterweisen, sie auf wichtige Werke in anderen Sprachen aufmerksam zu machen, selbst Übersetzungen anzufertigen usw. Dichter, wie Eliot, Hemingway, Joyce, um nur die wichtigsten Namen zu nennen, verdanken ihm viel. Unter seinen didaktischen Werken sind Instigations (1920), How to read (1931), ABC of reading und Make it new (beide 1934) die bekanntesten. Von diesen erscheint nun ABC of reading erstmalig als ABC des Lesens in deutscher Sprache. Um es vorweg zu sagen: die Übersetzung von Eva Hesse ist ausgezeichnet und – was leicht einzusehen ist – eingängiger als die der Gedichte, deren ideogrammatische und geballte Prägnanz jeder Übertragung größte Schwierigkeiten entgegensetzt. Das ABC des Lesens hat in seiner deutschen Fassung nichts an Ursprünglichkeit, Frische, Witz, Originalität, all den Tugenden der Poundschen Prosa, verloren. Das ABC des Lesens ist, wie jedes der Werke Pounds, nur für Leser geschrieben: für wache und aufmerksame Menschen, die ihre Lektüre ernst nehmen und mit dem Gelesenen auch etwas im Leben anzufangen wissen, also praktischen Nutzen daraus ziehen können. Insbesondere ist es – wieder wie jedes seiner Werke, die Dichtungen nicht ausgeschlossen – für Schriftsteller geschrieben, für Menschen, die selbst gelesen werden wollen. Pound selbst war so ein leidenschaftlicher – wenn auch sprunghafter – Leser, wie er ihn sich offenbar wünscht, und erst aus dem Leser ist der Schriftsteller hervorgegangen. Pounds Grundthesen sind ungefähr folgende:

1. Es gibt Bücher zur Unterhaltung, als Narkotikum („seelische Bettstatt“, wie Pound sagt), und es gibt Bücher, die die Fähigkeiten des Menschen entwickeIn helfen, ihn mehr wissen und mehr wahrnehmen lassen. Nur auf Bücher dieser Art bezieht sich sein ABC.

2. Die Summe menschlicher Weisheit und menschlicher Erfahrungen ist nicht in einer einzigen Sprache zu finden, sondern in vielen Sprachen. Mehr noch: Sie ließe sich in einer Sprache gar nicht ausdrücken und erfassen. Den verschiedenen Sprachen entsprechen verschiedene Nationalcharaktere, verschiedene Erlebnisweisen, verschiedene Arten, der Welt zu begegnen. Schon in den unterschiedlichen Schriftsystemen, die von der chinesischen Bildzeichenschrift bis zu unserer Lautschrift reichen, kommt das zum Ausdruck. Deshalb ist es wichtig, möglichst viele Sprachen zu kennen, oder doch zumindest übersetzte Werke aus möglichst vielen Sprachen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch Pounds Überzeugung, alle große Literatur sei „gleichzeitig“, also immer gegenwärtig. Das ist das, was wir „Klassik“ nennen.

3. Es kommt darauf an, in der Literatur die „reinen Elemente“ zu suchen, das heißt in jeder dichterischen Gattung, Versepos oder Roman, Lied oder Ballade, die Ahnenreihe zurückzugehen und einerseits den „Erfinder“ dieser Gattung, andererseits den, der sie zu höchster Vollendung führte, ausfindig zu machen. Nur dann wird man einen richtigen Maßstab gewinnen und imstande sein, den Wald „vor lauter Bäumen zu sehen“.

Der letzte Punkt bedarf noch einer Erläuterung. Pound spricht nicht eigentlich von literarischen Gattungen, sondern von dichterischen Techniken. Darunter versteht er die Möglichkeiten, die Sprache „bis zur Grenze des Möglichen mit Sinn zu füllen“, sie also zu verdichten. Im wesentlichen gibt es da drei Methoden: die eine ruft durch die Bildhaftigkeit besonders intensive visuelle Vorstellungen im Leser hervor; die zweite erreicht durch den Klang eines Wortes oder einer Wortfolge einen besonderen Assoziationsreichtum; die dritte erzeugt dadurch, daß Worte außerhalb des üblichen Gebrauchs, in einem überraschenden Zusammenhang, verwenden werden, neue Gedankengänge und -verbindungen. Darüber hinaus gibt es eine Fülle von Verfahren, die der Dichtung neue Ausdrucksmöglichkeiten erschlossen haben. Nur die Pioniere der Dichtkunst und die ihnen folgenden Meister, die neue Verfahren miteinander verbanden, beschäftigen Pound: nur sie stellen das ABC des Lesens dar. Auf sie folgen dann „Verwässerer“ und die „Schöngeister“… Noch eine andere Unterscheidung ist für Pound, den Empiriker, von entscheidender Wichtigkeit: die zwischen Poesie und Prosa. Den Geist der Neuzeit sieht er eher in der Prosa als in der Poesie adäquat aufgehoben: zwischen dem empirischen Vorgehen der Naturwissenschaften wie der experimentellen Forschung und der Entwicklung der Romanform vor allem im 19. Jahrhundert scheint ihm ein zwingender innerer Zusammenhang zu bestehen. So sind für ihn auch die größten Leistungen der modernen Lyrik vom prosaisch-kritischen Geist der Neuzeit mitgeprägt. „Fast alle gute Prosa“, schrieb er in seinem Essays über Henry James 1918, wieder abgedruckt in The Literary Essays of Ezra Pound, London 1954, „entspringt einem Instinkt der Verneinung“. Dieser neigt „zu einer detaillierten, überzeugenden Analyse von etwas Mißlichem, von etwas, das man beseitigen möchte“. Die Poesie dagegen stellt „das Geltendmachen von etwas Positivem“ dar, sie drückt „ein Lebensverlangen“ aus, und ihr kommt „die längere Gültigkeit“ zu. „Fast alle gute Dichtung besagt, daß etwas lebenswert ist, oder ereifert sich gegen etwas, das dem entgegensteht, macht jedenfalls emotionale Werte geltend. Die beste Prosa ist oder war stets eine Darstellung (so komplex und kunstvoll auch immer) von zeitbedingten Sachverhalten, von meist unschönen, bestenfalls der Abhilfe bedürftigen Verhältnissen… Dichtung ist emotionale Synthese und dabei so real, so realistisch wie nur irgendeine prosaische oder verstandesmäßige Analyse.“ Pound ist als Lehrer Dichter, wie er als Dichter Lehrer ist. Er geht in seinen Essays sprunghaft vor, notiert alles, wie es ihm einfällt, und öffnet auch Perspektiven auf ganz andere Gebiete wie die Literatur. Das macht sein Buch so anschaulich, so lebendig, so unakademisch. Es in einem Zug zu lesen ist genauso abenteuerlich, wie in einem anderen Buch zu blättern. Man kann es nicht „diagonal lesen“. Man ist gezwungen, es Satz für Satz zu lesen, denn man muß Satz für Satz mitdenken – in der Art, wie Pound denkt. War man noch kein „Leser“, sondern bloßer „Alphabet“ – hier wird man zum Leser. So ist auch in diesem Sinn Pounds Buch ein wahres ABC des Lesens. Wer etwas gegen die Liste von „wichtigen“ Dichtern einwenden will, die Pound gibt, einer Liste, in der sehr berühmte neben weithin unbekannten Dichtern stehen (wer kennt auch nur die bedeutendsten der Tourbadoure mit Namen?), übersieht, daß es Pound vor allem um die Dichter ging, die sprachlich etwas Neues brachten, die der Dichtkunst sozusagen handwerklich weiterhalfen. Immer fragt er: War das nicht schon früher da? In einer anderen Sprache? Vielleicht besser, klarer? Wo findet sich der präziseste, knappste Ausdruck für einen Tatbestand? Ich wüßte wenige zu nennen, die in der Weltliteratur aller Zeit so zu Hause sind wie Ezra Pound (was einzelne blinde Flecken nicht ausschließt) vielleicht nur noch Jorge Luis Borges und Vladimir Nabokov. Pound kennt sie nicht wie ein Briefmarkensammler seine Marken (dem Nebensächlichkeiten, wie etwa die Zähnung, oft den Blick verstellen), sondern wie ein Seefahrer das Meer: das heißt, er hat eine lebendige Beziehung zu ihr. Es gibt wohl keine idealere Einführung in die Kunst des Lesens wie diese. Bei aller Unbedingtheit in seinen Ansichten gesteht Pound dem Leser immer die Möglichkeit zu, daß dieser recht habe: sollte ein anderer Weg zu einem lebendigeren Wissen, zu einer innigeren Beziehung zur Dichtung führen – bitte sehr, der Leser möge ihn gehen.

Wieland Schmidt, Die Furche, Dezember 1957

Lass den Wind reden

[…]

„Künstler sind die Fühlhörner der Gattung“, heißt es im ABC des Lesens, einer kleinen Schrift Pounds aus den frühen Dreißigern. Zeitgleich mit der Gesamtausgabe der Cantos ist das schmale Bändchen im Arche Verlag neu aufgelegt worden. Pounds ABC will eine Fibel für Schüler der Dichtkunst sein, ein Kursus zum rechten Verständnis der Poesie, eine kleine Stilkunde der englischen Literatur. All das in Paragrafenform vorgetragen, mit apodiktischem Schwung und dem fröhlichen Selbstbewusstsein eines Mannes, der sicher ist, dass er weiß, wovon er redet. Über Genie und Talent, so Pound im neusachlichen Geist der frühen Dreißiger, ist alles gesagt, aber das Schreiben und Lesen von Gedichten erfordert eben auch Übung, darf getrost als Handwerk betrachtet werden. Mehr guten Sport, auch in der Dichtkunst. Literatur, die ihren Namen verdient, heißt es in Pounds herzerwärmend amüsanter Fibel, ist Neues, das neu bleibt. Der Ausweis des Klassischen ist seine unvergängliche Frische. Womit sich der Bogen zu The Cantos beinahe mühelos geschlossen hätte.

Tom Peukert, Der Tagesspiegel, 7.4.2013

Ezra Pound: ABC des Lesens

– Das ABC des Lesens ist trotz oder wegen seiner Kauzigkeiten einer der großen poetologischen Texte der Moderne – lesen, lesen, lesen! –

Ezra Pound gilt als einer der schwierigsten, aber auch faszinierendsten Dichter der Moderne. Sein Opus Magnum, die Cantos, sind im vergangenen Jahr erstmals in der vollständigen Übersetzung von Eva Hesse erschienen. Pflichtschuldig wurden sie mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet, und zumindest eines haben sie dabei erneut unter Beweis gestellt: dass man sich an ihnen immer noch trefflich die Zähne ausbeißen kann. Jetzt hat der Arche-Verlag, der bereits die Cantos stemmte, den Essay ABC des Lesens nachgereicht, ein schmales Buch, das Pound im Jahr 1934 veröffentlichte. Wieder stammt die deutsche Fassung von Eva Hesse, doch diesmal liegt die Erstveröffentlichung bedeutend länger zurück: 1957 erschien ABC des Lesens auf deutsch. Es ist damit, ganz nebenbei, ein schönes Zeugnis für das kontinuierliche Fortwirken einer Ausnahmeübersetzerin.

Pointiert und angriffslustig Macht Pound, der Schwierige, es seinen Lesern tatsächlich so leicht wie die griffige Fibel-Formel vom ABC des Lesens vermuten lässt? Die Antwort kann, mit Gottfried Benn, nur „teils-teils“ lauten. Gewiss verlangt Pound seinen Lesern mehr ab als ein Grundschullehrer seinen Schülern. Verglichen mit seiner Lyrik ist der Essay des Endvierzigers jedoch erstaunlich lesbar. Darüber hinaus ist er vor allem zweierlei: unerschrocken unterhaltsam und unterhaltsam unerschrocken. Er verlangt allerdings auch nach einem nicht allzu schreckhaften Leser. Das liegt nicht zuletzt an dem pointierten und ziemlich angriffslustigen Stil, den Pound in ABC des Lesens pflegt. Aus seiner Verachtung für akademische Literaturverwalter und beflissene Kulturgötzendiener macht er keinen Hehl: Trübsinn und Feierlichkeit seien fehl am Platz, wenn es um Literatur gehe, denn die solle „dem Herzen des Menschen Freude“ bringen. Lehrer, Professoren und Sonntagsredner aufgemerkt – hier will euch einer an die Gurgel. Da taugt selbst der naheliegende Ruf „Der will doch bloß spielen“ nur bedingt als Beschwichtigung.

Markige Sprüche auf fast jeder Seite Dass Pound es seinen Lesern nicht unnötig schwer machen will, heißt noch nicht, dass er es ihnen leicht machen würde. Die Vorlieben des Cantos-Dichters sind auch in ABC des Lesens allgegenwärtig: Fernöstliche Poesie und die Gesänge der mittelalterlichen Troubadoure finden wie selbstverständlich Eingang in den Text, so wie auch die Cantos mit chinesischen Schriftzeichen und Ausflügen ins Provenzalische prunken und frappieren.
Wenn es um das Mittelenglisch des großen angelsächsischen Klassikers Geoffrey Chaucer geht, wird Pound richtiggehend biestig: Jemand, der sich diesen Wortschatz nicht aneignen wolle, meint er, „verdient es, ein für alle Mal vom Lesen guter Bücher ausgeschlossen zu bleiben.“ Solche markigen Sprüche finden sich auf fast jeder Seite des Buches. Pound macht einem den Widerspruch leicht. Das Resultat ist kaum anders als dialektisch zu nennen: Die scheinbar diktatorische Attitüde begünstigt den Pluralismus von Lehrer- und Schülermeinungen. Pound ist einer, an dem man sich reiben darf.

Die Odyssee so gut wie Edgar Wallace Erfreulicherweise geht Pound bei aller Strenge oft erstaunlich lässig an Literatur heran. Über die Odyssee sagt er, die Sprache Homers sei so „lebensnah“, als käme sie aus einem Detektivroman von Edgar Wallace. Das ist, wohlgemerkt, als Lob gemeint.
Große Literatur ist für den amerikanischen Dichter Sprache, die möglichst stark mit Sinn aufgeladen wurde. Damit der Leser das rechte Gespür für solche Spannungsverhältnisse entwickle, lässt er ihn Hausaufgaben machen: Einen Baum soll er beschreiben, oder einen neuen Text auf eine alte Melodie verfassen. Das ABC des Lesens ist ein Crashkurs für anti-akademische Autodidakten, die den Funken der Literatur weitertragen sollen wie einst die Zukunftshelden in Ray Bradburys Fahrenheit 451.

Shakespeare zählt zu den Großen Bleibt die Frage, ob man sich mit Hilfe dieses Buches wirklich so etwas wie eine grundlegende Kenntnis der Literatur aneignen könne. Leider ist genau dies der Punkt, an dem Pounds Anti-Akademismus in Willkür umschlägt. Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit hat ihn vielleicht selbst ein wenig erschreckt, und so räumt er nicht ohne Koketterie ein, dass er nichts anders getan habe, „als eine Liste mit Büchern zusammenzustellen, die ich auf meinem Schreibtisch liegen habe und in denen ich hin und wieder blättere“. Er beginnt mit Homer, den er mehr schätzt als Vergil, kommt dann zu den isländischen Sagas, die er wegen ihrer Lebensechtheit – er nennt es Phanopoeia – bemerkenswert findet, fährt mit provenzalischen Troubadouren und mittelhochdeutschen Minnesängern fort. Positive Zentralgestalten des ausklingenden Mittelalters sind für ihn Dante, Villon und Chaucer. Chaucer findet er welthaltiger als Shakespeare, den er trotzdem zu den Großen rechnet. Was auch sonst.

Von Erfindern und Verwässerern Die Literatur der Neuzeit hat es erheblich schwerer. Er nennt sie einen „mittelalterlichen Stamm, der mit Klassizismus übertüncht wurde“. Dichter teilt er in „Erfinder“, „Meister“, „Verwässerer“ und „Schöngeister“ ein – in absteigender Linie, versteht sich. Unter den Franzosen, Engländern und Amerikanern finden einige Gnade vor seinen Augen; von John Donne bis Whitman und Rimbaud spannt sich der überschaubare Bogen. Schlecht schneiden hingegen die Deutschen ab. Zwar nennt er Goethe und Stefan George, meint aber, dass die „nichts leisten, was nicht bereits besser oder ebenso gut gemacht worden ist.“ All das wird im Brustton äußerster Überzeugung vorgetragen. Pound glaubt allen echten oder gespielten Ernstes, einen objektiven Maßstab für die Bewertung von Poesie gefunden zu haben. Deren Qualität lasse sich wahlweise messen wie die Höhe eines Stabhochsprungs oder analysieren wie die „Abstriche“ eines Biologen.

Ein Kanon der Kauzigkeiten Das ganze Fortschrittsgetöse läuft also auf etwas sehr Altmodisches hinaus: einen literarischen Kanon mit allen Fragwürdigkeiten, die solchen Unternehmungen anzuhaften pflegen. Soll man sich das, fast 80 Jahre später, noch antun? Die Antwort kann hier, ob mit oder ohne Gottfried Benn, nur „ja“ lauten. Das ABC des Lesens ist trotz oder wegen seiner Kauzigkeiten einer der großen poetologischen Texte der Moderne, geschrieben von einer der wichtigsten Figuren der Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts. Und er ist – das muss man bei der problematischen Biographie dieses Autors ja leider immer dazusagen – erfreulich frei von antisemitischem und faschistischem Gedankengut. Lediglich ein Hauch von kulturkonservativem Pathos weht manchmal durch die Zeilen. Auch die fast schon klassisch zu nennende Übersetzung von Eva Hesse überzeugt durch große Frische und Lebendigkeit, und sie wirft auch nicht die vielen Fragen und Zweifel auf, ohne die ein Mammutprojekt wie die Übersetzung der Cantos schlechterdings nicht möglich ist. Frisch und lebendig ist vor allem auch Pound geblieben – ein begnadeter Grantler, den man zumindest in diesem Fall auch dann gern liest, wenn man ganz anderer Meinung ist als er. Und genau das könnte, sollte, müsste man mit diesem neu aufgelegten Klassiker tun: Lesen, lesen, lesen!

Steffen Jacobs, kulturradio, 17.7.2013

Magistral und übermütig

Der Duktus ist, wie es sich für ein Elementarbuch gehört, einigermassen autoritativ: Ezra Pound als Lehrer lässt keinen Zweifel daran, dass hier ein gewiefter Praktiker die Nachwachsenden in die Anfangsgründe seiner Berufserfahrung einweiht, ins rechte Lesen, das allen Schreibens Anfang ist. Recht lesen heisst anders lesen, als es damals, 1934, bürgerliche Lektüregewohnheiten und Lehrpläne der Universitäten (Pound definiert sie gern als „Anstalten zur Verhinderung des Lernens“) vorsahen.

Lesen als Lebenselixier Das Alternativprogramm der „Ezraversity“ bietet Grundlagenforschung und eine Neubestimmung des Kanons. Was ist Dichtung? Dichtung ist Verdichtung, sagt Pound mit einem deutschen Wortspiel, das etymologisch falsch, aber sachlich richtig ist. Oder: „Literatur ist Neues, das neu BLEIBT“, „news that STAYS news“; man könnte auch sagen, eine Nachricht, die immer aktuell ist – gibt es eine bessere Definition? Wortspielerische Lakonik macht solche Merksätze einprägsam, die den Leser anspringenden Grossbuchstaben, so häufig in diesem Text, sorgen für den nötigen Nachdruck. Die etwas aufdringliche Typografie erinnert im Verein mit den Schlagworten an die Manifeste der Avantgarde, deren Nachhut dieses „ABC“ bildet, zu einer Zeit, als die meisten Futuristen längst bei den Faschisten mitliefen. Aber Pound stellt weder, wie einst Marinetti, brüllende Automobile über die Nike von Samothrake, noch wirbt er für den Abriss der Museen. Als konservativer Revolutionär will er den Wust des Tradierten auf seine Tauglichkeit für das Heute hin sichten; denn er sieht, unbescheidenerweise, die Funktion von Literatur darin, die Menschheit zum Weiterleben zu animieren. Seine „Schüler“ müssen daher ihre geistige Trägheit abschütteln, weit über den Tellerrand der Nationalliteratur hinausschauen und tief in die handwerklichen Bedingungen der exakten Sprachkunst hineinblicken, in ihre Bild-, Klang- und Wortgefüge, um das Beste vom bloss Epigonalen zu unterscheiden: der Musengarten braucht „Jäter“ (vom Lektor der vorliegenden Ausgabe emendiert zu „Täter“, was auch nicht ganz falsch ist). Zu den Aufgaben, mit denen die Schüler ihr Kritikvermögen trainieren sollen, gehört die Suche nach blossen Füllwörtern im Gedicht, mit wachem Blick auf die (nach)romantische Verdünnung der poetischen Substanz. „Aber Herr Lehrer, dürfen wir nicht Wordsworth lesen? – Ja Kinder, ihr dürft lesen, was ihr wollt… Benutzt Mr. Wordsworth manchmal Worte, die nichts Besonderes aussagen?“ Der „rauhen Behandlung verdienter Autoren“ stehen atemberaubende Neuwertungen gegenüber, etwa wenn Pound die metrisch schwerfälligen Ovid-Übersetzungen Arthur Goldings aus dem 16. Jahrhundert „das schönste Buch in unserer Sprache“ nennt und Shakespeare als Kronzeugen anführt. Eine Sottise? Nein, denn Übersetzung versteht er als wahre Lebensader der Poesie, und die Metamorphosen als einen ihrer Grundtexte. Die deutsche Dichtung, die laut Pound „nicht sonderlich gekonnt ist“, muss ein ausländischer Autor nicht studieren, umso mehr aber die Provenzalen. Der Anreiz zum Widerspruch ist Merkmal lebendiger Pädagogik.

Eklektischer Kanon Als Beigabe zu seiner grossen Edition der Cantos legt der Arche-Verlag das ABC des Lesens in der bewährten Übersetzung von Eva Hesse neu auf, mit einem aus dem einstigen Vorwort klug destillierten Nachwort. Nach wie vor, und aus gutem Grund, fehlt die Hälfte des Originals, die aus einer kommentierten Sammlung englischsprachiger Gedichte und Gedichtübersetzungen besteht (nur der Kommentar zu den Lieblingsdichtern Villon und Chaucer ist mit abgedruckt). Diese „exhibits“ oder „Ausstellungsstücke“ illustrieren den eigenwilligen Poundschen Kanon. Milton und die Romantiker kommen darin nicht vor – aber auch nicht die erste moderne Stimme der angelsächsischen Dichtung, die alle Konventionen sprengende Emily Dickinson. Sie wurde von den „Modernisten“ beharrlich übersehen.

Werner von Koppenfels, Neue Zürcher Zeitung, 21.8.2013

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Dieter Lamping: Ein großes Werk der Weltliteratur? Glanz und Elend der Cantos Ezra Pounds
literaturkritik.de, 2013

 

 

Ezra Pound 1885–1972

Wir schreiben das Jahr 1955, ich bin in Paris und treffe zum erstenmal Simon Vinkenoog, mein literarisches Gepäck wiegt noch keine achthundert Gramm, Vinkenoogs Diagnose ist einfach und seine Therapie wirkungsvoll: „Du mußt ABC of Reading von Ezra Pound lesen.“ Das habe ich getan, ich besitze das Büchlein immer noch, es war zwar nicht meine erste Begegnung mit den Modernen, wohl aber mit den provenzalischen Troubadours, und erst da begann der lange Weg zum wirklichen Lesen. Jetzt sind wir mehr als fünfzig Jahre weiter, und ich lese in der Financial Times einen Artikel über Ezra Pound, nicht über seine Cantos, nicht über die Revolution in der Literatur, zu der er mit seinen Entdeckungen, seiner Leidenschaft und seiner grandiosen Ungeduld beigetragen hat, sondern über seine Ideen oder Obsessionen im Zusammenhang mit Geld, genauer gesagt: seine Gedanken über Wucher. Anlaß zu dem Artikel ist ein Buch, The Route of All Evil: The Political Economy of Ezra Pound von Meghnad Desai. 1918 hatte Pound Major C.H. Douglas kennengelernt, der davon überzeugt war, daß jedes marktwirtschaftliche System wegen eines Mangels als Kaufkraft zu permanenter Unterbeschäftigung verurteilt sei. Pound sah eine direkte Verbindung zwischen diesem Problem und dem, was er die „Schande des Zinses“ nannte, anders gesagt, dem Wucher. Die Bibel wie der Koran verurteilen Wucher – was das anging, war er also in guter Gesellschaft. Ich bin nicht Ökonom genug, um beurteilen zu können, ob die Frage der Unterbeschäftigung 1936 von Keynes mit seiner Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes gelöst worden ist (zuviel Sparen bedeutet zuwenig Investitionen), für Pound war es da jedenfalls schon zu spät. Empörung über die enorme Arbeitslosigkeit der dreißiger Jahre und sein Glaube an eine natürliche Feindschaft zwischen dem modernen Kapitalismus und dem kreativen Talent hatten ihn zum „monetären Ketzer“ gemacht; aus Wut, weil niemand auf ihn hören wollte, nahm er seine Zuflucht zum Faschismus, schließlich entwickelte er sich zum wütenden Antisemiten. Im Krieg hielt er es mit den Deutschen, machte in Rom Propagandasendungen gegen die Alliierten und entging nach dem Krieg nur dank der Intervention von Bewunderern wie Eliot – der ihn einmal il miglior fabbro, den besseren Fachmann, genannt hatte – einem Hochverratsprozeß und so vielleicht dem Todesurteil. Er wurde in den USA in ein Irrenhaus gesperrt und erst nach zwölf Jahren wieder entlassen. Danach zog er nach Venedig, und dort hat er bis zu seinem Tod zwar noch einiges geschrieben, aber kaum noch gesprochen. Sein Grab ist auf San Michele, nah beim Grab Brodskys, was der vorher gewußt haben muß, denn in der Ecke für Schriftsteller ist nicht viel Platz. Abends, als ich mich wieder auf den Rückweg mache, habe ich das Gefühl, daß ich die beiden miteinander allein lasse, und weil Friedhöfe primitives oder magisches Denken auslösen, frage ich mich, ob sie dann über alles sprechen, über Juden, Bankiers, Wucher und Gerechtigkeit oder doch lieber, da jetzt diese aktuelle Welt ungültig geworden ist, über die essentielle und transzendente Welt der Poesie. Zu den ersten Gedichtstellen, an denen Pound diese Dinge zur Sprache bringt, zählen die Passagen in den Teilen IV und V seines großen Gedichts „Mauberley“ von 1920, zwei Jahre nach dem Zusammentreffen mit Douglas:

IV

Manche starben „pro patria“ nicht „dulce“, nicht „et decor“… schritten bis an die Augen hinan in der Hölle, glaubten die Lügen der Greise, kehrten dann heim ohne Glauben, heim zur Lüge, heim zu vielfachem Trug, zu alten Lügen, neuer niedertracht; Wucher steinalt und versteint und Lügner von Amts wegen. (…)

V

Es starben Millionen, Darunter die Besten, für eine alte Sau mit Zahnfäule, Eine verfahrene Zivilisation. Liebreiz , im heilen Munde ein Lächeln, Lebende Augen unters Erden-Lid Für zwei Gros zerbrochene Standbilder, Für einige tausend zerfledderte Bücher. Übersetzt von Eva Hesse

Die Wut, die aus seinem Canto XV spricht, ist vielleicht noch heftiger, jedenfalls bekommt seine Rhetorik hier, als wollte er die von Freud hergestellte Verbindung zwischen Geld und Fäzes belegen, auch noch einen analen Einschlag:

Die Süßeimer, die in Glykose liegen, die Schwülstigen in Wattebäuschen, das aast wie die fette um Grasse; das weite schrundige Arschloch fetzt Fliegen und poltert vor Imperialismus, letzter Pissort, Jauchgrube, Harnsiel ohne Abzug, Soundso nicht so rabiat, soundso Episcopus Londinensis, koppheister geschraubt in den Odel, die Beine stramplig, voller Blütchen, ein geistliches Suspensorium hängt überm Nabel herab sein Kondom voll Kakerlaken, der Anus in der Runde tätowiert, und um ihn ein Club golfspielender Damen.

Die forschen Draufgänger hacken mit Messern auf einander ein, die feigen Scharfmacher Soundso mit Soundso, von Milben befallen, Soundso wie ein gequollener Fötus, die Bestie mit hundert Beinen, USURA, der Rotz zum Brechen voll von Jasagern − das buckelt vor den Bonzen des Ortes und stellt seine Vorzüge richtig, und die laudatores temporis acti betonen, daß die Scheiße einst schwärzer und sämiger war (…) Übersetzt von Eva Hesse

1912 formulierte Pound drei Grundsätze für das Schreiben von Poesie:

Die Sache selbst wiederzugeben – sei sie subjektiv oder objektiv;

kein einziges Wort zu verwenden, das nicht zur Darstellung beiträgt;

was den Rhythmus betrifft, in der Zeitfolge der musikalischen Phrase und nicht nach dem Metronom zu komponieren.

Man könnte sagen, daß Brodsky mit seiner liebevollen Aufmerksamkeit auch noch für das unscheinbarste Detail sich daran gehalten hat, ohne die großen Themen zu scheuen. Die „musikalische Phrase“, wie Pound es nennt, war für diesen Dichter, der mit Reim, Assonanzen und Enjambements zauberte, kein Geheimnis. Was er wollte, war seiner Nobelpreisrede zufolge „kein Monolog, sondern ein Gespräch zwischen Dichter und Leser“. Pound hat miterlebt, wie Kommunismus und Kapitalismus zusammen den Faschismus besiegt haben, Brodsky ist nach Zwangsarbeit und politischen Prozessen, in denen man ihn der Faulenzerei und des Parasitentums beschuldigte, dem Kommunismus entkommen und hat danach ohne Einbuße an Kreativität in dem System gelebt, das Pound verflucht und von dem er sich abgewandt hatte. Beide haben lange Zeit in Venedig gewohnt und sind dort begraben. Bei meinem ersten Besuch stand auf Brodskys Grab ein provisorisches Kreuz. Auf Pounds Grab kein Zeichen irgendeines Glaubens. Beim zweiten Besuch war das Kreuz von Brodskys Grab verschwunden, dafür lagen nun, jüdischem Brauch gemäß, kleine Steine auf dem großen Stein. Darüber könnte man mancherlei sagen, deshalb lasse ich es.

Cees Nooteboom, in Cees Nooteboom: Gesammelte Werke Band 9, Suhrkamp Verlag, 2008

Pound und die Tradition des ungeteilten Lichts

Zum Thema:
Pounds entschiedene Ausrichtung auf das Empirische und Konkrete mag den Leser unserer Tage zu der Ansicht verleiten, die
Cantos gingen die Wirklichkeit als ein Puzzlespiel aus Besonderheiten an. Solch ein Leser übersieht allzuleicht, daß unter diesen kaleidoskopisch aufgebrochenen Farben das weiße Licht einer mystischen Einheit liegt, weil ihm die Terminologie der Lichtmetaphysik, auf die der Dichter so häufig zurückgreift, und das geistige Vermächtnis des Mittelalters vielleicht noch entlegener sind als die Welt Alt-Chinas oder Afrikas. Pounds Zug zur Erfahrung aber geht sowohl auf das Innere wie auf das Äußere. Aus diesem Grunde liegt in all seinen Äußerungen über die Philosophen des Lichts der Nachdruck auf der Mystik als etwas persönlich Erlebtem, als Ereignis und Zustand des, nicht aber auf der Mystik als spekulativem System. Er hat also hier, wie immer, seine eigenen Vorbehalte gegenüber der Orthodoxie und meint einmal von sich:

Ich könnte einen leidlich guten Katholiken abgeben, WENN man mir gestatten würde, mir meine eigenen Heiligen und Theologen auszusuchen… Eines glaube ich. Wenn man sich Erigena, St. Ambrosius und St. Antonino vornähme, plus Zeit, Geduld und Inspiration, dann könnte man innerhalb des Gefüges [der katholischen Kirche] etwas aufstellen, woran der Mensch von Heute zu glauben vermag (Guide to Kulchur).

Und er zieht aus, zu ermitteln, was innerhalb der tausendjährigen philosophischen Auseinandersetzung des Mittelalters zu den bleibenden Daseinswerten und folglich noch zu unserem Erbe gehören könnte – ohne dabei ein System auszuformulieren. Dennoch haben seine Sympathien und Antipathien hierin eine philosophische Folgerichtigkeit, der wir etwas nachgehen wollen.
Zunächst schätzt er am Mittelalter die absolute Präzision und Ökonomie der Begriffe, mit der etwa Grosseteste, Albertus Magnus oder Richard von St. Viktor ihre Gedankengänge bestritten, eine Sorgfalt, die es ihnen ermöglichte, eine überaus differenzierte und wohlausgewogene „Hierarchie der Werte“ aufzustellen. In dieser Hinsicht, meinte er, sei der europäischen Sensibilität mit der Renaissance eine wichtige geistige Dimension abhanden gekommen:

Wir haben, so will es scheinen, jene strahlende Welt verloren, worin ein Gedanke den anderen säuberlich durchschneidet, eine Welt voll bewegenden Kräften mezzo oscuro rade, risplende in se perpetuale effecto, Magnetismen, die Gestalt nehmen, die wahrnehmbar werden oder ans Wahrnehmbare angrenzen, der Gegenstand von Dantes Paradiso, das Glas unter Wasser, die Form, die eine Form zu sein scheint, die man als Widerschein im Spiegel sah, jene Wirklichkeiten, deren der Sinn inne wird, die ineinandergreifen, a lui si tiri, unberührt von den beiden Übeln: der hebräischen Krankheit, Eiferertum und Fanatismus, die einen Savonarola zeitigt, der hinduistischen Krankheit, die Fakire oder einen St. Clemens von Alexandrien erzeugt (der den Frauen das Baden verbietet)… Nach der Askese, die das Fleisch haßt, bekommen wir die Askese, die den Geist haßt, die die Beschränktheit als ,Einfalt‘ preist, den Kult der Naivität.
Für eine Vielzahl von Menschen bezeichnet das Wort ,mittelalterlich‘ nur diese beiden Krankheiten… Zwischen diesen Krankheiten jedoch hatte der heile mediterrane Geist Bestand. Der ,goldene Schnitt‘, wenn es das war, der Kirchen wie St. Hilaire, San Zeno, dem Dom von Modena die klare Linienführung und die Proportion gab (Make it New).

Dogmatik, Askese und Fanatismus möchte man als das Spezialistentum des Mittelalters bezeichnen. Der mediterrane Sinn für Größenverhältnisse und Form aber behielt auch jenseits solcher mittelalterlichen Einseitigkeit den Organismus als Ganzes im Auge, zu dem die natürlichen und menschlichen Ordnungen ebenso gehörten, wie die geistige Hinterwelt des Sinnfälligen, bzw. die platonischen Ideen in den Dingen. In dieser Hinsicht fügt sich die mittelalterliche Geistigkeit als ein Element der philosophia perennis in die Genealogie des Lichtes ein, die von Plotin, Porphyrios, Iamblichus, Psellos und Proklos an in dem wechselnden Ausgleich zwischen den platonischen und den aristotelischen Gedankensystemen bestand. Wobei das erstere dem Mittelalter nur über den christlich umgedeuteten Neuplatonismus bekannt war (jenem „Ruck in der Entfaltung des Weltgeistes“, wie Hegel sagt), der seinerseits aus einer Weiterentwicklung und Synthese von platonischen und aristotelischen Überlegungen lebte. Tatsächlich bestand die Entwicklung des mittelalterlichen Denkens im Wesentlichen aus Welle auf Welle des Neuplatonismus und der allmählichen Ankunft der aristotelischen Ideen, die über arabische und jüdische Kommentare in den Gesichtskreis der Zeit gelangten. Die Namen, die Ezra Pound in seinen Werken mit Bewunderung und neuem Verständnis nennt, zeigen fast durchweg einen stark aristotelischen Einschlag und damit, wenn man so sagen darf, eine mystische Hinwendung zur empirischen Welt (denn es war ja Aristoteles philosophische Großtat, daß er die platonische Idee in der Zeitlichkeit verankerte): da sind St. Ambrosius, St. Augustinus, St. Antoninus, J. Scotus Erigena (der Anwalt der autonomen Vernunft im 9. Jahrhundert!), Anselm von Canterbury, Robert Grosseteste, Roger Bacon, Richard von St. Viktor, Albertus Magnus. Doch lassen sich Neuplatonismus und Aristotelismus schwerlich als einander logisch ausschließende, gegensätzliche Systeme betrachten. Platon hatte gelehrt, daß die Einzeldinge und ihre Eigenschaften nur Erscheinungen im Diesseits sind, Abbilder und Annäherungen an ihre Archetypen oder Formen im jenseitigen Bereich des wahren Seins, faßbar nur einer höheren Geistigkeit. Es gibt demnach über der Pluralität der Phänomene in ihrer Vergänglichkeit, Wandelbarkeit und Unvollkommenheit die Einheiten der Formen, die unvergänglich, unwandelbar und vollkommen sind – der eigentliche Gegenstand der Erkenntnis und des Schauens, nach dem die menschliche Seele im platonischen Eros drängt. Die Beschaffenheit solcher Ideen, Formen und Urbilder hat Platon nicht festgelegt, aber in seinen späteren Lehren erwähnt er am häufigsten mathematische Zahlen und Symbole als die Strukturen oder Muster, die der Erscheinungswelt zugrunde liegen – eine Ansicht, die im 13. Jahrhundert von Grosseteste und Roger Bacon aufgegriffen werden sollte.
Diese beiden Oxforder Philosophen waren durch die Nähe der Lichtmetaphysik bei Geometrie und Optik zu einem neuen Interesse an den Naturwissenschaften geführt worden, in der festen Überzeugung, daß die rationale Erfassung der diesseitigen Dinge dem göttlichen Ursprung dieser Wirklichkeit gar nicht zuwider laufen könne. Die „rechte Einsicht“ des Menschen und die göttliche Offenbarung müssen sich in einer Wirklichkeit begegnen, die Sinnerscheinung ist – dies ganz nach dem Herzen Pounds. Eine andere mögliche Auffassung der platonischen Formen sieht in ihnen die „Gedanken“ des Einen, das die Vielzahl der Dinge übergreift. Diese Ansicht wurde von Plotinos in seine kosmische Dynamik übersetzt: Gott
denkt die Welt (oder vielmehr, das „Eine“, das für Plotin noch jenseits des Persönlichen lag, denkt sie) und diese göttliche Selbstbewegung und Selbstverwirklichung ist zugleich der Weltprozeß: „Der Dinge Urgrund ist auch ihr Ziel“ (Dionysios Areopagita). Der Hang alles Lebenden nach dem wiederzugewinnenden Urgrund aber ist ein mystischer Sog („stark wie der Rücklauf der Brandungswoge“, Pisaner Gesänge, der Eros und Intellekt bestimmt. Die Verwandtschaft dieser Vorstellung vom Weltprozeß (Hegel sollte ihn in „die Geschichte“ umtaufen) mit dem konfuzianischen Begriff des „Ablaufs“, der Wirklichkeit rings um eine unbewegte Achse, Angel oder Mitte der Dinge (der „unbewegte Beweger“ der Neuplatonisten) sowie die immerwährende Orientierung nach den Ursprüngen, die für das chinesische Denken so typisch ist, liegt auf der Hand. In Pounds Interpretation der konfuzianischen Lehren geht dieses mystische Element restlos in die rationale Komponente über, die er, wie wir sahen, über das „Licht der Aufklärung“, erreichte:

Der Pfeil hat keine zwei Spitzen

Um das noch besser zu verstehen, müssen wir auf die Lehre des Aristoteles zurückgreifen (die Physik und Metaphysik, nicht die Logik oder Poetik, die Pound ja, wie wir sahen, z.T. in Frage stellt). Aristoteles stimmt mit Platon überein, daß wenn es kein Allgemeines an den Dingen gäbe, auch kein Wissen von ihnen möglich wäre, aber er holt die platonische Idee in das Diesseits und sieht sie den Dingen selbst als ihre „Form“ innewohnen. Für ihn ist die Materie das Substrat der Wirklichkeit; in allen vorhandenen Dingen ist sie das Element, das die Individualität, die Besonderheit ausmacht. Die Form dagegen ist ihr allgemeiner Bestandteil, der vom Verstand erkannt werden kann. Faßt man die Wirklichkeit nicht als etwas Statisches, sondern als im Werden begriffen auf, dann ist die Materie das noch formlose Mögliche bzw. Potentielle und die Form das wirkliche Element bzw. die Aktualität der Dinge. Für Aristoteles stellt sich die Welt als eine geordnete Hierarchie des Seins dar, angefangen von der „reinen“ Materie, die nicht wahrnehmbar und nicht erfaßbar ist und kein unabhängiges Sein hat, bis zur „reinen“ Form am anderen Ende der Skala, die als einfache stofflose Energie der Wissensinhalt aller Wissensinhalte ist. Diese Welt des Aristoteles wird zusammengehalten durch das Streben alles Potentiellen zur Aktualität, oder in anderer Terminologie, durch die Liebe zum Göttlichen, die alle Wesen bewußt oder unbewußt durchpulst. Doch wenn das Einzelne potentiell „da“ ist, eh es in die Aktualität tritt, so prä-existiert dennoch das Aktuelle, da es als Endziel der Potentialität, als „Entelechie“ besteht, noch eh der Vorgang der Verwirklichung eingetreten ist. Dieser Prozeß vom reinen Stoff zur reinen Form und wieder zurück durchläuft für Aristoteles den ganzen Bereich des Natürlichen vom Anorganischen bis zum Organischen hinauf durch die Daseinsordnungen.
Pound bezieht sich wiederholt auf diese Spannweite des Möglichen zum Wirklichen, wenn er davon spricht, daß „der Gedanke des Baumes im Samen ist.“ oder wenn er Ehrfurcht fordert vor „der Intelligenz, die in der Natur wirkt und keines Dogmas bedarf, sie zu erhärten“. Vor allem aber ist die Poundsche Losung der „idea in action“ nicht flacherdings, wie es häufig geschieht, als aktivistische Mahnung zu verstehen, sondern als ebendiese universelle schöpferische Verspannung des Möglichen und des Wirklichen.
Für die Rezeption des aristotelischen Systems, die das scholastische Denken im mittelalterlichen Europa heftig bewegte und die Heraufkunft der wissenschaftlichen Denkweise in der Renaissance ermöglichte, waren die Wandlungen entscheidend, die diese Gedanken durch die großen arabischen Philosophen erfuhren: durch Alkindi, Alfarabi, Avicenna und Averroës, die die aristotelischen Schriften ihrerseits mit neuplatonischen Beimengungen erhalten hatten. Zunächst traf Alfarabi, den man vielleicht als den Ahnherrn des Existenzialismus bezeichnen sollte, die epochemachende metaphysische Unterscheidung zwischen dem Sein (
essence) und dem Dasein (existence) aus der Einsicht, daß der Begriff des Seins denjenigen des Daseins nicht notwendig nachzog; er betrachtete das Dasein als Akzidenz des Seins, etwas, das dem Sein zukommen könne oder auch nicht. Von Alkindi übernahm er den Begriff des intellecrus agens, einer außerhalb des einzelnen Menschen wirkenden Intelligenz, was in Aristoteles’ Unterscheidung der passiven und der aktiven Intelligenz vorgebildet war. Man erinnert sich dabei unwillkürlich an Einsteins Bemerkung, es habe ihn bei seinen extremsten Forschungen oft das Gefühl befallen, einer unfaßbar größeren Intelligenz auf der Spur zu sein.
Die Geschichte der Auseinandersetzung um den Ort des
intellectus agens in oder außerhalb der Seele, und mithin um die Beschaffenheit der menschlichen Teilhabe am Göttlichen, fällt nahezu mit der Geschichte der Mystik überhaupt zusammen; er wurde verschiedentlich gleichgesetzt mit dem Nous, als den ihn schon Aristoteles bezeichnet, er ist überdies der Logos, bzw. das Verbum, als Inbegriff der Ideen, die der Seele angeboren sind und die sie er-innert, indem sie ihrer „inne“ wird (bei Augustinus), vor allem und immer wieder aber wird der intellectus agens als das schöpferische Licht bezeichnet – daher bei Pound die leitmotivische und durchgehende Gleichsetzung von Licht und Intelligenz. Letztendlich handelt es sich bei den überaus diffizilen psychologischen Untersuchungen dieses Problems im Mittelalter um die Intuition von der grundsätzlichen Verwandtschaft des Menschen mit dem Universum, die im mediterranen Raum schon einmal, in Form der kretischen, ägyptischen, dionysischen und vorderasiatischen Mysterien Ausdruck gefunden hatte. Der menschliche Glaube an die Berührbarkeit des Urgrundes knüpft seit unvordenklichen Zeiten an die Licht-Metaphorik an: wie das Licht dem Auge, so müsse das wahre Sein dem Menschengeist entsprechen. Nur diese „sonnenhafte“ Beschaffenheit des Auges, die Gregor von Nyssa konstatiert (und Goethe aufgreift), ermögliche es dem Menschen, sich schon hier auf Augenblicke mit dem einen übergreifenden Prinzip (der in-formatio) in geistiger Anschauung zu vereinen (vgl. hierzu Pounds: „das Zeitwort ist ,sehen‘, nicht ,weitergehn‘“, in dem vorläufig letzten Canto-Fragment CXVI). Die durchgehende, wenn auch zum Teil unbewußte „aristotelische“ Tendenz der Poundschen Weitsicht hat einen viel zitierten englischen Kritiker (Harold H. Watts, Ezra Pound and The Cantos) dazu verleitet, in einem Buch mit ihm als mit einem „Nominalisten“ abzurechnen, was ihm durch eine typisch neuzeitliche Begriffsverwirrung ermöglicht wurde. Zwar assoziiert man gemeinhin die Nominalisten, die in den Allgemeinbegriffen nur Abstraktionen (nomina) sehen, mit Aristoteles und die Realisten, die in den Allgemeinbegriffen reale Wesenheiten sehen, mit Platon, doch fand diese einst weltbewegende Frage – sie rührte an die Grundfesten des Sakramentes – durch die geniale Begriffstrennung Avicennas schon vor rund 800 Jahren eine Antwort, die Pounds Auffassung von dem Vorwurf der Paradoxie freispricht.
Avicenna unterschied den platonischen Realismus als die
universalia ante rem und seine aristotelische Gestalt als die universalia in re, während der reine Nominalismus als die universalia post rem, wegen seiner auflösenden Tendenzen für Pound (und für die Kirche) Anathema sein mußte. Die universalia post rem der Nominalisten stellen ja gerade jene abstrakte westliche Begriffsbildung dar, der Pound durch sein ideogrammatisches Verfahren entgegenzuwirken sucht. Der Begriff der universalia in re aber erfaßt sowohl die neuplatonische Synthese von Platon und Aristoteles, wie den „mystischen Empirismus“, zu dem sich Pound bekennt, denn für ihn existieren die Trennungen von Subjekt und Prädikat, von Gegenstand und Funktion, von Gott und Welt nicht:

im Licht des Lichtes ist die virtù („Pisaner Gesänge LXXIV“).

Somit lassen sich für ihn überall in der Natur die göttlichen „Signaturen“ erkennen, wie John Heydon, der „Privatsekretär der Nature („Canto LXXXVII“), ein Mystiker aus dem 17. Jahrhundert, den Pound zitiert, schreibt. In den späten Cantos verweist Pound wiederholt auf die psychologische Kühnheit und Feinheit, die er bei Richard von St. Viktor („Canto XC“) entdeckt hat. Tatsächlich sind in den beiden Schriften Benjamin minor und Benjamin maior die drei Denkschritte vor der letzten mystischen Erfahrung des Seins in der Disziplin von cogitatio, meditatio und contemplatio in einer Weise beschrieben, in der besonders die letzte Stufe, der liber volutas (freie Flug) und das mira agilitate circumferri (staunende Einkreisen) der Kontemplation eine gewisse Verwandtschaft zum ideographischen Vorgehen zeigt, das ja auch den Gegenstand in der Pluralität seiner Funktionen und nicht von einer einzigen festen individuellen Position her zu erfassen sucht. Richards mystischer Erkenntnisdrang der Intuition durch den Intellekt, in dem Liebe und Vernunft zu gleichen Teilen wirksam sind, genügt überdies dem dichterischen Drang zur allseitigen, simultanen Erfassung, den wir bei Pound bemerkten. Auch hierin grundverschieden vom diskursiven, sukzessiven Denken, sucht es den „inblick in daz gegenwúrtig nu der ewigkeit“ (Heinrich Seuse). In dem Erlebnis der Simultaneität aber löst sich die Individualität auf, das eine Sein durchkreist als ein Blutstrom die Wirklichkeit, in der Konsonanz und Assoziation klingen die Stimmen des Ich und die Stimmen der Welt wieder zusammen. Pounds „Lichtstrang“ („daß die Sonnenseide, faserstark, klar sei“, „Canto XCI“) ist die Nabelschnur des Einzelnen Zum All.
Wenn Pound trotz dem Unverständnis, dem diese Seite seines Werkes seit jeher begegnete, in den späten
Cantos versichert: „Kein Jota weich ich ab von dem Arkanum“ so ruft uns dies die beiden Poeten des Lichtes in den Sinn, die für ihn so bedeutungsvoll waren: Guido Cavalcanti, den Autor der „philosophischen canzone“ (Donna me prega), den er mehrfach übersetzte und kommentierte, und Dantes monumentales Gedicht, das gewissermaßen ein Transparent der Odyssee ist (und zwar nicht nur, weil es die Spiegelung der Aeneis widerspiegelt), denn wie Odysseus die gesamte physische Welt des Altertums er-fährt, so mißt Dante den ungeheuren geistigen Bereich des Mittelalters aus. Er faßt dabei in der Gestalt der Beatrice zugleich den platonischen Eros der Troubadourdichtung zusammen, deren Terminologie in einer Wechselbeziehung zur Sprechweise der Mystik stand. Mag sein, daß sie auf Grund des Einflusses der Sufi, der arabischen Mystiker, dorthinein gelangte, deren Philosophie, wie wir sahen, ebenso nachhaltig fortwirkte wie die arabische Musik. Jedenfalls standen Dante und Thomas von Aquin in der Schuld Algazelis und vielleicht trifft dies auch für Cavalcanti zu. Zudem sieht die Divina Commedia, übereinstimmend mit Platon, Aristoteles, Plotin, die göttliche Ordnung als etwas, das von der personifizierten Liebe ausgelöst wird, und sei es die Liebe zwischen Mann und Frau, die das dulce commercium zwischen Gott und Seele widerspiegelt. Der Weg zum höchsten Wesen führt über die Schau, dem „Engelsbrot der Kontemplation“ im „luce intelletuel piena d’amore“, wie es Dante nennt. Erinnern wir uns daran, daß unser Zeitwort „erkennen“ in seinem älteren Sinn ein Wort aus der Liebessprache ist.

Eva Hesse

Pound und die Tradition des ungeteilten Lichts

Am Schluß einer Besprechung von Rock-Drill in der Times Literary Supplement findet sich folgende Bemerkung:

Die Rock-Drill-Folge bohrt sich mühsam ans freie Licht, heraus aus dem widerhallenden Gestein, in das sich Mr. Pound eingeschlossen hat. So steht er, einsam, in seinem eigenen Paradiso… Es ist tragischerweise ein Paradies aus seinem eigenen Chaos erschaffen, ein gewaltiges Ideogramm der Exzentrizität.

Jedoch erübrigt sich jedes Bedauern über Pounds Vereinsamung in seinem Paradies, wo das Licht „beinahe greifbare“ ist. Pound teilt sich in dieses Paradies mit der langen Ahnenreihe all jener, von denen er schreibt:

Ganz unvermittelt widerfährt es dem Menschen, daß er, jenseits von aller individuellen Geistigkeit, der Realität des nous, des Geistigen, inne wird, des Kristallinen und Kontinuierlichen, des Strahlenden und gleichsam Glasflüssigen, das uns in Licht hüllt und trägt.

Dieser Absatz erinnert an die Offenbarung des Johannes 4, 6: „Und vor dem Stuhl war ein gläsernes Meer gleich dem Kristall…“
In Make It New betont Pound, es sei unbestreitbare Tatsache, daß nicht nur manche Menschen derartige „Wahrnehmungen“ gehabt hätten, sondern daß diese Wahrnehmungen selber einander erstaunlich ähnlich seien:

So bin ich zum Beispiel der Ansicht… es sei durchaus zu belegen, daß eine Reihe von Menschen über die Epochen hinweg sich in Bezug auf eine Skala von Wahrnehmungen untereinander zu verständigen vermochte, deren Möglichkeit andere Menschen rigoros ableugnen.
Es würde mir recht unwissenschaftlich erscheinen, wenn man ihre Existenz leugnen wollte – zumindest als Wahrnehmungen, zumindest als Ansammlung mitteilbarer Wahrnehmungsinhalte, obwohl es bei neun Zehnteln der Bekannten, die man hat, offensichtlich sinnlos wäre, sie zur Sprache zu bringen…

Solche Wahrnehmungen sind authentisch, aber es liegt in ihrem Wesen, daß ihre Gültigkeit sich nicht eindeutig darlegen läßt; sie sind geheimnisvoll und müssen es bleiben, denn selbst jene Menschen, die solche Visionen erlebten, sind außerstande die ihnen zuteil gewordenen Wahrheiten weiterzugeben, es sei denn durch Symbole:

Prosa ist KEINE Erziehung, sondern der Vorhof dazu… Dahinter liegen die Geheimnisse. Eleusis. Dinge, die nicht auszusprechen sind, es sei denn im Geheimen. Die Mysterien schließen sich nach außen ab, sie lassen sich nicht offenbaren. Toren können sie nur entweihen. Die Beschränkten können weder in das Arkanum eindringen noch es anderen enthüllen.
Auch die Wissenschaft ist uns verborgen. Der Laie vermag sich nur mühselig ein paar Kegelschnittflächen davon zu erarbeiten. Er kann das innere Geheimnis nur durch noch größere Mühen erschließen, durch das allmähliche Abtragen seiner Torheiten, bis die höhere Wahrnehmung zur Gewohnheit wird.

Wir finden ein seltsames Echo des letzten Satzes in „Canto XC“:

Nicht herrisch von Habitus
sondern heftig aus Scharfblick…

In der westlichen Geistesgeschichte stellen die Angehörigen der neuplatonischen Schule eine bedeutende Anzahl der „Reihe von Menschen“, von denen Pound sagt, sie hätten solche Wahrnehmungskräfte erlangt. Wie so häufig bei der Erörterung von Pounds Anschauungen müssen wir auch hier zwischen jenen Elementen des Neuplatonismus, die er billigt, und denen, die er mißbilligt, unterscheiden; denn einem großen Teil der Gedanken, die sich auf Plato zurückführen lassen, begegnet Pound so unehrerbietig wie nur je ein Positivist:

Neben der experimentellen Wissenschaft, oder richtiger, weitab von diesem Daneben, hat sich seit 2000 Jahren oder länger die himmlische Tradition, das caeruleum coelum, das augustum coelum usw. bewegt.
Den Himmel, der über den Himmeln liegt (usw.) hat kein Dichter der Welt (usw.) jemals in angemessener Weise besungen, noch wird er es jemals tun.
Derartiges aus dem Phaidros, oder woher es auch stammt, erregt zweifellos gewisse Gemüter, oder vielleicht fast jeden, dem es in der richtigen Entwicklungsphase der Jugend oder in der richtigen Stimmung begegnet… Und der verbohrte Gelehrte mag, denke ich, riesige Denktrakte dieser Art im Osten, sogar (und/oder besonders) im nicht-konfuzianischen Teil Chinas auftun.

Pounds Ablehnung eines Großteils der „himmlischen Tradition“ als Kennzeichen einer Jugendphase kann aber nicht zur Grundlage irgendeiner Verallgemeinerung über seine Einstellung gemacht werden, denn die hier zitierten Äußerungen aus dem Kapitel „Neo-Platonicks Etc.“ im Guide to Kulchur werden durch das spätere Fazit im gleichen Kapitel aufgewogen:

Auch der eingefleischte Objektivist kann letztlich nicht abstreiten, daß eine große Anzahl Menschen gewisse Gefühlszustände ja, magari, Ekstasen, erfahren hat.

Diese beiden Äußerungen sind nicht so unvereinbar, wie sie scheinen, wenn wir uns Pounds Einwand gegen die Erörterung der „ekpyrosis“ seitens der Stoiker in einem früheren Kapitel des Guide to Kulchur vergegenwärtigen – nämlich, daß sie nichts davon wußten. Pound leugnet nicht, daß ein visionärer Zustand erreicht werden könne; im Gegenteil, er bestätigt diese Möglichkeit. Aber er hat nichts für den Versuch übrig, diesen Zustand verstandesmäßig – in verschwommener, unklarer Ausdrucksweise – auszudeuten, denn im Endergebnis wird durch einen solchen Versuch das ursprüngliche Erlebnis aufgehoben.

Obwohl Pound meint, daß die Neuplatoniker sich wie die Stoiker gelegentlich in der Erörterung eitler Nichtigkeiten verlieren, so hat er doch zwei der grundlegenden Vorstellungen Plotins und seiner Nachfolger übernommen, die beide große Ähnlichkeit mit den konfuzianischen Lehren des Chung-yung aufweisen: einmal die Einheit aller Dinge innerhalb „des Ablaufs“, und zum anderen das geistige Bild des Lichtes als der Quelle des Guten, des Schönen und der schöpferischen Kraft im ganzen Universum. In „Canto V“ spielt Pound mit zwei rätselhaften Worten: „Et omniformis…“ auf die erste dieser beiden Vorstellungen an. Quelle und Erklärung ihres Sinnes erscheint aber bereits in der ursprünglichen Fassung von „Canto III“:

OMNIFORMISO

Omnis intellectus est… so setzt er an und deklamiert
aaaaaaaaaades lang und breiten Psellos.
Dann die Anmerkung, mein beflissner
aaaaaaaaaaKommentator:
Nicht Psellos
De Daemonibus, sondern
aaaaaaaaaaPorphyrios’
Occasionibus,
Im dreizehnten Kapitel, daß „jedweder Geist
aaaaaaaaaaist allgestaltig…“

Diese Lehre, wie sie sich in den Schriften des Gründers dieser Schule, Plotins, offenbart, läuft darauf hinaus, daß diejenigen, die den Zustand der Kontemplation des „geistigen Prinzips, des Wahren, Beständigen und Unveränderlichen“ erlangt haben, durch das Wirken dieses Geistes in ihrem Innern zu „Göttern“ und „als Götter schön“ geworden sind. Ihnen ist „alles transparent, nichts ist trübe, nichts starr; jedes Wesen ist reinsichtig jedem anderen an Umfang und Tiefe; Licht durchschießt Licht. Und jedes dieser Wesen birgt die Allheit im eigenen Ich und sieht zugleich die Allheit in jedem anderen; so ist die Allheit, in allem und in jedem und überall in unendlicher Herrlichkeit.“
Wenn Pound in den „Höllen-Cantos“ (XIV, XV) jene geistigen Bereiche durchwandert, welche die genaue Umkehrung des soeben beschriebenen darstellen, Bereiche, die durch Finsternis, Dreck, Exkremente, Eiter und Ungeziefer veranschaulicht werden, so ist es Plotin, der ihn rettet:

Fuß hängt dir fest, Schlamm
Kriegt dich schmatzend zu fassen, kein Anhalt,
Der Moor-Sog wie ein Mahlstrom,
aaaaaaaaaaGemisch von Öl und Ruß;
Da sprach er [Plotinus]:
aaaaaaaaaaSchließ die Poren der Füße!
Meine Augen verhaftet dem Horizont,
Und wiederum Plotin:
aaaaaaaaaaZum Tor hin
Laß den Blick nicht vom Spiegel abwandern.

Und, der Hölle entronnen, wird Pound besänftigt, erfrischt und neu befriedet durch die plotinische Vision des Lichts, das „in der Seele leuchtend sie erhellt… und sie zum Ebenbilde seiner selbst, dem Licht von oben, wandelt.“

(Helios ah Helios)
aaaaaaaaaasonnenblind,
Lider verschwollen. Rast.
aaaaaaaaaaAugenlicht blendet aus. Bewußtlose Nacht.

Welche Fehler oder Torheiten den Neuplatonikern auch eigen sind, so haben sie doch, nach Pounds Ansicht, bezeugt, daß der Mensch einen Zustand zu erreichen vermag, in dem es eine vollkommene Klarheit des Geistes und eine vollkommene Harmonie der Seele gibt. Dieses Zeugnis soll beweisen, daß es möglich ist, jener geistigen Verfassung zu entrinnen, die es bewußt darauf anlegt, den Sinn zu verdunkeln und zu trüben, die Konturen der Schönheit zu vergröbern und zu verwischen und vorsätzlich Unordnung zu stiften.
Die Tradition des ungeteilten Lichts wurde von Johannes Scotus Erigena, dem Philosophen und Theologen des 9. Jahrhunderts, den Pound so hoch schätzt, durch das frühe Mittelalter hindurch bewahrt. Erigena gehört nach seinem Urteil einer geheimen „Verschwörung des Geistes“ an, die seit eh und je das kulturelle Niveau des Geisteslebens hält. Erigenas Feststellung: „Autorität entspringt rechter Einsicht – [und nimmer umgekehrt] läßt ihn in Pounds Achtung noch höher steigen. Darüber hinaus kommt ihm der Ruhm eines gewissen Märtyrertums zu, denn Pound meint, daß die Verurteilung von Erigenas De divisione naturae im Jahr 1225 durch die Kirche, vier Jahrhunderte nach seinem Tod, wahrscheinlich einen Versuch darstelle, diesen unabhängigen Geist zu entmündigen:

Erigena hat sich, meiner Ansicht nach, nicht als Schismatiker gefühlt. – „Autoritar entspringt rechter Einsicht“, das wäre im Griechischen orthon logen gewesen, aber nicht doxe (= Lehre). Es ist nicht wahrscheinlich, daß er in dieser Sicht zum Ketzer geworden war. Wurde er ausgestoßen, weil er in einer anderen Frage etwas Unsinniges behauptet hatte; oder handelte es sich um einen Angriff aus politischer Leidenschaft, um ein abgekartetes Spiel?

Aus Erigenas Philosophie per se hat Pound nur einen Satz aufgenommen, aber es ist ein Satz, in dem die Vorstellungen, die wir zuvor in der Philosophie der Neuplatoniker verzeichnet hatten, abgewandelt und zusammengefaßt sind:

Omnia quae sunt, lumina sunt (frei übersetzt: Alles was Sein hat, hat es vom Licht).

Denn hierin haben wir noch einmal den Glauben an eine beständige, unveränderliche Kraft jenseits und inmitten des scheinbaren Wandels und der Unbeständigkeit des Universums, und dazu die Vorstellung des Lichts als dem Symbol dieser Beständigkeit. Ein solches „Symbol“ ist, nach William B. Yeats, „der einzig mögliche Ausdruck eines unsichtbaren Wesens, eine durchsichtige Lampe, die eine geistige Flamme umschließt“.

Was diese Lehre in sich schließt, erklärt Erigena so:

Da die Essenz jedes Dinges die Erkenntnis desselben ist, so ist die Schöpfung streng genommen die vielfältige Offenbarung der übergreifenden, essentiellen Natur. Von Gott läßt sich sagen, daß er sogar sich selber erschaffe; das soll heißen, er ruft die Naturen ins Leben; alles Existente gründet in Gottes Selbst-Erschaffung, in der Offenbarung seiner selbst durch etwas anderes. Daher existiert nichts, was nicht in Gott ist, aber alles Existierende ist da, gleichzeitig erschaffen, gleich-ewiglich und co-essentiell mit Gott.

Erigena definiert das Wesen des Menschen als „eine bestimmte Idee, die sich ewiglich im göttlichen Geist bildet“, aber da „im Menschen eine Art Ahnung von allen sinnlich und verstandesmäßig erfaßbaren Dingen lebt, die dem Menschensinn zugänglich sind“, trägt der Mensch die gesamte „offenbare Welt“ in sich. Erigena hebt diesen Punkt mit Nachdruck hervor, für den Fall, daß er nicht wörtlich genug genommen würde:

Es läßt sich kein Teil davon [der offenbaren Welt] entdecken, ob körperlich oder unkörperlich, der nicht im Menschen vorgeschaffen existierte, der nicht wahrnimmt, der nicht lebt, der ihm nicht einverleibt ist.

So läuft im Menschen die ganze natürliche Ordnung zusammen, wiewohl der Mensch zugleich seiner eigentlichen Essenz nach eine Idee im Göttlichen Geist ist, so daß Gott, Mensch und die natürliche Welt eine Einheit bilden, und alles, was existiert, Licht ist („omnia quae sunt, lumina sunt“).
Pounds Einleitung zu seiner Version von The Great Digest [Ta Hsüeh] enthält eine Deutung, aus der hervorgeht, daß er diese Lehre Erigenas mit der konfuzianischen Auffassung verknüpft. So schreibt er zur Erklärung des Ideogramms für den chinesischen Begriff „ming“:

Sonne und Mond, der ganze Lichtablauf, Ausstrahlung, Absorption und Rückstrahlung des Lichtes; darum die Intelligenz. Hell, Helligkeit, Leuchten. Siehe Scotus Erigena, Grosseteste und die Bemerkungen über das Licht in meinem Cavalcanti.

So kommen wir zu den nächsten Exponenten der westlichen Geistesgeschichte, die der „Tradition des ungeteilten Lichtes“ angehören: Grosseteste und Cavalcanti. Diese beiden Männer werden in Pounds Studie zu Guido Cavalcantis philosophischer Canzone Donna me prega, zusammengesehen.
In seiner Arbeit über die Canzone erläutert James Shaw ausführlich das Wort „lome“, wobei er darlegt, daß es bei Cavalcanti den Einfluß der gesamten neuplatonischen Tradition spiegelt. Er verfolgt den Weg des Neuplatonismus durch die christlichen philosophischen und theologischen Schriften anhand der Werke des Heiligen Augustin und der Aufzeichnungen des Dionysios Areopagita, den man jahrhundertelang für einen Christen und Schüler des Paulus hielt. Auch Johannes Scotus Erigena nahm dies bei der Übersetzung seiner Werke an. Aber das entscheidende Vorbild für Cavalcantis Licht-Motiv findet sich nach Shaws Ansicht in den arabischen und scholastischen Kommentaren zu Aristoteles, insbesondere bei Albertus Magnus.
Auch Pound glaubt, daß „Guido gewisse Begriffe von den aristotelischen Kommentatoren“ und von Albertus Magnus übernommen hatte. Jedoch ist er der Ansicht, daß des Albertus Magnus geistiges Vermächtnis an Guido Cavalcanti eher in dem Nachdruck auf dem „empirischen Beweise“ lag als in einer Licht-Theorie. („Be there not natural demonstration I have no will to try proof bringing…“ [„Was von Natur nicht aufgezeigt, des tret ich den Beweis nicht an.“] lautet Pounds Übersetzung von „Ché senza natural dimostramento, non ho talento di voler provare“ in „Canto XXXVI“. Pound sieht Cavalcanti als „ein Glied in jener heimlichen Folge von Denkern, die von Albertus Magnus bis zur Renaissance die Freiheit des Denkens, die Verachtung, oder doch zumindest keine vorbehaltlose Achtung, der geistlosen Autorität verkörperten.“ So nimmt Pound in „Canto XXXVI“ unmittelbar nach seiner Übersetzung von „Donna me prega“ in scharfer Weise zu Johannes Scotus Erigenas Verurteilung durch die Kirche Stellung und zitiert: „Autorität entspringt rechter Einsicht…“
Um jedoch Cavalcantis Auffassung des Lichtes zu erklären, wendet sich Pound nicht Albertus Magnus zu, sondern einem anderen, der eine Abhandlung über das Licht geschrieben hat: Robert Grosseteste, Bischof von Lincoln. Pound behauptet zwar nicht, man könne eine unmittelbare Beeinflussung Cavalcantis durch Grosseteste feststellen, aber er meint, daß „die ganze Canzone leichter zu verstehen ist, wenn wir von der Annahme ausgehen, oder wenn wir zumindest die interessante Theorie berücksichtigen, er habe Grossetestes Werk über das Werden des Lichtes gelesen.“
Jedenfalls betrachtet Pounds Cavalcanti-Persona die Liebe als das metaphysische und geistige Licht, das schöpferische Prinzip in allen Dingen:

[Liebe] Leitet nicht von Leibhaftem her, sondern leuchtet
aaaaaSich selber ohne Ende aus der eignen Kraft…

und

Er selbst bewegungslos, holt in kraft seiner Stille
aaaaaaaaaaaaaaaalles zu sich herein…

und

Wird nicht erkannt von Angesicht sondern
aaaaaErfaßt in jenem weißen Licht,
aaaaaaaaaawelches die Allheit ist…

Eine Ähnlichkeit ist nicht nur in den Ideen, sondern sogar in der Reihenfolge zu erkennen, in der die Ideen in diesem Gedicht und in Grossetestes Abhandlung auftreten. Denn auch Grosseteste gelangt, nach der Darstellung des Vorgangs, durch den das Licht „aus jedem Teilchen seiner selbst zum Zentrum des Universums“ hinstrahlt, wodurch „die dreizehn Sphären der offenbaren Welt“ erschaffen werden, zu der Schlußfolgerung, daß die eigentliche Essenz aller Körper Licht sei; in den höher entwickelten Körpern ist es reiner, einfacher, geistiger als in den tieferstehenden Arten, aber alle gehen „Aus ihrer Lichtgestalt hervor“. Und Grosseteste fügt seiner Darlegung hinzu:

Diese Erörterung mag vielleicht die Aussage jener klarer hervorheben, die da sagen, „alle Dinge sind eins durch die Vollendung des all-einen Lichtes“, und auch die Aussage jener, die da sagen, die Vielfalt der Dinge ist vielfältig durch die Multiplikation des Lichtes in seinen verschiedenen Abstufungen.

Ob Cavalcanti diese Abhandlung gelesen hat oder nicht, fällt nicht so sehr ins Gewicht, denn, wie Pound sagt, „sie gehörte doch wohl zu jener Art von Schriften, die er gelesen hatte“. Beide Männer sind einer Tradition verbunden, die wenigstens bis zum Neuplatonismus zurückgeht, der die gesamte Schöpfung als wesenhaft eins mit dem Schöpfer betrachtete. Tatsächlich wird bereits dadurch, daß man allgemein vom „Schöpfer“ und von der „Schöpfung“ spricht, eine falsche Zweiteilung herbeigeführt, denn sie sind nichts Getrenntes, sondern eine Einheit. Diese Metaphysik ähnelt der konfuzianischen Anschauung:

Der himmliche und irdische Ablauf läßt sich in einen einzigen Satz fassen: seine wirkenden Kräfte und seine Schöpfung haben keine Dualität. (Der Pfeil hat keine zwei Spitzen.)

So schließt sich der Kreis mit der Zusammenfassung aus dem Unwobbling Pivot [Ta Hsüeh].
Von der Renaissance an hat der Okzident nach Pounds Ansicht „die strahlende Welt“ Cavalcantis aus den Augen verloren, und die Künste spiegeln diesen Verlust:

Fraglos wurde die Metamorphose in das fleischliche Gewebe etwa um das Jahr 1527 zu einer häufigen und allgemeinen Erscheinung. Der Mensch wird Körper, korpuskular, aber nicht im strengen Sinn ,beseelt‘, er ist nicht mehr der Körper aus Luft, gehüllt in den Körper aus Feuer; es geht kein Leuchten von ihm aus; das Licht tritt nicht mehr vom Auge aus; so viel Fleisch ist da, stoßdämpfend, vielleicht – – auf jeden Fall dämpfend …

Und in den Pisaner Gesängen klagt Pound:

alles, was Sandro wußte, und Jacopo
aaaaaund was Velázquez sich nicht träumen ließ
verloren in der braunen Tunke Rembrandts
aaaaaden rohen Schinken von Rubens und Jordaens

Die Renaissance und die Neuzeit, die aus ihr entstand, haben auf wissenschaftlichem Gebiet große Fortschritte erzielt, vor denen Pound die größte Achtung hat. Auch in den Künsten haben sie neue Verfahren erschlossen, aber „etwas fehlt“: verschwunden ist der Sinn für das Mysterium des Weltalls, für die großen Wahrheiten, die der Mensch nicht oder nur in ganz groben Zügen zu begreifen vermag, deren Existenz aber nichtsdestoweniger erkannt und respektiert werden sollte. Im Guide to Kulchur scheint Pound sogar anzudeuten, daß unserer gegenwärtigen Zivilisation das Bewußtsein von diesem Mysterium verschlossen ist:

Einen Zuwachs an erzählerischer Kraft von 1600 bis 1900, ja, aber all die Töne, die aus der englischen Dichtung schwanden? Ist Eleusis die Wahrheit gewesen? Und ein modernes Eleusis etwa nur möglich in der Einöde eines menschlichen Geistes für sich allein?
Die Anforderungen gehen weit über die eines geistig wachen literarischen Kreises hinaus (den es ohnehin nicht gibt). Es fehlen uns nicht nur die Methoden, sondern auch die Anwärter. Man stelle sich einen Menschen unserer Zeit vor, der fünf Jahre warten kann, um irgend etwas zu erfahren!
Oder der überhaupt so etwas zu erfahren trachtet!
Oder hatte es von jeher nur der Fanatismus vermocht? Eine Auswahl weltfremder Einzelgänger, nicht die Blüte des geistigen Lebens. War es jemals möglich, es sei denn aus einer Überzeugung und Einfalt, die der Neuzeit nicht mehr zugänglich sind?

Pound beantwortet die Frage, die er stellt, nicht; aber so, wie er sie stellt, scheint sie die Verneinung in sich zu tragen. Sollte dies der Fall sein, so hat er in den Jahren zwischen der Veröffentlichung von Guide to Kulchur (1938) und Rock-Drill (1955) seine Ansicht geändert. Denn hier wiederholt er die Frage, gibt jedoch diesmal Antwort:

Et Jehanne
aaaaa(das lothringische Mädchen)
Ein Organ das verloren ging?
aaaaawohl doch nicht…

Es ist noch immer möglich, meint Pound, die toten Schichten abzutragen, die „25 hundert Jahre der Ent-Sensibilisierung“ angelagert haben, und allmählich das „Dantesche Licht freizulegen… Omnia quae sunt, lumina sunt.“ Obwohl diese Generation die Vollendung des Werkes kaum noch erleben wird, ist es doch möglich, jetzt den Beginn einer Kultur anzusetzen, die von jenem geistigen Licht erstrahlen wird:

Für mich nichts. Daß aber das Kind
aaaaaIn Frieden wandle in ihrer Basilika
Das Licht dort beinahe greifbar.

Die Vision dieser strahlenden Welt steht recht eigentlich im Zentrum von Pounds Vorstellungskraft nicht nur für die Cantos, sondern für die meisten seiner Schriften. In ihr laufen der konfuzianische Einklang von Himmel und Erde und der eleusinische Fruchtbarkeitskult, die Plotinsche Einheit im schöpferischen Lichtprinzip und der kontemplative Friede eines Richard von St. Vierer zusammen. Nach dieser Vision richtet Pound sein ethisches System aus und empfindet als Übel alles, was sie zu trüben oder zu verdunkeln droht. Von Übel ist, was danach trachtet, die Einheit durch eine falsche Zweiteilung in Geist und Stoff und durch Überbetonung des einen oder anderen in eine dualistische Weltansicht aufzuspalten; von Übel ist, was durch falsche monetäre Praktiken oder durch unbeugsame Dogmatismen Unstimmigkeit, Krieg und Leiden herbeiführt.
Volkswirtschaft, Ästhetik, Staat, Sprache, Ethik – all das hängt für ihn ab von dem Grad an Wahrnehmungsintensität, die die Menschen einer Kultur für das „ungeteilte Licht“ aufbringen.

Barbara Charlesworth, aus Eva Hesse (Hrsg.): Ezra Pound. 22 Versuche über einen Dichter, Athäneum Verlag, 1967

 

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Das ist das Tollhaus Bedlam.

Das ist der Mann
der liegt im Tollhaus Bedlam.

Das ist die Zeit
vom unseligen Mann
der liegt im Tollhaus Bedlam.

Das ist eine Armbanduhr
die zeigt die Zeit
vom redseligen Mann
der liegt im Tollhaus Bedlam.

Das ist ein Seemann
der trägt die Uhr
die die Zeit zeigt
von dem angesehenen Mann
der liegt im Tollhaus Bedlam.

Das ist der Ankerplatz, komplett verplankt
den hat der Seemann erreicht
der die Uhr trägt
die die Zeit zeigt
vom alten, tapferen Mann
der liegt im Tollhaus Bedlam.

Das ist der Stationsgang, sind Mauem von Jahrn
sind Wind und Wolken des Plankenmeers
vom Seemann befahrn
der die Uhr trägt
die die Zeit zeigt
vom grantigen Mann
der liegt im Tollhaus Bedlam.

Das ist ein Jude, der hat einen Zeitungshut
damit tanzt er klagend übern Gang her
über das knarrende Plankenmeer
weitab vom Seemann
der dreht seine Uhr
die die Zeit zeigt
von dem gräßlichen Mann
der liegt im Tollhaus Bedlam.

Das ist eine Welt von Büchern so platt.
Das ist ein Jude, der den Zeitungshut hat
damit tanzt er klagend übern Gang her
über das kreischende Plankenmeer
des mallen Seemanns
der an seiner Uhr dreht
die die Zeit zeigt
vom eifrigen Mann
der liegt im Tollhaus Bedlam.

Das ist ein Junge, der patscht auf den Flur
um zu sehn, ob die Welt da ist und glatt
für den verwitweten Juden, der den Zeitungshut hat
damit tanzt der klagend über den Gang
einen Walzer die schwingende Planke lang
beim Seemann, der schweigt
der seine Uhr hört
die Zeit vertickt
von dem tristen Mann
der liegt im Tollhaus Bedlam.

Dies sind die Jahre die Mauern das Tor
ein Kind, das den Flur betatscht davor
um zu spürn, ob die Welt da ist und glatt.
Das ist ein Jude, der einen Zeitungshut hat
mit dem tanzt er freudig übern Gang her
in das sich teilende Plankenmeer
am stiern Seemann vorbei
der seine Uhr schüttelt
die die Zeit zeigt
vom Dichter, dem Mensch
der liegt im Tollhaus Bedlam.

Dies ist der Soldat, aus dem Krieg heimgekehrt.
Das sind Jahre und Mauern, das Tor riegelbewehrt
vor einem Kind, das den Flur betatscht
um zu sehn, ob die Welt rund ist oder platt.
Das ist ein Jude, der einen Zeitungshut hat
mit dem tanzt er sorgsam über den Gang
geht über die Planke, ein Sargbrett entlang
mit dem irren Seemann
der die Uhr präsentiert
die die Zeit zeigt
von dem elenden Mann
der liegt im Tollhaus Bedlam.

(1950)
Elizabeth Bishop
Aus dem amerikanischen Englisch von Barbara Köhler

IN MEMORIAM EZRA POUND

Todestag Erster November Neunzehnzweiundsiebzig

Transpontischer Ovid beging seine ovoid’schen Obsequien
für den alleinigen Kaiser, den Kaiser der Eiscreme.
In seinen Elegien hat Teddy Bear seine Picknicks.
Findest du, wo die vier Eiswaffeln sind, verborgen
in diesem elegischen Bild? Ich weide mich am Pastell
der Herzensfarben, fern der voreingenommenen Einseitigkeit
tödlich starker Elegien, verborgen in den Provinzen
der Verzweiflung und Eiscreme, „des verflossenen Landes
der Kindheit“, auch der geschlagenen Vergangenheit. Augenschein
eines aus Einbildungen geweckten Schläfers (und dies
geht über Vorstellung hinaus) auf dem Standpunkt eines Selbstmordes
über dem Abgrund der Leere, wissend, dass es sich füllen muss:
die Finger finden die Augen und Schrift. Ergreifen das Buch.

Ich glaube bisweilen, es sei das alleinige Ding, der
einzige Standpunkt, erster Eiscreme-Schlürf die Kehle hinab,
worauf Krishna hinauswollte, als er Arjuna ermahnte
auf dem Schlachtfeld. Pflücke das Blütenblatt
im Hain, wo die Gegnerscharen handeln sinnbildlich
nach Farben, Rot und Weiß; mit Nijinski springe, stets
Verzücken im Blick, in Le Spectre de la rose. Dies
verspukte Eiland, dem Tode trotzend mit Gebärden. Bleib
im Getümmel, verweile und lächle und springe hinein ins Gestern.

Er ist nicht hier, da er schier den Schatten überflügelt hat
zu unserer Rechten. Der Tod ist tot, er nicht. Und
grausig zwischen den sabbernden Gespenstern auf kahlem Straßenzug
bricht heran der leere Tag der kritischen Interpretation,
befleckt den weißen Glanz der Ewigkeit. Jeder noch
so kleine Pickel hat eine Träne gehabt, eine Furcht vor bunt-
schillerndem Glas, bedrängt der Lebenslärm das Weiß
im Schimmern einer Elegie. Wie sinkt wohl die Betonung
auf einen Herbsttag. Remember remember the first
of November, wo Geschichte sich findet, hier und nirgends:
die Kammer in Poictiers, wo kein Schatten sich senkt
auf das zeitlose Augenblicksmuster. Vergesse,
das Tor in Weiß sei das Tor, worin unser Gestern
gebettet wird. Diese Bücher, schimmernd wie die Zeit
vor dem Schatten unserer Nacht, in welcher kein
Schatten sinkt. Nicht tot ist er. Vielmehr.

Schenk mir wieder Schwung. O Riesenrad.

Veronica Forrest-Thomson
Übersetzung: Norbert Lange

 

 

Fakten und Vermutungen zur Herausgeberin + Kalliope +
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Stefan Troller: Ein Mann auf dem Weg zur Toteninsel

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Ezra Pound

 

 

Michael Reck: Prospero. Ein Gespräch zwischen Ezra Pound und Allen Ginsberg
DU, Heft 9, September 1968

Franco Antonicelli: Ein Besuch bei Ezra Pound
DU, Heft 2, Februar 1967

Pierre Imhasly: Dichtung in vielen Zungen
DU, Heft 2, Februar 1967

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Hans-Jürgen Heise: Ezra Pound zum 80. Geburtstag
Die Tat, 29.10.1965

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Steve Lake: Ezra Pound
Akzente, Heft 5, Oktober 1985

Zum 45. Todestag des Autors:

 

 

Zum 50. Todestag des Autors:

Hans-Ulrich Fechner: Vor 50 Jahren ist der Dichter Ezra Pound gestorben
Die Rheinpfalz, 1.11.2022

Willi Winkler: Bürgerkrieg unter friedlichen Affen
Süddeutsche Zeitung, 27.10.2022

 

 

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Ezra Pound liest Canto XLV.

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