Farhad Showghi: In verbrachter Zeit

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Farhad Showghi: In verbrachter Zeit

Showghi-In verbrachter Zeit

DIE BEWEGUNG ist gerade dabei, weniger strikt in
aaaaader Umgebung
zu sein. Vom Fußweg ganz zu schweigen. Die Hand
aaaaaahmt nach. Wie
ein Verschwinden angeträumt bleibt. Ins Lot gespielt
aaaaanur zwischen
den Birken. Weil es draußen so hell ist. Und gleich
aaaaaeine Regentonne
stehen müsste. Bevor es zu spät wird, an einer Stelle
aaaaazu sein. Man
kann in der Nähe ruhig etwas befürchten. Wenn die Ankunft nicht
überhandnimmt. Das Herumlaufen kommt schließlich von ungefähr.

 

 

 

Farhad Showghi In verbrachter Zeit · Prosagedichte

„Die Mikrowelten (Ulrich Moser), der tastende Blick, der erste Blick, die Unsicherheiten, das ‚Sichselbstschreibende‘, die Durchlässigkeiten, die Vermeidung von Kraft- und Sinnmeierei, das punktuelle Erinnern ohne Pathos, das punktuelle Erinnern mit aufkeimendem, dann abrutschendem Pathos, die Angst vor der Metapher, der Abschied vom Experiment, die Überraschung und der ganze Brodem dahinter, die Fülle der Nähe, das Verzetteln dort und schließlich der Körper selbst, all dieses, der Fuß, die Hand und noch einiges mehr lässt sich schwer in eine Aussage bringen. Daneben bin ich froh, so wenig zu wissen. Und das, was ich gerade geschrieben habe, überholt sich doch gleich wieder selbst. Na ja, wenn du mich vielleicht etwas früher gefragt hättest. Und es gibt vielleicht auch ein politisches Moment in diesen Texten, das Anderssprechen, als eine Art Befreiung vom Zugriff, von lähmenden Sinntiraden. Vielleicht. Und nichts gegen Herkömmliches. Nichts gegen Tatzen. Mir gefällt einfach nur das Zulassen. Aber jetzt komme ich ins Schwatzen, reime auch schon. Reime mir was zusammen. Über die Landschaften östlich von Isfahan und im Berblinger Weitmoos hätte ich vielleicht noch etwas sagen können. Und über den Garten.“
Farhad Showghi

kookbooks, Ankündigung

 

„In verbrachter Zeit“

– Farhad Showghis neue Prosagedichte. –

I
In verbrachter Zeit – so lautet der ebenso schlichte wie merkwürdige Titel, unter dem Farhad Showghi seine neuen Prosagedichte in einem schmalen Band zusammenführt. Prosagedichte! Dichterische Prosa? Prosaische Gedichte? Die Genrebezeichnung tut nicht viel zur Sache. Konkret handelt es sich um Mikrotexte von höchster Komplexität und Einfachheit. Einfach und komplex zugleich sind diese minimalistischen Gebilde, die man mit Robert Walser, einem der bevorzugten Referenzautoren Showghis, gern als „Sprachstückli“ bezeichnen würde – als sprachliche Kunststücke in kleinstem Format.
Was Showghi in Kleinformat vorführt, ist grosse Sprachkunst, ist Dichtung, die sich in stetigem Widerspruch zu Logik, Kausalität, Chronologie ebenso witzig wie tiefsinnig behauptet. Was zunächst leicht zu lesen ist, erweist sich bei näherem Hinsehen und wiederholter Lektüre als äusserst vertrackt. Wir haben es hier mit Texten zu tun, in denen sich, ihrer vordergründigen Unbedarftheit zum Trotz, ein dezidiert irreguläres Denken und Imaginieren kundtut.
Die schlicht instrumentierten Prosagedichte (sie kommen ohne Fremdwörter, fast ohne Neologismen, ganz ohne lyrische Überhöhung aus) provozieren durchweg den sogenannten gesunden Menschenverstand, indem sie die automatisierte Alltagsrede wie auch korrektes Argumentieren und Schliessen konsequent unterlaufen. Umgekehrt könnte man sagen, Showghi setze in seinen Texten auf subversive Weise eine Rhetorik durch, die unauffällig daherkommt, dabei aber lauter Seltsamkeiten, Verrücktheiten, Idiotismen und Absurditäten zur Geltung bringt, die schon bald jedes noch so überspitzte oder abgehobene Paradox in den Status einer alternativen Normalität und Korrektheit versetzt – in den Status einer andern Vernunft, die zwar nichts Bestimmtes zu bedeuten hat, dafür um so mehr zu denken, zu mutmassen und auch zu träumen gibt.
Mit dieser wohl etwas umständlichen Darlegung kontrastiert die ungewöhnliche Leseerfahrung, die man mit Farhad Showghi machen kann: Was als hochkarätige Dichtung zu erkennen und anzuerkennen ist, liest sich nämlich höchst unterhaltsam und ist stellenweise spannender als irgendeine Abenteuer- oder Kriminalgeschichte. Nur ergibt sich die Spannung hier nicht auf der Darstellungsebene, sondern auf der Ebene der Wörter und Sätze, die in diesen Texten ganz und gar ungewöhnliche, unerwartete oder für unmöglich gehaltene Verbindungen eingehen. Vieles bleibt unverständlich, doch gerade dadurch weckt Showghi, naturgemäss, das Begehren, Unverständliches verstehen zu wollen, statt Verständliches verstanden zu haben ‒ im Gegenzug gibt er Unverständliches zu bedenken. Das ist eine rare literarische Herausforderung und ist auch ein rares literarisches Angebot, zu bewältigen nur in hellwach „verbrachter Zeit“.

II
„Ich muss das meinem Vater erzählen“ – so betitelt der Autor die erste Sektion seiner Textsammlung. Ein lyrisches Ich als Erzähler? Das verweist eher auf Prosa denn auf ein Gedicht. Der Untertitel – „Nach Tschaktschakuh“ – bringt diesbezüglich keine Klärung. „Nach“ kann, da ein Kontext fehlt, räumlich wie zeitlich begriffen werden (wohin? wann?), wobei unklar bleibt, was oder wer mit Tschaktschakuh gemeint sein könnte – Google kennt das Wort (das wohl ein Name ist) nicht. Mag sein, dass es aus einem orientalischen Märchen stammt, vielleicht hat es der Autor auch einfach erfunden. Erfunden wozu? Eben dazu, die prosaische Aussage im Obertitel mit etwas Unverständlichem, Fremdartigem zu konterkarieren und so die Lektüre vorab schon zu verunsichern.
Das zugehörige Motto von Robert Walser – „es war auch zu verlockend, noch ferner hier zu sein“ – liefert dann aber einen Grund-Satz, der für die nachfolgenden Texte als Modell und für Showghis Schreibweise insgesamt als exemplarisch gelten kann. Exemplarisch deshalb, weil Walser die scheinbar beiläufige Aussage durch drei alltagssprachliche Wörter – „verlockend“, „ferner“, „hier“ – kaum merklich in ein semantisches Schlingern versetzt, das jäh ins Unheimliche kippt. Die semantische Wende vollzieht sich zwischen „ferner“ und „hier“ und ist zurückzuführen auf die zeiträumliche Doppeldeutigkeit der Steigerungsform „ferner“: Diese steht einerseits für „länger“ (noch länger hier zu sein), anderseits für „weit fort“ (verlockend, weit fort zu sein), woraus sich die Lesart ergibt, es sei verlockend, hier weit fort zu sein, ein Paradox, in dem das unmögliche Begehren zum Ausdruck kommt, sich gleichzeitig hier – in der vertrauten heimatlichen Enge ‒ und dort – in der grossen fernen Welt ‒ zu befinden.
„Nach Berbling“ geht es – so der Titel des zweiten, mittleren Textteils – „neben Hecken, Häusern und Gras“, und schliesslich „nach Berne“ im dritten und letzten Teil, für den noch einmal der Buchtitel einsteht: „In verbrachter Zeit“. Titel, Untertitel und Motti sind die Leitplanken, mit denen der Autor diskret zu seinen Prosagedichten hinführt. Deren scheinbare Vertrautheit und Vertraulichkeit erwächst aus dem vorrangigen Gebrauch der ersten Person, meistens „ich“, weniger häufig „wir“. Doch das erweist sich als eine Täuschung. Denn das lyrische beziehungsweise das erzählerische Ich ist eher ein Es, ein Man ohne eigene Statur und Stimme, namenlos, charakterlos, geschlechtslos, eine Kunstfigur, ganz aus Wörtern gemacht und nur in Sprache sich auslebend. „Ich glaube nicht“, so heisst es an einer Stelle, „dass ich rufen und meine Konturen ganz ausfüllen musste.“ Der Ruf genügt sich selbst, er will und braucht keine Antwort, weder Nein noch Ja.
Was hier Figur ist, kann anderswo Begriff sein. Oft lässt Showghi abstrakte Begriffe als grammatische Subjekte auftreten: Dann muss beispielsweise eine „Schwankungsbreite“ noch für eine Weile „warten“; eine „Windeseile“ kann „kommen“, ein „Fernsein“ ebenfalls; ein „Umschauen“ ist „in Gang zu halten“: „Ereignisfolge und eine Windeseile kommen ganz neu. Als Schulweg in die Jackentasche. An den Fingerkuppen, da sind die Nähte. Wenn ich die Hände nicht schon für den Unterricht herausgezogen habe und hinein in die nächste Bedeutung.“
Showghis anonyme erste Person setzt sich aus Versatzstücken der menschlichen Anatomie zusammen, aus ständig wiederkehrenden Wörtern wie „Kopf“, „Auge“, „Ohr“, „Mund“ (eine Nase gibt es nicht). „Womöglich sollte ich mir“, räsoniert sie, „die Freiheit nehmen für ein ganzes Gesicht.“ Dazu kommen „Schulter“, „Bein“, „Fuss“, vor allem aber „Hand“. Die Garderobe der Ich-Figur beschränkt sich auf ganz wenige alltägliche Kleidungsstücke, Jacke und Hemd haben klaren Vorrang, bisweilen ist von Schuhen die Rede, ein- oder zweimal kommt eine Hose vor; kein Hut, keine Mütze. „Gut aufgehoben weitere Willenszüge. Jetzt passt eher Gehölz zu uns. Wie der sanfte Schwung des Hangs. Lass uns von den nächsten Schritten wissen, noch einmal spürbar die Schuhe binden, mit den Füssen stimmt etwas.“
Offenbar kommt es dieser Person primär auf die Extremitäten an, auf jene äussersten Enden, die über den Körper, auch über das Ich hinaus auf die Dingwelt verweisen oder auf sie zugreifen. Der Gleichklang von „Enden“ und „Händen“ oder von „Hand“ und „Rand“ (öfter als „Kontur“, als „Umriss“ vorkommend) ist in Showghis Prosagedichten rekurrent, wie überhaupt Klangähnlichkeiten durchgehend zur Instrumentierung der Texte eingesetzt werden. So finden auch Hand und Klang leicht zusammen: „Mit Fichte und Rascheln, oder eine Länge zunächst, vorwiegend als Schilfgrasrispe, der Einfachheit halber, an dem nach links oben ragenden Halm. Nicht nennenswert die Stelle wechselnd, doch windbewegt und mit etwas im Einklang, das nur ein Stufengefälle gewesen sein muss. Hortensien schlagen ruhiger an. Die Hand wird grösser und wieder klein. Zu Geräuschen legt sich der Unterarm.“ Und ich? „Grabe und bleibe ganz Ohr an der Hand. Hinter der Hecke wird mein Armschwung geschnitten.“ Wo die „Hände“ sind, ist bei Showghi fast immer auch das „Ende“ nah: Da! „Ich kann schon erwidern“, gibt er zu lesen, „dass etwas Ränder wirft, tätig jetzt, am Ende der Hand, erst Antwort, ein Riss, nach oben hin dann zusehends gesprenkelte Wolke ist. Auch der Tisch hat den Rückblick auf seine Kontur bekommen.“
Innere Organe bleiben in Showghis Texten ausgespart – kein Gehirn, kein Magen, nur was gestalthaft oder gefühlsmässig in Erscheinung tritt, gibt dieser neutralen Ich-Gestalt eine vage menschliche Anmutung. Diese wird allerdings zusätzlich intensiviert durch eine stark ausgeprägte sinnliche Wahrnehmungskraft – Hören, Sehen, Spüren gewinnen hier eine autonome, gleichsam physische Präsenz, entsprechend der Redensart, dass jemand „ganz Aug“, „ganz Ohr“, „ganz Begehren“, „ganz Aufmerksamkeit“ sei. Demgegenüber tut das Subjekt nicht viel anderes, als dass es „geht“, lieber jedoch „sitzt“, oft „sich bückt“ oder „sich beugt“, zusieht, zuhört, zugreift.
Die räumliche Umgebung des Ich-Protagonisten besteht mehrheitlich aus unaufwendigen ländlichen Kulissen – Garten, Wiese, Feld, Weg, Zaun, Hecken, Bäume, Blumen, dahinter Hügel, darüber Wolken und hinter und zwischen ihnen die Sonne. Insgesamt ein schlichtes Setting, das unentwegt wiederkehrt, dabei nur leicht variiert, manchmal spezifiziert oder verfremdet wird durch den Einsatz von Neologismen, ausgefallenen Pflanzennamen und technischem Vokabular. Gelegentliche Kalauer („Hin- und Herbeeren“) oder Idiotismen („manche Bäume sind Lärchen“) lockern die holzschnittartige, ziemlich einförmige Szenerie und auch die extreme sprachliche Verdichtung auf, wo beides wegen allzu hoher Komplexität zu implodieren droht.

III
Liegt Zauber erst einmal auf der Hand, dann schon woanders, lässt sich dieser Vorsprung leicht mit Flurlicht verwechseln und gleich verlieren vor lauter Luft. Möglicherweise blicken wir nach allen Seiten, womit wir draussen von Neuem beginnen. Sehen rechts oben einige Fadenwolken, wie uns hier, in der entstandenen Situation. Wir bewegen Tee und Obst und was dazu passt: Unsere Sichtbarkeit und gerne Granatapfelkerne, Fragen zu Blume und Laubgrün vielleicht. Im Anschluss Zucker. Zucker als einzelnes Wort mitten im Garten. Der helle Schein kommt jetzt von der Sonne links oben. Und findet das Kind, das meine Hände, eine Weile auch mit einer Reichweite hat. Gerade huscht etwas. Ein Das da! weiter nach vorn. Hin zur vergehenden Zeit. In dieser entstandenen Situation.“
Der Grossteil von Showghis Leitwörtern kommt in dieser Textpassage zum Einsatz, die Gartenszene mit Blumen und Früchten und „lauter Luft“ (Lust!) und „oben einigen Fadenwolken“ bietet das stetig wiederkehrende, im Detail aber raffiniert und eigenwillig ausgemalte bukolische Idyll, in dem sich jederzeit das Unerwartete, Unerhörte ereignen kann – ein huschendes „Das da!“, das der Zeit entgegen läuft; Tee und Obst und plötzlich „unsere Sichtbarkeit und gerne Granatapfelkerne“ (gerne/Kerne), die dazu passen; oder das Wort Zucker, das unversehns „mitten im Garten“ steht, ohne etwas Bestimmtes zu bedeuten, dafür aber manches ahnen zu lassen. Usf.
Der Anschein oder Anklang des Unheimlichen, der in den meisten der vorliegenden Prosagedichte mitschwingt, geht auf die alogische Abfolge von simpleren Feststellungen und auf eine gewollt defekte oder falsche Syntax zurück, die zwischen den einzelnen Satzteilen oftmals Brüche und abgründige Lücken erkennen lässt. „Die Wörter verrutschten im gesprochenen Satz.“ Dadurch wird nicht nur die Verständlichkeit solcher Sätze oder Aussagen in Frage gestellt, sondern die Verlässlichkeit sprachlicher Kommunikation schlechthin. „Wenn die Distanz nicht zu weit wird, kitzeln gemeinsam Lidschlag und Stirn. Aber die Sonne scheint auf die Zunge. Schafft’s nicht gleich, nach Fingerblut zu schmecken. Felsgras kann Laute für sich behalten“, heisst es in einem Prosagedicht aus dem ersten Teil von Showghis Sammlung. „Und stehe ich dort, wo vorher nichts war, beginne ich den Vater zu sehen. Wie er sich hinlegt, die Hand dreht, auskommt mit der Länge der Decke und eigenen Wörtern. Tätiges Wohnen schwirrt mir durch den Kopf.“ Usf.
Wörter aus der heutigen Alltagssprache, jedes für sich durchaus verständlich, in dieser syntaktischen Vernetzung aber – reiner Nonsense. Doch Nonsense ‒ Unsinn ‒ braucht nicht nach seiner Aussage befragt, braucht nicht verstanden zu werden, vielmehr ist er ein stehendes Angebot für Leser und Hörerinnen, sich einen eigenen Reim darauf zu machen, also Eigensinn zu beweisen, über den Text hinaus und unabhängig vom Autor: Extrapolation statt Interpretation. Die damit „verbrachte Zeit“ ist sinnvoll verbrauchte Zeit.

Felix Philipp Ingold

„ein Beieinander eigener Worte sein“

Warum auch immer (vielleicht ist einfach Zauberei im Spiel?): Es fällt mir schwer, genau zu sagen, warum die Prosagedichte Farhad Showghis mir so sehr gefallen.
Das ist eine denkbar schlechte Voraussetzung, denn weder das Bekunden persönlichen Geschmacks noch das sich Berufen auf Magie sind in einer Rezension wirklich angebracht. So versuche ich es denn mit einer Beschreibung und beginne, der Einfachheit halber, von außen:
In verbrachter Zeit versammelt Prosagedichte, sehr kurze Texte, von denen keiner länger als eine halbe Seite ist, in drei Kapiteln: „Ich muss das meinem Vater erzählen“, „Neben Hecken, Häusern und Gras“, „In verbrachter Zeit“. Die Untertitel der Kapitel verleiten dazu, „verbracht“ nicht allein auf das Verbringen von Zeit zu beziehen: „Nach Tschaktschakuh“, „Nach Berbling“, „Nach Berne“. Und beides erweist sich als richtig. Zum einen haben die Texte tatsächlich den nach dem Titel erwartbaren resümierend-biographischen Charakter: Es ist immer wieder ein Ich, das in den Texten von sich berichtet, und das Ich, das hier spricht, tritt im ersten Teil als Sohn („ich muss das meinem Vater erzählen“) auf und ist im letzten selbst als ein Vater zu erkennen („Mein Sohn kommt mit“). Auf der anderen Seite ist der Sprecher aber selbst einer, der verbracht worden ist und sich an Orten findet, die es zu erkunden gilt. Auch hier zeigen die Kapitel wieder eine Entwicklung: Im ersten Teil ist die vorherrschende Bewegung die von einem Innenraum aus nach außen, im zweiten werden die Felder und Häuser weiträumig umkreist, im dritten dann gibt es eine Bewegung zurück in eine Behausung.
Die Art, in der dieses Erkunden mehr gezeigt als beschrieben wird, macht den großen Reiz der Texte aus: Es ist ein langsames Vorantasten über die eigenen Grenzen hinaus ins Unbekannte, das Showghi uns immer wieder vorführt:

Einzelheiten schienen beteiligt. Die streichende Luft. Und die Helle ist schon eine Erscheinungsform mit Stallrückseite, ein zweiter oder dritter Tag. Als gäb’s den zügigen Anfang. Warten heißt grünliches Geflacker in gewisser Entfernung. Im Handumdrehn Nackenhaar, Ohrrand, und etwas überrascht, aus hiesigen Gründen, wirken die Bewegungen. …

Dabei nimmt der Sprecher sich selbst häufig nur an der Grenze seines Körpers wahr, am Ohrrand, den Fingerkuppen und Fußspitzen, die sich vorsichtig nach vorn schieben.
Ebenso vorsichtig, wie in die ihn umgebende Welt der Äußerlichkeiten, tasten die Texte sich auch in die der Sprache. Showghi bedient sich einer eigenwilligen Sprache; er experimentiert, aber nicht aus Lust am Experimentieren, so scheint es: Das Experiment ist notwendig, weil alltagssprachliche Formulierungen nicht ausreichen:

Den Fingernagel, seine ganze Umrundung schauen wir an. Und was da draußen fährt, genau zeigt und aufragt, spielt im weiten Umkreis mit der Größe der Ereignisse. Das kann einen Nachsprung bewirken, die gelassene Distanz, mitunter ein anderes Aussehen. Ein halbes Gesicht links an der Mauer will ein alter Farbauftrag bleiben und die Frage: Wer ist wer? Die Quintessenz lautet: Immer langsamer noch Präsident. Diese Gewährleistung ist Gegenstand des schweifenden Blicks. Das Anschauen kommt jetzt nicht von ungefähr. Vieles kann zugesichert werden über einen Totpunkt hinaus. Wie die Präsenz der Schuhe oder der schwingenden Hand.

Showghi beherrscht seine Mittel: Assonanzen, Alliterationen, Rhythmus, all das wird behutsam und sicher eingesetzt. Dadurch erhalten die entstehenden Formulierungen eine suggestive Schönheit, („Gesungenes war beinahe Birke“ etwa) der ich mich bei der Lektüre nicht entziehen kann – und nicht entziehen will. Mehr noch: auch wenn sie sich der Verständlichkeit (im Sinne eines sich Berufens auf im Kopf des Lesers schon fertig vorliegende Bilder und Vorstellungen) widersetzen, wirken die Formulierungen, mit denen sich die Gedichte in die Welt hineintasten, richtig und passend. Die Texte sind also poetisch im alten und eigentlichen Sinne des Wortes – und man möchte sie am liebsten den Vertretern des immer mal wieder erhobenen Verständlichkeitspostulates in die Hand drücken, um ihnen den Blick zu weiten („Aber gehen wir doch, wo andere Richtungen infrage kommen“). Allen anderen sowieso.

Dirk Uwe Hansen, Signaturen, 28.3.2014

 

 

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Gerrit Wustmann: Von Innen nach Draußen nach Drinnen
fixpoetry.com, 16.4.2014

Fabian Thomas: Wenn wir plötzlich Orangensaft trinken, zusammenhanglos
fixpoetry.com, 13.5.2014

 

 

Farhad Showghi liest zur Leipziger Buchmesse 2014

Gespräch des Monats: Seilers ShortlistAm 17.2.2015 stellte er die von ihm gelobten Lyriker Thomas Kunst, Farhad Showghi und Nadja Küchenmeister in der literaturwerkstatt berlin vor.

 

 

KEINER HAT KOORDINATEN
Für Farhad Showghi

Die Elbe entspringt im Kaspischen Meer.
Sie fließt durch ein Gebirge
von Himmbeeren und Notizen
aus dem Armenien Mandelstams.

Ab und an die Jahrhundertflut
von Walnüssen bis ins norddeutsche
Tiefland, klackernd stoßen sie aneinander
und tuscheln: Alle Menschen
münden in Verbannung.

Salz und Sehnsucht – woraus
wir bestehen, wandert gegen den Strom
zurück in unsere Abwesenheit.

Hendrik Rost

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor
Porträtgalerie: Keystone-SDA
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Farhad Showghi liest „Wie oft muß ich in ein Zimmer gehen“.

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