Federico García Lorca: Dichter in New York

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Federico García Lorca: Dichter in New York

Lorca-Dichter in New York

DIE MORGENRÖTE

Die New Yorker Morgenröte
hat vier Säulen aus Morast
und Orkane schwarzer Tauben,
die in den Kloaken plätschern.
Die New Yorker Morgenröte
stöhnt auf endlos langen Treppen,
stöbert zwischen Häuserkanten
nach den Narden schemenhafter Angst.
Die Morgenröte kommt, doch kein Mund nimmt sie auf,
denn dort ist gar kein Morgen und keine Hoffnung möglich.
Die Münzen sammeln sich in räuberischen Schwärmen
und durchbohren gierig das Fleisch verlassener Kinder.
Die ersten, die hinausgehn, spüren in den Knochen:
kein Paradies wird kommen, kein Liebesblatt mehr fallen;
und sie erwartet ein Morast aus Zahlen, Normen,
fruchtloser Schweiß und Spiele ohne Kunst.
Schon ist das Licht begraben unter Lärm und Ketten,
schamlos bedroht von Wissen ohne Wurzeln.
Menschen wanken schlaflos durch die Straßen
wie eben erst entronnen aus blutig rotem Schiffbruch.

 

 

 

Meine Damen und Herren,

Jedesmal, wenn ich vor vielen Leuten sprechen muß, kommt es mir so vor, als hätte ich mich in der Tür geirrt. Freundliche Hände haben mich hineingeschoben, und da bin ich nun. Jeder zweite von uns irrt zwischen Vorhängen, gemalten Bäumen und Blechbrunnen umher, und wenn er glaubt, er stünde vor seinem Zimmer oder seinem kleinen Kreis aus warmen Sonnenschein, stößt er auf einen Kaiman, der ihn verschlingt, oder … auf das Publikum, so wie ich in diesem Augenblick. Und heute habe ich kein anderes Schauspiel zu bieten als eine bittere, aber lebendige Lyrik, und ich glaube, ich kann sie dazu bringen, unter meiner Peitsche die Augen aufzuschlagen.

Ich habe gesagt, „ein Dichter in New York“ und hätte doch sagen sollen „New York in einem Dichter“. Und dieser Dichter bin ich. Schlicht und einfach; ich habe zwar weder Geist noch Talent, aber ich bin fähig, durch einen trüben Schliff aus dem Spiegel des Tages zu entwischen, und das kann ich schneller als so manches Kind. Ein Dichter also, der in diesen Saal kommt und sich einbilden möchte, er sei in seinem Zimmer und ihr seid … Sie seien meine Freunde und alle geschriebene Lyrik treffe auf Augen, die dem dunklen Vers sklavisch folgen, und alle gesprochene Lyrik auf hörige, freundlich gesonnene Ohren, durch die das strömende Wort Blut in die Lippen und Himmel auf die Stirn des Hörers trägt.

Wie dem auch sei, wir sollten uns nichts vormachen. Ich bin heute nicht gekommen, um Sie zu unterhalten. Ich will es nicht, es läßt mich kalt, und ich habe auch gar keine Lust dazu. Ich bin vielmehr hier, um zu ringen. Um Körper an Körper mit einer ruhigen Masse zu ringen, denn ich werde keinen Vortrag halten, sondern Gedichte lesen, mein Fleisch und Blut, meine Freude und mein Leid, und ich muß mich verteidigen gegen diesen gewaltigen Drachen, vor dem ich stehe, der mich mit den dreihundert gähnenden Mäulern seiner dreihundert enttäuschten Köpfe verschlingen kann. Und darin besteht der Kampf; denn auf jeden Fall will ich mich mitteilen, da ich nun einmal gekommen bin, hier vor euch stehe, für einen Augenblick aus meinem langen dichterischen Schweigen aufgetaucht bin, und ich will euch keinen Honig geben, den habe ich nicht zu bieten, sondern Sand oder Schierling oder Salzwasser. Kampf Körper an Körper, und es ist mir egal, ob ich unterliege.

Wir sollten uns einig sein, daß eine der schönsten Haltungen des Menschen die des heiligen Sebastian ist.

Nun, bevor man Gedichte laut und vor vielen anderen Wesen rezitiert, muß man zuerst den Kobold um Hilfe bitte; nur so werden alle zurechtkommen, auch ohne die Hilfe ihres Verstandes und ohne kritischen Apparat, nur so werden sie die Schwierigkeit der Metapher in einem einzigen Augenblick bewältigen und der Stimme rasch genug nachjagen, um die rhythmische Gestalt des Gedichts zu erfassen. Denn die Qualität eines echten Gedichts erschließt sich nie in der ersten Lektüre, schon gar nicht bei der Art von Gedichten, die ich lesen werde; sie stecken voller poetischer Ereignisse, die einer ausschließlich lyrischen Logik gehorchen und als dichtes Geflecht über einer Grundlage aus menschlichem Gefühl und poetischer Architektur liegen; solche Gedichte sind nicht rasch aufzufassen, es sei denn mit der freundlichen Hilfe des Kobolds.

Ich jedenfalls, als Mensch wie als Dichter, habe ein großes Regencape, das Cape „selber schuld“, das werfe ich jedem über, der mir Erklärungen abverlangt – mir, der ich nicht erklären, sondern nur das Feuer stammeln kann, das mich verbrennt

Ich werde euch nicht sagen, wie New York von außen ist, denn New York und Moskau sind die beiden gegensätzlichen Städte, über die sich heute ein Strom beschreibender Bücher ergießt; ich werde auch keine Reise erzählen, sondern meine lyrische Reaktion in aller Aufrichtigkeit und Schlichtheit; Aufrichtigkeit und Schlichtheit, die dem Intellektuellen entsetzlich schwer-, dem Dichter jedoch leichtfallen. Schon um überhaupt hierherzukommen, mußte ich meine dichterische Scham besiegen…

Federico García Lorca, Auszug aus einer kommentierenden Lesung der New Yorker Gedichte

Nachwort

I. Ein unruhiges Textbündel

Eine Indiskretion brachte das meistgesuchte Manuskript der spanischsprachigen Welt ans Licht. Nach jahrzehntelangen philologischen Fahndungen, die zwar eine Fülle von Hypothesen, aber keinen Fetzen Papier zutage gefördert hatten, als die Hoffnung auf einen Fund schon begraben war, ja ernsthafte Zweifel laut wurden, ob ein solches Manuskript jemals existiert habe – da tauchte 1997 in mexikanischem Privatbesitz das verschwundene Autorenexemplar von Federico García Lorcas Dichter in New York auf. Es sah aus, wie Druckvorlagen nur bei Lorca aussehen: ein buntes Bündel Gedichte, teils maschinengeschrieben, aber voller handschriftlicher Veränderungen, teils ganz in der hastigen Handschrift des Dichters, teils als Druckseite, die aus einer Zeitschrift ausgeschnitten und wiederum von Hand weiter bearbeitet worden war; dazu eine Reihe von Platzhaltern, die sich zum Beispiel so lesen: „Das Gedicht Nummer zwei dieser Abteilung ist das ‚Lücken-Nocturne‘, das in Caballo Verde erschienen ist, das dritte hat Altolaguirre, und es heißt ‚Landschaft mit zwei Gräbern und einem assyrischen Hund‘, das fünfte ist ein Gedicht namens ‚Liebespaar von Rebhuhn ermordet‘, und es steht in einer Nummer der Valladolider Zeitschrift Dos. Man muß diese Zeitschrift suchen, denn ich habe das Original nicht mehr.“

Wozu die ganze Aufregung um ein seltsames Manuskript? Lorcas Dichter in New York war doch kein verschollenes oder verfemtes Buch. Der Band war in der Tat 1940 postum erschienen, und zwar gleich zweimal: ein Ausgabe (unter Federführung des Schriftstellers und Verlegers José Bergamín) im mexikanischen Verlag Séneca, der als Organ republikanischer Exilautoren gerade erst gegründet worden war, die andere, englisch-spanische, im New Yorker Verlag W.W. Norton. Der Text der beiden „Erstausgaben“ war allerdings keineswegs identisch: beide wiederum unterschieden sich von den Fassungen einiger New Yorker Gedichte, die Lorca zu Lebzeiten in spanischen und lateinamerikanischen Zeitschriften verstreut hatte. Welche Fassung war nun die authentische, repräsentierte den letzten Willen, die echte Handschrift des im August 1936 ermordeten Autors? Es waren beileibe nicht nur philologische Skrupel, die die Aufregung um das Manuskript von Dichter in New York nährten. Dessen Geschichte und die seines Autors sind  eng verknüpft mit den geschichtlichen Verletzungen Spaniens in diesem Jahrhundert, mit Bürgerkrieg und Exil. Die Suche nach der wahren Gestalt des Bandes hatte durchaus rituelle Züge: Philologie als Trauerarbeit. Mit dem Fund von 1997 endet nun, wie es scheint, ein Stück spanische Nachkriegszeit.

Ein Großteil der Gedichte, die Dichter in New York ausmachen sollten, entstand im Jahr 1929/1930 während eines New-York-Aufenthalts, an den sich ein Kuba-Besuch anschloß – im Studentenheim von Columbia University, in Hotels, auf Transatlantikdampfern. Lorca, ein Neurotiker der Druckerpresse wie nur jemals einer, zögerte die Veröffentlichung seiner neuen Lyrik lange heraus. Er zog es vor, sie in Spanien und Lateinamerika in Form einer kommentierten Lesung (die hier S. 213-226, erstmals in deutscher Sprache erscheint) vor eher kleinem Publikum zu erproben, gab von Zeit zu Zeit ein Gedicht zur Veröffentlichung an eine der Avantgardezeitschriften, die überall im Land aus dem Boden schossen, blühten und bald wieder welkten, und verschenkte im übrigen freigebig seine Manuskripte. Einzelne Texte wurden immer wieder umgeschrieben, Buchprojekte dauernd revidiert und in zahlreichen Interviews mehr oder minder pompös angekündigt. In den Jahren 1930 bis 1935 geisterten unter anderem die Titel Erde und Mond, Gedichte für die Toten, Einführung in den Tod und Dichter in New York durch die Presse – es ist unübersehbar, daß Lorca eine Zeitlang und für einen Teil der Gedichte an eine Art lyrischen Totenritus dachte.

Bis Ende 1935 hatte sich schließlich ein Buchprojekt herauskristallisiert, die verfügbaren Manuskripte waren ins reine getippt, und der Autor begann mit der Suche nach verlorenen oder verschenkten Entwürfen, die ebenfalls in den Band eingehen sollten. Vereinbart war die Veröffentlichung im Madrider Verlag Cruz y Raya, die Herstellung sollte der Dichter Manuel Altoguirre übernehmen, der zusammen mit seiner Frau Concha Méndez eine Druckwerkstatt betrieb, in der legendär gewordene Bücher und Zeitschriften wie Héroe und Caballo verde para la peesía produziert wurden. Irgendwann im Frühjahr 1936 hinterlegte Lorca im Büro von José Bergamín, dem Leiter von Cruz y Raya, ein Konvulut namens Poeta en Nueva York. Es war kein vollständiges, geschweige denn ein druckfertiges Manuskript, die endgültige Gestalt des Buches hätte man, wie es Lorcas Gewohnheit war, erst im Laufe der Herstellung fixiert, Dazu sollte es nicht mehr kommen. Mitte Juli ging der Autor nach Granada, wurde dort vom Putsch der Generäle überrascht und fiel dem zum Opfer, was man diskret „Repressalien“ zu nennen pflegt. Der Bürgerkrieg hatte begonnen. Lorcas Manuskript aber blieb im Büro von Cruz y Raya liegen.

Bergamín entfaltete, zunächst als Präsident der „Alianza de Intelectuales Antifascistas en Defensa de la Cultura“, später, nach der Niederlage, in der „Junta de Cultura Española“, eine frenetische politische Aktivität, die ihn zunächst mit der republikanischen Regierung nach Valencia, später nach Paris und schließlich ins mexikanische Exil führen sollte. Die Front rückte in den ersten Kriegsmonaten rasch auf Madrid vor, und Anfang November 1936 standen Francos Truppen in den Vororten Madrids. Die Stadt lag unter Artilleriefeuer und wurde bombardiert. Bergamín, der häufig in die von der Regierung verlassene Hauptstadt reiste, nahm Lorcas Manuskript schließlich mit nach Paris – alle Papiere des ermordeten Dichters schienen zu diesem Zeitpunkt von hohem propagandistischem Wert. Beinahe hätte das Buch als Poète à New York in Paris das Licht der Welt erblickt, die Pläne, für die sich unter anderem Paul Eluard stark machte, scheinen weit fortgeschritten gewesen zu sein. Ob das Projekt, wie Eluard meinte, an gewissen „Angriffen gegen den Papst“ (eine Anspielung auf das Gedicht „Schrei Richtung Rom“) oder schlicht an der Niederlage der spanischen Republik scheiterte, wird man nie erfahren. Von Poète à New York erschien jedenfalls nichts als ein Artikel Bergamíns in der Zeitung Vendredi (8.7.1938) mit einer nahezu vollständigen französischen Version von „Schrei Richtung Rom“, die vermutlich von Eluard stammte.

Schon vor dem Gang ins mexikanische Exil hatte Bergamín Kontakt mit dem New Yorker Verleger Norton aufgenommen und ihm eine Abschrift des Lorca-Konvoluts zukommen lassen, das den ersten englischen Übersetzer Rolfe Humphries fast zur Verzweiflung brachte. In Mexiko und New York begann die Jagd nach den fehlenden, vom Autor angezeigten Gedichten: keine leichte Aufgabe, denn der Kreis um Lorca war in alle vier Winde verstreut, einige Freunde gefallen, andere im Exil, wieder andere unerreichbar in Franco-Spanien. Bergamín leistete Erstaunliches. Am Ende fehlten in seiner Ausgabe nur zwei Gedichte: Kreuzigung, das erst in den 50er Jahren wieder zum Vorschein kam, und das Prosagedicht Liebespaar von Rebhuhn ermordet, von dem ohnehin niemand glauben konnte, daß Lorca es in den Band hatte aufnehmen wollen. Nachdem die beiden „Erstausgaben“ 1940 endlich erschienen waren, verschwand das Manuskript und blieb für ein halbes Jahrhundert unauffindbar, obwohl längst philologische Zweifel an der Gestalt von Dichter in New York laut geworden waren. Mit dem überraschenden Fund von 1997 sind diese Zweifel behoben – oder etwa nicht? Ein Blick auf das Manuskript zeigt auch, daß der Dichter in New York, so wie ihn Lorca aus der Hand gab, nicht endgültig fixiert war. Dazu kommt, daß diese Art Lyrik Kopisten und Setzer genauso überforderte wie die Herausgeber. So bleibt eine Reihe von Zweifeln – offene Stellen, an denen die Schriftspuren weiter in Bewegung sind und die Philologen weiterhin Gelegenheit haben, sich dem staubigen Eros der Manuskriptentzifferung hinzugeben. Ganz ist das unruhige Textbündel nicht zur Ruhe zu bringen; zu eng ist seine Überlieferungsgeschichte mit der spanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts verflochten, als daß deren Spuren ganz aus dem Buch zu tilgen wären. Auch haben die Irrwege des Exils den Gedichten nicht immer nur geschadet. Die Entdeckung der richtigen, autorisierten Lesart im Manuskript kann manchmal enttäuschend sein: Die „Dynamitmähnen“ des Gedichts Schrei Richtung Rom eine metaphorische Explosion wie aus Picassos Guernica entpuppten sich als „Dynamitmelonen“ (melenas – melones), eine eher konventionelle Metapher für Granaten, die die Spanier im Bürgerkrieg pepinos, Gurken, nannten.

Martin von Koppenfels, Aus dem Nachwort

 

„Lyrik zum Die-Pulsadern-Aufschneiden“ –

mit diesen Worten beschrieb Federico García Lorca seine New Yorker Gedichte, deren Drucklegung er hinauszögerte, bis es zu spät war, nämlich bis ins Jahr 1936, in dem er ermordet wurde. Der schließlich nach dem Ende des spanischen Bürgerkriegs erschienene Band Dichter in New York galt jahrzehntelang als eine Art pathologisches Intermezzo, eine vorübergehende Verdüsterung im Werk des andalusischen Dichters. Das hat sich gründlich geändert. Aus heutiger Sicht erscheint Dichter in New York in seiner Kompromisslosigkeit und seiner entfesselten bildlichen Phantasie immer noch als extremes Buch, das jedoch längst als Höhepunkt nicht nur innerhalb der spanischsprachigen Dichtung des 20. Jahrhunderts anerkannt ist. Getrost darf man diesen fremden Lorca, der in deutscher Sprache noch zu entdecken ist, den großen modernen Lyrikern an die Seite stellen. Dichter in New York erscheint zweisprachig, in einer neuen Übersetzung und endlich in seiner Urgestalt. Ein Anhang enthält Materialien, die zum Teil erstmals in deutscher Übersetzung erscheinen, darunter Lorcas eigenen Prosakommentar.

Suhrkamp Verlag, Ankündigung, 2000

 

Einsam in New York

– Dichter in New York von Federico García Lorca in neuer Übersetzung. –

Rund 70 Jahre nach Lorcas Amerika-Reise ist seine Gedichtsammlung in neuer Übersetzung erschienen. Ein Ereignis, das Bücher ausländischer Autoren nach gewissen Zeitspannen ereilt, um sie der modernen Sprache anzupassen. So selbstverständlich ging es bei Dichter in New York nicht zu. Heinrich-Enrique Beck, der Erstübersetzer, war mit der Aufgabe sprachlich überfordert und verfälschte den klaren Stil Lorcas mit seinen eigenen erfolglosen dichterischen Bestrebungen. „Mädchen“ wurden zu „Mägdelein“, „Erbrechen“ zu „Gespei“ und die „fette Frau“ zum „feisten Weib“. Dem Kopfschütteln von Übersetzern und Philologen folgte 1998, zum 100. Geburtstag des Dichters, eine Offensive von Siegfried Unseld. Der Verleger, Herr bei Suhrkamp und Insel, der seit 1963 die Lizenz innehat, stoppte die Beck’schen Übertragungen, gab zwei Gutachten in Auftrag, die den Dilettantenschwulst als „schweres Rezeptionshindernis“ qualifizierten und verklagte die Beck-Erben, die zäh an ihren Rechten festhielten. Das Frankfurter Landesgericht entschied den Fall Lorca zugunsten einer Neuübersetzung. Leser im deutschen Sprachraum kommen erstmals in den Genuss eines reinen, aber auch schwermütigen Lorca.

Die Reise nach New York und Kuba 1929 war für den Dichter eine Flucht. Ein Studium an der Columbia-Universität sollte dem 31-Jährigen Ablenkung bringen. Er war tief gekränkt durch den Spott des Malers Salvador Dalí und des Regisseurs Luis Buñuel, die seine Lyriksammlung Zigeuner-Romanzen als „abgedroschen“ verurteilten. Die Freunde aus Studententagen hielten die Verbindung von klassischen und folkloristischen Elementen, die dem Dichter über Nacht zu Weltruhm verholfen hatten, nicht mehr für zeitgemäß. Kurz zuvor hatten sie in Paris mit großem Erfolg den surrealistischen Film Ein andalusischer Hund gezeigt, den Lorca als Anspielung auf sich verstand.

Die in New York entstandenen Gedichte zeugen von der angespannten Gefühlslage und dem Kulturschock. Die Metropole erscheint als abschreckendes Chaos, als „eine Welt zerbrochener Flüsse und unfassbarer Entfernungen“ wie es in „New York (Büro und Anklage)“ heißt. Entsetzt rechnet der Naturverbundene die Schattenseiten der Moderne auf: Millionen geschlachteter Tiere, Transporte „mit gefesselten Rosen, / die aufs Konto der Parfumgroßhändler gehen“, Entfremdung und Kälte. Er klagt gegen eine gigantische Vernichtungsmaschinerie und bietet sich an „als Futter für die zermalmten Kühe, / wenn ihre Schreie das Tal erfüllen, / wo der Hudson sich an Öl besäuft“. Die Reiseeindrücke dienen als Auslöser für eine Bilanz über das Dasein überhaupt. Die Folgen des Börsenkrachs, die erdrückende Architektur und das menschliche Leid, das Lorca in diesem Ausmaß nicht kannte, potenzieren die düstere Stimmung des geplagten Dichters, der sich inmitten einer verrohten Welt sieht. Alltägliche Dinge verwandelt er in beklemmende Visionen. In „Vom Spaziergang zurück“ heißt es:

Stolpernd über mein täglich wechselndes Gesicht.
Vom Himmel umgebracht!

Die Unvereinbarkeit von Mensch, Technik und Natur gehört bei dem fast prototypischen Werk der modernen Lyrik zum Grundtenor. In zehn Kapiteln tastet das lyrische Ich ähnlich einem Scheinwerfer die verschiedenen Bereiche des Lebens ab: Kindheit, Freundschaft, Liebe, Zusammenleben, Zukunft. In „Der König von Harlem“ zeigt er sein Mitgefühl für die unterdrückte schwarze Bevölkerung. Aussichtslosigkeit und Wut über seine Zwangslage als Homosexueller kommen in der „Ode an Walt Whitman“, einem Dichter, der in den 20er Jahren in Madrid gefeiert wurde, zum Ausdruck. Heiterer und beschwingter geht es in „Kleiner Wiener Walzer“ zu, den Leonard Cohen vertonte. Die Stimmung wechselt von himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt. „Einführung in den Tod“ heißt das sechste Kapitel über seinen Abstecher nach Vermont, dessen Titel Lorca für die gesamte Sammlung erwog.

In einem dichten Geflecht aus Metaphern, die in der spanischen Lyrik Tradition haben, bringt er Phantasie, Träume, Gefühle, Erinnerungen und Alltag zusammen. Er spielt mit Klängen, Farben und Formen, mal hymnisch, mal in freiem Rhythmus. Lorca arbeitet nach einem Verfahren, das er von seinen surrealistischen Freunden her kannte. Die einzelnen Gedichte sind fast hermetisch, der Zugang erfolgt gefühlsmäßig. Für Lorca beschreiben sie „New York in einem Dichter“, und er bietet seinem Publikum „Sand oder Schierling oder Salzwasser“. Im Unterschied zu seinen vorherigen Werken fehlt in Dichter in New York jeglicher Humor.

Für seinen Verleger José Bergamín, dem Lorca das Manuskript zur Veröffentlichung überließ, porträtiert er sich „wie ein Selbstmörder“. Fast scheint es, als hätte er sein eigenes Schicksal vorhergesehen. In der „Fabel von den drei Freunden“ schreibt er:

Sie durchkämmten Cafés und Friedhöfe und Kirchen
Sie öffneten Tonnen und Schränke.
Sie zerstörten drei Skelette, um ihr Zahngold auszubrechen.
Sie fanden mich nicht mehr.
Sie fanden mich nicht?
Nein, sie fanden mich nicht.

Der Dichter wurde von den Aufständischen Francos zu Beginn des spanischen Bürgerkrieges umgebracht. Seine Leiche wurde nie gefunden.

1940 erschien Dichter in New York posthum im mexikanischen Exil, parallel zu einer englischen Ausgabe beim New Yorker Verleger Norton. Erst in den 70er Jahren wurde bemerkt, dass die beiden Erstausgaben nicht identisch sind. Das Originalmanuskript tauchte 1997 durch Zufall in Mexiko auf und diente Martin von Koppenfeld als Grundlage für die Neuübersetzung, der aus dem „unruhigen Textbündel“ eine lesbare Fassung machte.

Sabine Kaldemorgen, luise-berlin.de, August 2001

Totentanz am East River

– Federico García Lorcas Gedichte über New York. –

Federico García Lorcas posthum erschienenes Buch Dichter in New York gehört zweifellos in die Reihe moderner Klassiker zusammen mit T.S. Eliots Waste Land, Ezra Pounds Cantos, Ossip Mandelstams Rauschen der Zeit, Bertold Brechts Hauspostille und Pablo Nerudas Aufenthalt auf Erden. Der eklatante Unterschied dieses Klassikers moderner Dichtung, das Besondere liegt im Aufeinanderprallen verschiedener Kulturen: die Sonne Andalusiens mit dem Moloch der New Yorker Wall Street.

Dichter in New York ist das Ergebnis eines Kulturschocks, den der Andalusier in New York erlebt. Lorca ist, als er 1929 nach New York reist, ein in Spanien gefeierter junger Dichter. Sein 1928 erschienener Romancero Gitano brachte den großen Publikumserfolg. Der New York Aufenthalt soll dazu dienen, Englisch zu lernen, einen Beruf zu finden, Geld zu verdienen, vielleicht als Lektor für Spanisch, wie Freunde vor ihm, die dann zurück in Spanien Anstellungen an Provinzuniversitäten fanden. Am 8. August 1929 schreibt García Lorca an seine Eltern in Granada: „Ich beginne hier etwas (sehr wenig) zu verstehen und auch zu schreiben und glaube es lohnt sich.“ Die Briefe aus New York verschleiern die tiefe Krise, die Lorca durchlebt. Doch von ihr sprechen die Gedichte. Lorca ist an der Columbia University eingeschrieben. Die ersten Gedichte sind betitelt mit Gedichte aus der Einsamkeit der Columbia University. Sie verweisen auf eine starke Abwehrreaktion: Regression. Der Schock war so groß und die Einsamkeit so unheimlich, dass Lorca zunächst nicht über New York schreiben kann, sondern den Rückzug in die Kindheit antritt.

Die persönliche Krise Lorcas verknüpft sich mit der ästhetischen Krise. Sein dichterischer Erfolg in Spanien war durch die Kritik insbesondere seiner Freunde Salvador Dalí und Luis Buñuel stark getrübt. Beide hatten nun in Paris in surrealistischen Kreisen Aufsehen erregt, vor allem mit jenem neuen Film, der einen sehr merkwürdigen Titel trug: Ein andalusischer Hund. War er damit gemeint? Und die ästhetische Krise Lorcas ist verbunden mit der sexuellen Krise: seiner Homosexualität. Wieder sind es die Gedichte, die die Einschätzung wiederlegen, Lorca habe das New York der Roaring Twenties als sexuelle Befreiung vom katholisch konservativen Spanien erlebt. Denn, obwohl die New Yorker bürgerliche Gesellschaft im Umgang mit Homosexuellen sich liberal gebärdete, bekam ein ernsthafter, intellektueller Homosexueller wie Lorca die ganze Repression zu spüren. In Anlehnung und Auseinandersetzung mit Walt Whitman findet Lorca eine Lösung für seine ästhetische und sexuelle Krise. Die Ode an Walt Whitman beginnt so:

Am East River und in der Bronx
sangen die Jungen und zeigten ihre Lenden
zwischen Öl und Rad, zwischen Leder und Hammer.
Neunzigtausend Bergleute schlugen Silber aus dem Fels,
und Kinder zeichneten Leitern und Perspektiven.

Im freien Vers:

New York, du Morast,
New York gebaut aus Draht und Tod.
Was für eine Engel verbirgt sich in deiner Wange?
Welche Stimme wird makellos die Wahrheit des Weizens verkünden?
Wer den furchtbaren Traum deiner schmutzigen Anemonen?

Schockierend und unvorstellbar muss für den Andalusier Lorca das Fehlen von Natur gewesen sein. Er findet „das blaue Paradies“ ersatzweise in der schwarzen Kultur von Harlem. „Was ich betrachtete und durchstreifte und erträumte, war das große schwarze Harlem, die wichtigste Stadt der Schwarzen weltweit“, schreibt er später in dem Vortrag Ein Dichter in New York (der hier erstmals auf deutsch vorliegt). Früher am 8. August berichtet er seiner Familie: „Ich habe zu schreiben begonnen. Es sind typisch nordamerikanische Gedichte und in fast allen geht es um Schwarze.“ Lorca lernte bereits kurz nach seiner Ankunft die schwarze Schriftstellerin Nella Larsen kennen, die ihn in die Clubs von Harlem einführt und zu Gottesdiensten mitnimmt. Lorcas Begegnung mit schwarzer Musik- und Performancekultur unterscheidet sich von der Entdeckung des Jazz seitens Pariser Intellektueller und der „Negrophilie“ seitens der künstlerischen Avantgarde eines Apollinaire oder Picasso, denn er sitzt an der Quelle mitten in Harlem. Am 5. August entsteht die erste Version der Ode auf den König von Harlem. In der siebten von sechsunddreißig in freiem Vers geschriebenen Strophen hießt es:

Ach, Harlem, Harlem, Harlem!
Es gibt keine Angst, die deiner unterdrückten Röte gliche,
deinem Blut, das in der Sonnenfinsternis erschauert,
deinem Wüten, taubstumm, glühend wie Granat im Zwielicht,
deinem großen gefangenen König in seiner Pförtnerlivree.

Dichter in New York ist von Lorca in der vorliegenden Form nicht konzipiert worden, doch sollte es ein lyrischer Gegenentwurf zu der erfolgreichen kursierenden Reiseliteratur über Moskau und New York werden. In seinem Vortrag erklärt Lorca:

Ich werde euch nicht sagen, wie New York von außen ist, denn New York und Moskau sind die beiden gegensätzlichen Städte, über die sich heute ein Strom beschreibender Bücher ergießt; ich werde euch keine Reise erzählen, sondern meine lyrische Reaktion.

Die Wall Street ist die von Menschen geschaffene Anti-Natur. Lorca fasst die Hybris der Moderne New Yorks in den Wolkenkratzern, die den Himmel verdecken. Er kommentiert:

Nichts ist poetischer und schrecklicher als der Kampf der Wolkenkratzer mit dem Himmel über ihnen. Schneegestöber, Regenschauer und Nebel untermalen, befeuchten, verwischen die riesigen Türme, diese aber blind für jedes Spiel, nichts ausdrückend als ihre kalte, jedem Geheimnis feindliche Intention, kappen dem Regen die Haare oder lassen ihre dreitausend Schwerter durch den weichen Schwan des Nebels scheinen.

Als Lorca entdeckt, dass das „gewaltige Heer der Fenster“ nicht zum Blick nach außen auf Himmel und Wolken, das Meer gedacht sind, verfasst er: Gedicht: vom Himmel umgebracht.

Gewaltig ist auch der Schock in der Begegnung mit der Menschenmasse in New York. 1932 kommentiert er: „Niemand kann sich eine klare Vorstellung davon machen, was eine New Yorker Menschenmenge ist“, doch „Walt Whitman wußte es und Eliot, der sie wie eine Zitrone auspreßt, um verletzte Ratten, nasse Hüte und Schatten am Fluß aus ihr herauszuquetschen.“ Lorcas lyrische Reaktion schlägt sich in dem Titel nieder: Landschaft mit Menschenmenge, die sich erbricht. 1929 erlebte Lorca unmittelbar den Börsenkrach an der Wall Street. In einem Brief nach Hause beschreibt er, wie er über Stunden die Menge vor der Stock Exchange beobachtet habe: kreischende Männer und Frauen, Ohnmachten, Ambulanzen, aus Hotelfenstern springende Selbstmörder. Das Gedicht Totentanz entsteht unter den Eindrücken des Börsenkrachs. Im Januar 1930 berichtet er „Ich schreibe einen Gedichtband mit New Yorkinterpretationen, die auf meine Freunde hier enormen Eindruck machen. Ich dagegen halte sie für blaß im Vergleich mit den Dingen, die symphonisch wirken etwa die Geräusche und die Komplexität New Yorks.“

Im selben Brief bittet er die Eltern, ihm das Manuskript eines vor Jahren gehaltenen Vortrags über die als „cante jondo“ bekannte, von Gitanos gesungene andalusische Musik zu schicken, um ihn zu überarbeiten.

Es ist ein sehr wichtiges Thema und ich will es als Polemik, erst in Kuba, wo ich im März eingeladen bin und später in Spanien präsentieren.

Die Begegnung mit New York, das Erleben von schwarzer Kultur der Spirituals, des Jazz und Blues, die Arbeit an den New Yorker Gedichten bringen den neuen Vortrag Spiel und Theorie des Duende hervor. Er begründet die neue Poetik Lorcas. Duende ist das „spanisch surreale“, die Gabe, die einzig Stierkämpfer, Tänzer/innen, Sänger/innen und eben auch Dichter besitzen. Duende ist das dritte Element der Poetik, neben dem „Engel“ und der „Muse“ aus der Poetik der Avantgarde. Völlig absurd wird duende vom Übersetzer mit Kobold wiedergegeben. Auch an anderen Stellen gewinnt das großartige Unternehmen der vollständigen Neuübersetzung nach dem Manuskriptfund in Mexiko 1997, die beiden posthumen spanischen Ausgaben von 1940 durchzukämmen, zu korrigieren und „authentischer“ zu gestalten zwar aus philologischer Warte, aber weniger im feeling, etwa wenn das spanische ay! penetrant mit ach! eingedeutscht wird.

Der Gedichtband schließt mit der Flucht aus New York. Lorca verabschiedet sich aus der apokalyptischen Moderne New Yorks mit zwei Gedichten: Zwei Walzer in Richtung Zivilisation. Die Zivilisation ist Kuba: Ankunft des Dichters in Havanna. Kuba, das ist der „Son der schwarzen Kubaner“. Lorca kehrt nach 9 Monaten nach Spanien zurück, kurz vor Beginn der „Zweiten Republik“. Er schreibt ein Theaterstück nach dem anderen, wird zum produktivsten und erfolgreichsten Theaterautor Spaniens. Er baut die „universitäre Theatergruppe“ auf, wird ihr Regisseur. Das ist für spanische Bühnen eine Neuheit. Lorca hält Vorträge, denn er weiß zu gut, dass das spanische Publikum vorbereitet werden muss auf Neuerungen wie moderne Dichtung. Lorca ließ sich Zeit mit der Herausgabe seiner New Yorker Gedichte. Der Putsch überraschte ihn, er wurde 1936 von Falangisten ermordet.

Ellen Spielmann, Der Freitag, 15.2.2002

New York in einem Dichter

– Federico García Lorcas Dichter in New York neu übersetzt. –

Lorcas lange verschollenes Manuskript zum Dichter in New York tauchte 1997 in Mexiko auf; über sechzig Jahre waren vergangen, seit er es – kurz vor seinem Tod – bei einem Freund und Verleger in Madrid hinterlegt hatte. Bergamín war es denn auch, der den Gedichtband 1940 erstmals im Exil publizierte. Den überraschenden Fund hat der Suhrkamp-Verlag zum Anlass genommen, eine zweisprachige Fassung in einer neuen deutschen Übersetzung von Martin von Koppenfels herauszugeben.

Nehmen wir vorweg, dass der Vergleich mit dem Original am bisherigen Bild des Dichter in New York wenig ändert. Der nun erschienene Poesieband kommt aber doch einer Neuentdeckung gleich, insofern als er dem deutschsprachigen Publikum einen entstaubten und transparenten Lorca präsentiert, der weit weniger gestelzt und rhythmisiert daherkommt als noch bei Enrique Beck – dem jahrzehntelang allein berechtigten Übersetzer –, auch wenn Koppenfels im Bemühen um einen natürlichen Sprachduktus da und dort zur Ausdeutschung von knappen Sprachsequenzen tendiert.

Alltägliche Hölle
Das heftige und düstere Buch, das Lorca während seines Aufenthaltes in New York und Kuba 1929/30 schrieb, ist durchzogen von der Einsamkeit und Entfremdung des Individuums, das einer Welt des erbarmungslosen Fortschritts und der sozialen Ungerechtigkeit ausgeliefert ist. „Es ist nicht die Hölle, sondern die Strasse. / Es ist nicht der Tod, sondern nur der Obststand“: Wo der Profit als höchster Wert am Himmel hängt, liegt die Hölle alltäglich auf der Strasse.

„Eine Welt zerbrochener Flüsse und unfassbarer Entfernung“ ist auch jene des Poeten, der „ich“ sagt und sich dennoch seiner Machtlosigkeit bewusst ist („Ich, ein Dichter ohne Arme, verirrt / in der Menge, die sich erbricht“). Er tritt hier nicht auf als Instanz, die Welt erschafft oder sich einverleibt, sondern als einer, der sie erleidet. Unschuld und ferne Kindheit werden endgültig verabschiedet, und aus der Trauer um den Verlust eines Ortes der Ganzheit steigen die allgegenwärtigen Schatten des Todes. Pablo Neruda hatte Lorca als Überschrift für den Gedichtzyklus „Einführung in den Tod“ vorgeschlagen.

Sprachlich spiegelt sich die Zerrissenheit in der Unmöglichkeit des erhabenen Dichtergesangs, in der Brechung der Sprachregister, in surrealen Bildcollagen, im Verzicht auf Reim und streng geregeltes Versmass und in der weitgehenden Abwendung von der Romanzendichtung, die Lorca 1928 mit dem „Romancero gitano“ einen so populären Erfolg – und die ebenso harsche Kritik einiger Freunde – beschieden hatte, dass er sich missverstanden fühlen musste und in einer tiefen Schaffenskrise, gepaart mit Liebeskummer, nach New York floh. Abschied, Kulturschock und neue Freiheit – die Distanz zu seiner Heimat ermöglichte dem 31-jährigen Andalusier die Auseinandersetzung nicht nur mit neuen Dichterformen, sondern auch mit seiner Homosexualität, der er in seinem Schreiben erstmals Ausdruck verlieh.

Reisebericht
Zurück in Spanien überarbeitete, ordnete und betitelte Lorca seine Gedichte immer wieder neu und zögerte mit deren Herausgabe. Schliesslich entschied er, diese Texte – mit provokativen Titeln wie „Landschaft mit urinierender Menschenmenge“ – in ein möglichst harmloses Genre einzubinden, und wählte dafür die Form des Reiseberichts. Das Buch folgt chronologisch den Stationen von Lorcas Aufenthalt und sollte ausserdem mit Fotos illustriert werden, worauf die vorliegende Edition bewusst verzichtet (dagegen sind im Anhang die verschiedenen Textvarianten der einzelnen Gedichte aufgeführt). Diese widersprüchliche Beziehung zwischen Konvention und poetischer Radikalität tritt schon in Lorcas Rede hervor, die er 1931 und 1935 zum Dichter in New York hielt und die hier erstmals in deutscher Sprache zu lesen ist. Einerseits bettet er die lyrischen Texte in einen Spaziergang durch New York ein, anderseits betont er: „Ich bin heute nicht gekommen, um Sie zu unterhalten, [sondern] um zu ringen“, und zwar mit dem „gewaltigen Drachen“, dem Publikum. Jenes hingegen, einmal eingetreten in die „bittere, aber lebendige Lyrik“, kehrt aus der Dichterstadt nicht unversehrt zurück.

Rita Catrina Imboden, Neue Zürcher Zeitung, 17.5.2001

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Hans Ulrich Gumbrecht: Präsenz. Gelassenheit. Über Federico García Lorcas „Poeta en Nueva York“ und die Schwierigkeit, heute eine Ästhetik zu denken
Merkur, Heft 594/595, September 1998
(zur Ausgabe „Poeta en Nueva York“)

 

Rudolph Kieve: Federico García Lorca, Merkur, Heft 44, Oktober 1951

Jorge Guillén: Federico García Lorca, Merkur, Heft 175, September 1962

Hans-Jürgen Heise: Ein Andalusier wie kein anderer

Hans-Jürgen Heise: Lorca zwischen Granada und dem Kulturbetrieb

Hans-Jürgen Heise: Die Mörder waren keine Zivilgardisten. Dossiers zum Tod Federico García Lorcas.

Peter Jungblut: Darum wird im Mordfall García Lorca nicht mehr ermittelt

 

 

QUIDPROQUO
variationen auf ein thema von federico garcia lorca

welche mühe für einen mann, keine frau zu sein,
und welche mühe für eine frau, keine frau zu sein.
welche mühe für eine frau, ein mann zu sein,
und welche mühe für einen mann, kein mann zu sein.

und die frau: spürt sie den mann in sich wachsen?
und der mann: spürt er die frau sich entfernen?

die ferne aber wird sie die sehnsucht in liebe verwandeln?
die verwandlung „den frieden der liebenden“ schützen?

und welcher leichtsinn der alten, ihre tage zu zählen.
und welche weisheit der jungen, sich für unsterblich zu halten.

*

und ich?
welche mühe, da zu sein, wenn du nicht bist.
und welche mühe, ich zu sein, wenn du da bist.

und du?
bist du jemals über deinen schatten gesprungen,
wenn seine sonne unterging?

und er? wird er das verstehen?
und sie? hört sie überhaupt zu?

*

und garcia lorca: welche mühe für garcia lorca,
zu den elementen zurückzukehren…

zum wasser: welche mühe des wassers,
an sein gedächtnis zu erinnern;

zum feuer: welche list des feuers,
aus der glut wieder aufzuflammen;

zur erde: welche mühe der erde,
das getrommel der schritte zu überhören;

zur luft: welche list der luft, unsichtbar zu bleiben.

Daniele Dell’Agli

 

 

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer

 

Zum 25. Todestag des Autors:

Salomé Kestenholz: Federico Garcia Lorca
Die Tat, 19.8.1961

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Sylvia M. Patsch: Die Stimme aus dem Innersten
Die Furche, 4.6.1998

Zum 85. Todestag des Autors:

 

 

Zum 125. Geburtstag des Autors:

Jens Grandt: Das andalusische Genie
nd, 4.6.2023

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + ErinnerungenIMDb +
Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA


Federico García Lorca – Porträt, Teil 1/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 2/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 3/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 4/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 5/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 6/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 7/7.

2 Antworten : Federico García Lorca: Dichter in New York”

  1. Hella-Maria Schier sagt:

    Die Gedichte von Garcia Lorca besitze ich in einem Sammelband von Suhrkamp und lese immer mal wieder gerne darin.
    Sehr gerne aber hätte ich einen deutsche Übersetzung seines Textes über die Theorie des Duende! Ich konnte leider keine finden, nur eine englische Variante. Gibt es denn keine deutsche? Es ist doch ein wichtiger Text! Wenn doch, können Sie mir sagen, wei ich daran komme?

    mit freundl. Grüßen
    Hella-Maria Schier

    • Redaktion sagt:

      Leider können wir ihnen keine Auskunft geben, wo sie den gewünschten Text in Deutsch finden können. Wir vermuten, er ist noch nicht erschienen. 2010 ist eine englische Ausgabe erschienen. Vielleicht weiß ein anderer Leser des Planeten genaueres.

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