Federico García Lorca: Die Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Federico García Lorca: Die Gedichte

Lorca-Die Gedichte

KASSIDE VON DEN ZWEIGEN

Durch die Baumalleen des Tamarit
sind die Hunde aus Blei gekommen
in Erwartung, daß die Zweige fallen,
in Erwartung, daß sie sich allein zerbrechen.

Im Tamarit gibt’s einen Apfelbaum,
der einen Apfel hat aus Schluchzen.
Eine Nachtigall dämpft nun die Seufzer,
und ein Fasan verscheucht sie durch den Staub.

Doch die Zweige, die sind fröhlich,
und die Zweige sind wie wir sind.
Denken an den Regen nicht, sind unversehens
eingeschlafen, wie wenn sie Bäume wären.

Sitzend, mit dem Wasser an den Knien,
warteten zwei Täler auf den Herbst.
Die Dämmerung mit Elefantenschritt
stieß die Zweige und die Stämme.

In den Baumalleen des Tamarit
gibt’s mit wachem Antlitz viele Kinder,
wartend drauf, daß meine Zweige fallen,
wartend, daß sie sich allein zerbrechen.

 

 

 

Mit Fug und Recht kann man ihn einen Mythos nennen,

den bekanntesten spanischen Lyriker und Dramatiker des 20. Jahrhunderts: Federico García Lorca (1898-1936). Zu diesem Mythos haben nicht nur die Themen, die sein Werk bestimmen – der Flamenco, die Zigeuner oder die Stadt New York – beigetragen; ebenso faszinierend ist die Vielseitigkeit seines Werks, in dem in der Dramatik das experimentelle Theater neben der realistisch-prosaischen Tragödie steht, während in seiner Lyrik sowohl das impressionistische Gedicht wie auch eine kühne, sich der Interpretation verschließende Bildersprache Platz finden. Prägend für den Mythos Lorca war schließlich auch die schillernde Persönlichkeit des Dichters sowie die Tatsache, dass er kurz nach Ausbruch des Bürgerkriegs von Falangisten ermordet wurde und sein Werk in Francos Spanien verfemt war.
Diese Edition ist eine Neuauflage von Heinrich Enrique Becks lange vergriffener Übersetzung der Gedichte Lorcas, die den andalusischen Dichter im deutschsprachigen Raum bekannt machte. Die zweisprachige Ausgabe lädt ein zu einer Re-Lektüre der wirkungsmächtigen, über ein halbes Jahrhundert einzig autorisierten Übertragung des Lorca’schen Werkes.
Der Anhang bietet kurze Einführungen zu den einzelnen Gedichtzyklen, Kommentare zur Beck’schen Übersetzung sowie Nachwort und Register.

Wallstein Verlag, Klappentext, 2008

 

Lorca in Mogelpackung

– Der Wallstein-Verlag mit einer fragwürdigen Lyrikedition. –

Der Ärger mit den Übersetzungen Lorcas ins Deutsche durch Enrique Beck nimmt kein Ende. Es sind soeben im Auftrag der Heinrich-Enrique-Beck-Stiftung in Basel zwei Bände erschienen mit der stolzen Ankündigung: „Federico García Lorca: Die Gedichte. Spanisch – Deutsch“, so zu lesen auf der Manschette und auf den Schutzumschlägen. Erst auf dem Titelblatt steht die Wahrheit: „Ausgewählt und übertragen von Enrique Beck“, und damit wird der Etikettenschwindel erkennbar. Denn „Die Gedichte“ verheisst eine Ausgabe sämtlicher Gedichte, während von den rund 550 Titeln in den echten Gesamtausgaben Lorcas hier nur gerade die von Beck ausgewählten 203 stehen. Der Vorwurf trifft nicht ihn, denn bei seinem Tod (1974) waren beispielsweise die von Lorca nachgelassenen 181 „Suites“ aus den Jahren 1920–23 noch gar nicht zugänglich, so wenig wie die 11 „Sonette der dunklen Liebe“ und andere Texte mehr. Die finanzierende Beck-Stiftung hatte gegen diesen Titel natürlich keine Einwände, mag ihn sogar angeregt oder gefordert haben, doch dass ein sonst seriöser Verlag wie Wallstein in Göttingen sich dazu hergibt, ist doch sehr befremdlich.

Alte Querelen, neu aufgelegt
Hinzu kommt, dass mit dieser Publikation die alten Querelen um die Qualität der Beckschen Lorca-Übersetzungen eine unerwartete und unnötige Fortsetzung erfahren. Vollmundig wird auf dem Klappentext verkündet, die Neuausgabe lade ein zu einer Re-Lektüre der wirkungsmächtigen, über ein halbes Jahrhundert einzig autorisierten Übertragung des Lorcaschen Werkes. In der Tat haben die von 1938 bis 1982 erschienenen Ausgaben Becks mächtig gewirkt, sehr zum Verdruss der Fachleute und der Erben Lorcas, denn sie haben das Lorca-Bild im deutschen Sprachraum nicht nur nachhaltig geprägt, sondern eben auch verzerrt. Beck war in den Besitz eines exklusiven Rechts auf die deutsche Übersetzung aller Lorca-Texte gelangt, und er hat es ebenso eifersüchtig gehütet wie nach seinem Tod die Beck-Stiftung. Aus Anlass des hundertsten Geburtstags des Dichters (1998) hatte sich der Suhrkamp-Verlag in Frankfurt am Main entschlossen, aus Protest gegen dieses Monopol den „Fall Lorca“ öffentlich zu machen. Die Fachgutachten, wie schon viel früher die Urteile mancher Hispanisten, sind für Beck vernichtend ausgefallen.
Harald Weinrich schreibt in seinem Gutachten unumwunden: „Wer Lorca bisher nur in der Beckschen Übersetzung kennengelernt hat, kennt diesen Autor noch nicht“, und Hans Magnus Enzensberger meint voller Hohn, Lorca sei in dem Beckschen Deutsch zu „einer Art Zigeunerbaron aus Granada“ geworden. Er monierte ferner, mit der „Privatisierung eines Autors“ müsse endlich Schluss sein, und meinte, unabhängig von der juristischen Lage gebe es auch das „moralische Urheberrecht“. Suhrkamp sperrte fortan die Auslieferung der Beckschen Übersetzungen. Die Beck-Stiftung lenkte im Jahr 2000 ein und liess auch andere Übersetzer von Lorca-Texten zu.
Die Chance wurde verschiedentlich genutzt. Schon 1990 hatten Rudolf Wittkopf und Lothar Klünner den „Diwan des Tamarit“ neu übersetzt, 1999 folgte Enzensberger mit „Bernarda Albas Haus“, danach 2000 Martin von Koppenfels‘ „Dichter in New York“ und 2002 die „Zigeunerromanzen“, 2007 kamen auch die „Stücke“ in der neuen Version von vier renommierten Übersetzern heraus, dies alles und anderes mehr bei Suhrkamp, der sogar die alten Beck-Ausgaben wieder im Katalog führt, korrekterweise als „Gedichte“ betitelt, nicht als „Die Gedichte“ wie bei Wallstein. Auch der Reclam-Verlag in Stuttgart hat 2007 eine zweisprachige kommentierte Auswahl von Lorca-Gedichten veröffentlicht.
So weit, so gut? Die Buchhändler reiben sich die Augen: Kommt ein Kunde und verlangt eine deutschsprachige Ausgabe beispielsweise der „Zigeunerromanzen“, so muss der Verkäufer wählen zwischen vier verschiedenen Editionen. Vielleicht empfiehlt er dem Kunden die neuste, zudem die vermeintlich vollständige, die von Wallstein. Erst auf Seite 663 erfährt der Kunde dort, dass es sich um einen Reprint der Insel-Ausgabe von 1982 handelt, diesmal ergänzt durch die spanischen Originaltexte.

Unstimmigkeiten
Doch damit taucht das nächste Problem auf: Die zitierten Originale haben die Herausgeber der zurzeit besten Lorca-Ausgabe entnommen, der von Miguel García-Posada (Barcelona 1996). Indes, Enrique Beck hat grosse Teile dieser Originale gar nie in dieser endgültigen Fassung gesehen. Wir lesen also die unveränderten alten Übersetzungen Becks neben spanischen Texten, die ihm zum Teil gar nicht oder anders vorlagen. Die beiden Herausgeber, Ernst Rudin und José Manuel López in Bern, haben sich der Kärrnerarbeit unterzogen, mit Hilfe von Fussnoten die Unstimmigkeiten auszubügeln, was zugleich ein mehr oder weniger diskretes Register der Beckschen Übersetzungssünden ergibt.
Den beiden Hispanisten – sie werden, kaum erkennbar, nur auf dem Schmutztitel erwähnt – gebührt zwar grosses Lob, denn das ausführliche Nachwort, das Glossar und die Anmerkungen sind ohne Tadel. Dennoch muss man sich wundern, weshalb sie sich für eine so undankbare, zudem überflüssige Arbeit hergegeben haben. Bei López besonders, bei Rudin weniger, denn der Hispanist aus Sissach ist ein bekannter Spezialist in Sachen Lorca-Übersetzung. Er konnte sein Wissen hier nochmals vermarkten. 1997 hat er in Kaiseraugst ein Kolloquium zu diesem Thema veranstaltet, an dem u. a. der Neffe des Dichters, Manuel Fernández Montesinos, die Beck-Stiftung geradezu anflehte, bessere deutsche Übersetzungen zuzulassen. Und im Jahr 2000 ist Rudins Habilitationsschrift erschienen mit dem Titel „Der Dichter und sein Henker? Lorcas Lyrik und Theater in deutscher Übersetzung, 1938–1998“. Der aufmerksame Leser wird erraten, wer mit dem Henker gemeint ist. Und ausgerechnet der Kritiker Becks hat sich zur Herausgabe dieses Beck-Mausoleums bewegen lassen?
Zu guter Letzt muss man sich fragen, was diese Wallstein-Edition der Gedichtauswahl Lorcas eigentlich bezweckt. Die Versionen Becks können wie gesagt in der wieder lieferbaren Insel-Ausgabe von 1982 gelesen werden, mitsamt den Sünden. Ein bedauerliches Nullsummenspiel also mit editorischen Tricks und einer unerträglich unkritischen Lobhudelei der Stiftung für ihren längst verstorbenen Schützling. Man kann auf die Beck-Stiftung münzen, was Lorca gemäss Beck im „Cante Jondo“ über die Gitarre sagt: „Sie zu schwichten ist unnütz. Sie zu schwichten – unmöglich“ (S. 73). Sie verstehen das nicht? Deutsch müsste man können, Beck-Deutsch!

Gustav Siebenmann, Neue Zürcher Zeitung, 2.9.2008

So klassisch wie Mugabe

– Die Geschichte der Lorca-Übertragungen ist bizarr: Ein Blick in neue und nicht so neue Übersetzungen der Werke Federico García Lorcas. –

Es war gleich im ersten Semester. Das Proseminar beschäftigte sich mit der „Generation 27“, jener Gruppe spanischer Dichter, die das Góngora-Jubiläum 1927 feierlich begangen und den Barockdichter damit wieder in Ansehen gesetzt hatten. In der Seminarsitzung sollte ein Gedicht von Federico García Lorca analysiert werden, dem Star der „Generation 27“: „Tu infancia en menton“. Dem jungen Studenten erschienen die Verse schwer verständlich; so besorgte er sich eine alte, zweisprachige Inselausgabe, in der neben dem Original auch eine Übersetzung stand.
 Mit der aber stimmte etwas nicht, ja an manchen Stellen wirkte es geradezu so, als habe der Übersetzer eine andere Vorlage benutzt als jene, die sich im Insel-Band abgedruckt fand. Zwar traute sich der Erstsemester noch nicht, jenen ominösen Enrique Beck, der da als Übersetzer geführt wurde, laut zu kritisieren; zumindest Becks Deutsch aber kam ihm irgendwie seltsam vor: „Merkwürdge Seele meines Ader-Innern“, hieß es da etwa, oder: „Sprung / der Ricke durch die endelose Brust des Weiß“.
Ricke? Ader-Innern? Merkwürdg und endelos? Da war doch offensichtlich mehr als bloß ein Buchstabe verrutscht! Später erfuhr er, dass die Übersetzungen Enrique Becks eine lange, wenig erquickliche Geschichte hatten: 1934 war Beck, ein Jude, der eigentlich Heinrich hieß, nach Spanien geflohen. Dort begeisterte er sich bald für Federico García Lorca und begann dessen Gedichte und Theaterstücke zu übersetzen. Nach dem Mord an Lorca 1936 kam es dann zu einem folgenschweren Abkommen zwischen dessen Erben und Enrique Beck: Diesem wurde das alleinige Übersetzungsrecht eingeräumt. Ein falsch verstandener Empfehlungsbrief Thomas Manns spielte dabei eine tragische Rolle.
So war die deutsche Lorca-Rezeption in den folgenden sechzig Jahren den Übersetzungskünsten Enrique Becks (er selbst starb 1974) schutzlos ausgeliefert. Erst der Einsatz Siegfried Unselds, der das Monopol gerichtlich anfocht und dabei zahlreiche für die Beck-Erben niederschmetternde Gutachten vorlegte, sorgte schließlich dafür, dass Neuübersetzungen auf den Weg gebracht werden konnten. Die Beck-Übersetzungen wurden 1998 aus dem Verkehr gezogen. Was den Wallstein-Verlag dazu bewogen, ja was ihn geritten hat, diese wieder aufzulegen, ist ein Rätsel.

Deines Hofes Oleander
Die Herausgeber räumen zwar ein, dass keine Übersetzung nach dem Zweiten Weltkrieg „auf so starke Kritik gestoßen sei wie die Beck’sche“, sie sind aber zugleich der Meinung, dass dessen Werk auch „kontrovers diskutiert” wurde. Ein Verteidiger will einem aber nicht einfallen. Einzig Ernst Rudin, der Herausgeber, hat sich in seiner Promotionsschrift „Der Dichter und sein Henker? Über Lorcas Lyrik in deutscher Übersetzung“ für Beck eingesetzt. Rudins Mitstreiter bei dieser Neuauflage ist der in Romanisten-Kreisen wenig bekannte José Manuel López de Abiada von der Universität Bern.
Beide nun besitzen die Dreistigkeit, Becks Werke als die „klassische Lorca-Übersetzung“ zu bezeichnen. Das ist ungefähr so, als würde man Robert Mugabe „den besten Präsidenten Simbabwes“ nennen. Andere Übersetzungen (ebenso wie andere Diktatoren) hatten eben keine Chance. Sie deswegen klassisch oder auch nur gut zu nennen, grenzt an Verblendung. Dabei geben Rudin und López de Abiada durchaus zu, dass man bei Beck „umständliche Formulierungen, Archaismen und Manierismen“ findet. Sie ignorieren jedoch, dass seine Fassungen über weite Strecken von diesen Schwächen beherrscht werden: „nun, hast Lust du, kannst du fällen / deines Hofes Oleander“. Da sträuben sich einem die Haare.
Raufen möchte man sie sich am liebsten bei all den herbeigezogenen Entschuldigungen und Verteidigungen, die Rudin und López noch so einfallen. Doch sind die Schlachten längst geschlagen, jede weitere Auseinandersetzung so unnütz wie diese Ausgabe. Eins sei nur noch erwähnt: „Die Gedichte“, wie der Verlag es groß auf die beiden Bände gedruckt hat, ist eine Irreführung des Käufers; es handelt sich hier längst nicht um alle Gedichte Lorcas, von einigen Bänden hat Beck nicht einmal die Hälfte übersetzt.
Eine auch nicht immer ganz verlässliche Auswahl hat Gustav Siebenmann unter dem wenigstens korrekten Titel Gedichte bei Reclam herausgebracht. Im Suhrkamp Verlag liegen inzwischen der Diwan des Tamarit, die Zigeunerromanzen und Dichter in New York in den kompetenten Übersetzungen von Martin von Koppenfels und Rudolf Wittkopf vor. Ebenso gelungen sind die Übertragungen der Stücke Lorcas durch Wittkopf, Thomas Brovot, Hans Magnus Enzensberger und Susanne Lange. Sie sind nun gesammelt in einem Band erschienen.
Martin von Koppenfels hat dazu ein instruktives Nachwort beigesteuert. Darin weist er auf die plastischen Qualitäten der Dramen hin, die pantomimische Klarheit ihrer Handlungen, die stilisierte und zugleich einfache Sprache, den musikalischen Aufbau und die „eher lyrischen als argumentativen Regeln folgende Verflechtung der verschiedenen Stimmen“. Zu Recht stellt Koppenfels auch die Frage, was den heutigen Leser die Mechanismen der spanischen Gesellschaft des lange vergangenen Jahrhunderts angehen.
Gerade in den drei bekanntesten Stücken Yerma, Bluthochzeit und Bernarda Albas Haus kann man sich bei der Wiederlektüre des Eindrucks nicht erwehren, dass man es hier mit exemplarischen Geschichten, mit Versuchsanordnungen zu tun hat. Dem Leser/Zuschauer soll etwas vorgeführt werden. Der erzieherische, mitunter geradezu anklagende Impetus ist überdeutlich. Mit individuellen Charakteren hat man es hier nur eingeschränkt zu tun, eher mit Typen. Die Töchter Bernarda Albas tanzen genauso nach der Pfeife ihrer Mutter wie nach der ihres literarischen Schöpfers.
Unberechenbar, ja anarchisch ist Lorca dagegen vor allem in seinen Gedichten, aber auch in manch früherem Stück. So etwa in dem Puppenspiel um „Don Cristóbal“. Hier spürt man nicht nur die wilden Energien, die Lorca umflossen, hier sieht man zu guter Letzt auch, wie glücklich Übersetzungen ausfallen können: „Öffne den Balkon, Rosita, / denn das Spiel fängt an. / Dich erwartet eine schöne Leiche / und ne Schlafmütze von Mann.“ Hier fehlen zwar auch ein paar Buchstaben, „merkwürdg“ ist das in diesem Fall aber nicht.

Tobias Lehmkuhl, Süddeutsche Zeitung, 12.12.2008

Fünf Uhr nachmittags

– Eine zweisprachige Lorca-Ausgabe deckt die Lücke auf. –

Für den Rest der Welt ist García Lorca, den die Spanier vertraulich oft nur „Federico“ nennen, der größte spanische Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Spanier jedoch stufen den außerhalb noch immer wenig bekannten Antonio Machado in seiner magischen Einfachheit und Normalität noch höher ein. Auch Machado wurde Opfer des Bürgerkriegs. Über die Ermordung Lorcas schrieb er ein berühmtes Gedicht: „Das Verbrechen war in Granada, in seinem Granada …“. Lorca liebten alle, Dalí, Picasso, Buñuel, Machado und der Stierkämpfer Ignacio Sánchez Mejías, über den Lorca nach dessen Tod sein berühmtes Gedicht geschrieben hat: „A las cinco de la tarde“, zu Deutsch: „Um fünf Uhr nachmittags“.
Die vorliegende Ausgabe versammelt Übertragungen von Heinrich Enrique Beck. Darin liegt ein großes Problem trotz des nötigen Respekts vor Becks schwerem Lebensweg. Er war jüdischen Schicksals, floh 1934 in die Schweiz, von dort, wo er immer durch Ausweisung bedroht war, ging er nach Spanien. Und 1938, als es für ihn, den Kommunisten, dort nicht mehr ging, rettete er sich erneut nach Basel. In jenem Jahr erschien im Stauffacher Verlag seine erste Lorca-Übersetzung, die Zigeunerromanze.
Heinrich Enrique Beck war ursprünglich Werbefachmann. Erst in Spanien wurde er zum Übersetzer und „Heinrich“ zu „Enrique“. Ein kluger und freundlicher Schweizer Anwalt (er lebt noch) sicherte ihm sein prekäres Bleiberecht und dazu etwas sehr Ungewöhnliches (und dadurch auch seine bürgerliche Existenz): nämlich, über Lorcas Familie, das alleinige Übersetzungsrecht an diesem Dichter für das Deutsche. (Normalerweise erwerben solche Rechte ja nicht Übersetzer, sondern Verlage.)
Nach Becks Tod im Jahr 1974 gingen die Rechte auf dessen Erben über. Das alles war höchst ärgerlich. Aber gut ist es doch, den Hintergrund zu kennen. Beck war kein wohlbestallter Philologie-Professor oder Studienrat. Heute aber, zweiundsiebzig Jahre nach Lorcas Tod, kann jeder Lorca-Übersetzungen drucken. Und seit 1996 gibt es auch die gute spanische Ausgabe der Sämtlichen Werke von Miguel García-Posada. Beck lag seinerzeit vielfach nur unzulänglich Ediertes vor. Und er hat außerdem auch unter dem ihm Vorliegenden ausgewählt. Von fünfhundertfünfzig Gedichten hat er nur zweihundertdrei übersetzt. In den vorliegenden beiden Bänden sind also nicht einfach „Die Gedichte“, sondern bloß diejenigen, die Beck (zum Teil aus unguten Vorlagen) übertragen hat. Dann ist diese Ausgabe zweisprachig, und sie folgt, was die Originale angeht, weitgehend der genannten García-Posada-Ausgabe. Natürlich kann man, wenn dies alles so ist, die Frage nach der Berechtigung dieser Ausgabe schon stellen. Umso mehr, als die Insel-Bände von 1982, an die sie sich hält, noch zugänglich sind. Sicher aber haben wir nun endlich zum ersten Mal eine zweisprachige Ausgabe aller Lorca-Übersetzungen von Beck, die also den Vergleich zwischen Übersetzung und Original bequem ermöglicht, wobei man dazu freilich immer wieder genau den Text brauchte, der Beck vorlag.
Die Beck-Übersetzung ist zwar nicht „die klassische Übersetzung“, wie der Anhang sagt (auch wenn man den Begriff des „Klassischen“ dehnt), aber sie war eben die erste und aus genannten irritierenden Gründen lange Zeit die einzige. Sie hat evidente Mängel, die auch das „Nachwort“ andeutet. Und die Herausgeber, Ernst Rudin und José Manuel López, korrigieren, wo es nicht anders geht. Hinter dieser Ausgabe steht die „Heinrich Enrique Beck-Stiftung“ in Basel, die sich, neben humanitären Aufgaben, dem Werk Heinrich Becks und Thea Sternheims widmet. Nun aber gibt es andere, bessere Übersetzungen: die von Martin von Koppenfels und Rudolf Wittkopf (Suhrkamp); auch Altmeister Gustav Siebenmann hat im Jahr 2007 eine Auswahl herausgebracht (Reclam).
Das sind wichtige Beiträge, eines aber ist dennoch klar: Wir brauchen jetzt einen neuen deutschen Lorca, unseren Lorca. Abgesehen von den sonstigen Mängeln der Beck-Übersetzung, bewegte er sich in einer verflossenen „Diskurstradition“, wie die Sprachwissenschaft sagt. Es gibt auch, natürlich, „Traditionen des Sprechens“. Also (dies sagt der Landgraf im „Tannhäuser“): „Auf, liebe Sänger, greifet in die Saiten! Die Aufgab’ ist gestellt.“

Hans-Martin Gauger, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.9.2009

 

Die Jagd noch der kühnen Metapher

– Federico García Lorca und die Generation von 27. –

Spanien hat ein Jahrhundert der Katastrophen hinter sich. 1898 trieb der Zusammenbruch des einstmals die Welt umspannenden spanischen Kolonialreiches das wirtschaftlich wenig entwickelte und von Europa nahezu völlig abgeriegelte Mutterland in eine Krise des Nationalbewußtseins. 1936 begann mit dem Spanischen Bürgerkrieg eine Jahrzehnte währende geistige Ausblutung Spaniens. Federico García Lorca, dessen Leben sich zwischen diesen beiden nationalen Katastrophen abspielte (1898–1936), wurde in diesem Jahr in Spanien mit großer Euphorie gedacht.
Am 5. Juni, dem 100. Geburtstag des Dichters, kreiste ein Hubschrauber über Granada, aus dem der Bürgermeister der andalusischen Metropole Gedichte Lorcas über den Straßen und Plätzen der Stadt abwerfen ließ. Jener Stadt, in der er seine ersten Gedichte geschrieben und sein erstes Buch veröffentlicht hatte, die ihm bis zu seinem gewaltsamen Tod geistige Heimstatt geblieben war und von der er gesagt hatte, daß sie das Wesen geformt und modelliert habe, das er sei:

Dichter von Geburt an und ohne etwas dagegen tun zu können.

Vielleicht bedeutet dieser Akt überschäumender Lorcamanie die endgültige Heimholung des Dichters, nachdem dessen Tod, vor allem in Granada, erst vertuscht, danach verfälschend dargestellt und auch später die Erinnerung an den nunmehr als Märtyrer und universellen Dichter gefeierten lange Zeit verdrängt worden war.
Am 17. August 1936, unmittelbar nach Beginn des Spanischen Bürgerkrieges, war Lorca in Granada verhaftet worden. In einer rasch zusammengeschriebenen Anklageschrift wird ihm unterstellt, ein subversiver Schriftsteller zu sein, der einen Funkapparat besitze, über den er mit den Russen in Kontakt stehe. Am Tag darauf wird er zur Hinrichtung geführt, mit Handschellen an einen Mitgefangenen gefesselt (einen Grundschullehrer, der an Krücken geht). Unweit Granadas, in der Nähe des Ortes Viznar, einer berüchtigten Hinrichtungsstätte der spanischen Nationalisten, geben ihm Mitglieder des Schwarzen Schwadron die Todessalve, da diese ihn nicht sogleich tötet, den „Gnadenschuß“. Nach der Hinrichtung rühmte sich einer der Mörder, er habe bei der Erschießung Lorcas mitgemacht und ihm obendrein „zwei Schüsse in den Arsch gegeben, weil er schwul war“.
Antonio Machado hatte Granada in seinem Gedicht auf den Tod García Lorcas als Ort des Verbrechens gebrandmarkt. Rafael Alberti, wie Lorca Andalusier, hatte geschworen, nie wieder den vom Blut des Dichters getränkten Boden Granadas zu betreten.
Ohne Zweifel hatte die brutale Ermordung Lorcas die weltweite Verbreitung seines Werkes befördert, da die Tat als Symbol für den geist- und kunstfeindlichen Charakter des spanischen Faschismus gesehen wurde. Zugleich verbreitete sich aber auch der Irrtum, daß Lorcas Werk sich durch starke politische Akzente auszeichne, ja, daß er der revolutionäre Dichter Spaniens schlechthin gewesen sei. In Wirklichkeit hatte Lorca die Politik gemieden und erklärt:

Ich bin revolutionär, weil jeder wirkliche Dichter revolutionär ist. Aber politisch, das werde ich niemals sein!

Den spanischen Nationalisten hatte er ins Stammbuch geschrieben, daß der gute Chinese ihm näher stehe als der schlechte Spanier. Als die spanischen Kommunisten ihn vereinnahmen wollten, hatte er sich geweigert, deren Aufrufe zu unterschreiben.

Federico García Lorca gehörte der Generation von 27 an, jener Gruppe von spanischen Dichtern, die heute nahezu lückenlos zur Literatur der Moderne gezählt wird und die Hugo Friedrich in seiner nach wie vor unverzichtbaren Einführung in Die Struktur der modernen Lyrik (1956) als den „vielleicht kostbarsten Schatz, den die europäische Lyrik der Gegenwart besitzt“ bezeichnet hat.
Man hat die Gruppe, zu deren engerem Kreis auch die Dichter Vicente Aleixandre (1898–1984), Rafael Alberti (1902), Luis Cernuda (1902–1963), Jorge Guillén (1893–1984), Pedro Salinas (1891–1951), Gerardo Diego (1896–1987) und Damaso Alonso (1898–1990) gezählt werden, später mit dem Jahr der 300. Wiederkehr des Todes von Luis de Góngora y Argote (1561–1627) die Generation von 27 genannt, da die Wiederanerkennung des großen barocken Dichters und die Begegnung mit dessen Werk als gemeinsames Schlüsselerlebnis der Mitglieder der Gruppe gewertet wurde.
In einem spektakulären Gedenkakt hatten die Dichterfreunde in der Madrider Santa Barbara Kirche ein symbolisches Begräbnis des alten Góngora als Hommage begangen, nachdem zuvor von ihnen in einer Parodie dessen drei „Erzfeinde“ – der Gelehrte Topos, der Professor Schlafmütze und der Akademiker Krustentier – einer „Exekution“ zugeführt worden waren.
Góngora, der die Sprache seiner Zeit erneuert hatte, „ohne Gespür für die reale Wirklichkeit, aber als absoluter Herrscher über die poetische Wirklichkeit“ (Lorca), wurde für die Dichter zum provokativen Symbol ihrer ästhetischen Selbstfindung. Doch anders als die nahezu gleichzeitig entstandenen Dichtergruppen des DADA, der Surrealisten und des Futurismus verzichteten diese Dichter auf die Herausgabe von Manifesten, die der Arbeit des einzelnen Richtung und Schranken aufgezeigt hätten. So weist jeder der Dichter der Generation seine Besonderheiten und unverwechselbaren Wertigkeiten auf.

Vor allem drei Gemeinsamkeiten, die nicht nur eine Annäherung an die europäische Moderne bewirkten, sondern die diese Dichter als unverwechselbare neue Stimme in die erste Reihe dieser neuen Poesie stellten, heben die Generation von 27 von den vor und nach ihnen in Spanien wirkenden Dichtern ab.

Die „Jagd nach der kühnen Metapher“ kann dabei als das stilistische Hauptmerkmal der Generation angesehen werden.

Kühn sollte sie insofern sein, als sie sich möglichst weit von irgendeiner Berührung zwischen Sache und Bild zu entfernen hatte, um bei größtmöglicher Entfernung, bei scheinbarer Absolutheit, im Sinne einer Überraschung dennoch einen irgendwie spürbaren Zusammenhang zu ergeben (Gustav Siebenmann).

Im Vergleich zu früheren Lyrikepochen, etwa des Symbolismus, sollte die Metapher nicht als Schmuck, sondern als Substanz Verwendung finden.
In seinem Vortrag „Das dichterische Bild bei Don Luis de Góngora“, der auch als Beitrag zur eigenen Poetik gelesen werden kann, spricht Lorca von dieser Jagd nach der Metapher. „Die Ewigkeit einer Dichtung hängt ab von der Qualität und der Verbindung ihrer Bilder“, beschreibt Lorca die Essenz seine Góngora-Verständnisses.
Für jene „Jagd“ bedarf der Dichter einer „nahezu unerträglichen kritischen Empfindsamkeit“. Seine Sensibilität müsse ihm ein „Mikroskop in die Pupillen“ stellen. Er müsse „gefaßt sein angesichts der tausend als Schönheiten verkleideten Häßlichkeiten, die nun an seinen Augen vorüberziehen“. Bisweilen müsse er „in der dichterischen Einsamkeit laute Schreie ausstoßen“, um Geister zu verscheuchen, die ihn „populären Umschmeichelungen ohne ästhetischen Sinn, ohne Ordnung und Schönheit zutreiben wollen“.
Aber: Der Dichter schöpft seine Bilder nicht von der Natur ab, sondern „er leitet Gegenstand, Sache oder Handlung in die Dunkelkammer seines Hirns: von da kommen sie transformiert hervor, um den großen Sprung auf die andere Welt zu tun“.

Die Anreicherung des Wortes durch Adjektivierung und eine innovative Attributsetzung, bei Verwendung auserlesenster Epitheta, ist als eine weitere generationelle Gemeinsamkeit der Dichter angesehen worden. Neu war die strikte Vermeidung des nur schmückenden Beiwortes. Es ging nicht mehr darum, durch ungewöhnliche Farbigkeit und Klanglichkeit sinnliche Effekte zu verstärken. Der vom modernen Adjektiv geforderte Schock sollte weniger ästhetischer, vielmehr psychologischer Art sein und von einer gehaltlichen Spannung zwischen Wort und Beiwort ausgelöst werden. Damit näherten sich die Dichter der Generation von 27 den Wirkungsmechanismen surrealistischer Adjektivwahl an.
Die dritte und auffälligste Gemeinsamkeit der Dichter ist die Zunahme der freien Versform, der Assonanz und der Reimlosigkeit. Gleichzeitig ist – erstmals in der spanischen Dichtung – eine Abnahme der verwendeten Metren und Strophenformen festzustellen. Ein befreiender Vorgang, der auch zur Erschwerung der dichterischen Aussage und zur Abnabelung von der Tradition führen kann, wenn er anarchisch betrieben wird. Gerade dies lag jedoch, im Unterschied zu vielen anderen Strömungen der Literatur der Moderne, nicht in der Absicht der Generation. Pedro Salinas macht dies deutlich, wenn er herausstellt:

Die Tradition ist die natürliche Wohnung des Dichters. Sie verleiht dem schöpferischen Geist die größte Form der Freiheit.

Die gewonnene Freiheit wurde nicht als Freiheit von metrischem Zwang aufgefaßt, sondern als Freiheit bei der Wahl des angemessenen Metrums, selbst wenn dieses traditionell sein sollte (z.B. das Sonett). „Die Kunst muß entstehen im Suchen, im Sammeln, im Einverleiben“, sagt Gerardo Diego.

Wir haben gelernt, frei zu sein. Wir wissen, daß dies ein Gleichgewicht bedeutet, nicht mehr… Die Sklaverei ist abgeschafft. Die Trägheit ist außer Mode.

Bemerkenswert und vielleicht auch beispiellos ist jene Atmosphäre des Enthusiasmus, des Überschwangs und der Schaffenslust, die diese Dichter in der Art eines Gemeinschaftsgefühls kultivierten. Der Ruhm, den andere Spanier – de Falla, Picasso, Miro oder Gris – im Europa der 20er Jahre bereits erlangt hatten, mag diesen Enthusiasmus noch zusätzlich befördert haben.

Als wichtigste Inspiratoren des Umbruchs zur Moderne gelten in Spanien der Lyriker Juan Ramón Jiménez (1881–1958), der Romancier und Literat Ramón Gómez de la Serna (1888-1963) und der Philosoph und Essayist Jose Ortega y Gasset (1883–1955), die in Bezug auf die Generation von 27 oft auch in den Status einer Art „Vater-Generation“ gehoben worden sind.

Jiménez hatte in zwei Jahrzehnten mehrere Epochen moderner Dichtung für sich aufgearbeitet und später mit der Gründung seiner Zeitschrift Indice versucht, der Moderne ein Podium zu geben. Wie ein „Laboratorium der modernen Poesie“, mutet das Werk Jiménez’ an. In seinem steten Fortschreiten zu neuen Formen und Inhalten scheint es manchmal wie die Vorwegnahme der Poetik der Dichter der Generation. „Ich weiß, daß ich Stamm / vom Baum des Ewigen bin,“ schreibt Jiménez in einem Gedicht.

Ich weiß, daß ich die Sterne
mit meinem Blut speise.
Alle hellen Träume
sind meine Vögel…
Ich weiß: Fällt mich
die Axt des Todes, wird die Himmelskuppel einstürzen.

Ramón Gómez de la Serna galt in Spanien als Prophet der Avantgarde. Er brachte als erster Übersetzungen der Manifeste der Futuristen und DADAisten in Umlauf, er führte als erster in Spanien literarische Experimente durch (Anti-Dramen, Anti-Romane) und er „entdeckte“ schließlich 1910 die Gregueria, eine „poetische Definition“, die sich wie ein Aphorismus liest und doch keiner ist. „Humor + Metapher = Gregueria“, definierte der Erfinder seine Erfindung.
„Die Mumien wurden gewickelt wie Neugeborene des Todes,“ gibt sich eine Gregueria. Andere: „Der Zoo hat etwas von einer Irrenanstalt für Tiere.“ „Der Duft der Blume ist ihr Seufzer.“ Oder:

Die Oper ist die Wahrheit der Lüge und das Kino ist die Lüge der Wahrheit.

Die Gregueria gilt als einer der originellsten Beiträge zur modernen Literatur Spaniens. Ihr Einfluß auf die Dichter der Generation von 27 ist durch eine Vielzahl von Untersuchungen belegt.
Jose Ortega y Gassets Ziel war die Begründung von Eliten des Geistes, die sich als kulturell innovationsfähig erweisen würden. Er nahm entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der legendären Residencia de Estudiantes, einer Wohn- und Bildungsstätte für Studenten in Madrid, die zur intellektuellen Gedankenbörse der Eliten Spaniens und Europas wurde und zu deren Bewohnern in den 20er Jahren Salvador Dalí, Luis Bunuel, Frederico García Lorca und Rafael Alberti gehörten.
Für die Dichter um Lorca war Ortega zudem wichtig als Herausgeber der 1923 gegründeten Revista de Occidente, einer Kulturzeitschrift von höchstem Niveau, in der nahezu die komplette Generation mit aufsehenerregenden Erstveröffentlichungen in Erscheinung getreten war.

Im Mittelpunkt jenes vor allem in der Lyrik sich vollziehenden Aufbruchs der Generation von 27 stand – mit dem „Genie eines Magneten, der alles an sich reißt“ – Federico García Lorca, das Multitalent. Pianist, Dichter, Interpret seiner und anderer Gedichte, Sänger, Zeichner, Schauspieler, Regisseur und Vortragsredner. Jeder der Dichter der Generation stand mit Lorca, aber auch alle untereinander, in einem regen, schriftlich und mündlich geführten Gedankenaustausch.

Lorca war keine diktatorische Mitte, wie André Breton sie im Kreis der Pariser Surrealisten verkörperte. Er war eine vitale Mitte, verführerisch wie das Leben selbst. „Er verkörperte nicht den Typ von Dichter, der sich mehr als alle anderen in sich zurückzieht“, beschreibt ihn Jorge Guillén, „sondern den, der die meisten Verbindungen eingeht. Keine Einsamkeit, sondern Geselligkeit; und Geselligkeit nicht etwa mit der Lilie oder dem Lamm, sondern mit Menschen; und nicht nur mit den Toten oder den Großen, sondern mit den Lebenden und den Unscheinbaren. … Dieses Leben zog fremdes Leben mit sich in die Höhe: triumphierende, ansteckende Bejahung… Die Generation Federico García Lorcas kennt keinen elfenbeinernen Turm.“
Hinter dieser Umarmungsbereitschaft war auch Melancholie verborgen. Ein anderer Freund, Vicente Aleixandre, erinnert sich:

Er war der ganzen Lebensfreude des Universums fähig; aber sie war, wie bei allen großen Poeten, nicht sein tiefster Urgrund. Diejenigen, die ihn wie einen Vogel voller bunter Farben durchs Leben schwirren sahen, haben ihn niemals wirklich gekannt.

Ian Gibson hat in seiner 1989 vorgelegten Lorca-Biographie (dem Ergebnis einer 20jährigen Recherche) erstmals die „dunkle Seite“ der Existenz des Dichters beschrieben: Angst, Todesahnungen, das Gefühl des Scheiterns, die tiefe Verzweiflung, die er als Homosexueller in einer intoleranten Gesellschaft empfunden hat.

Wie kaum einer seiner Dichterkollegen hat Lorca, aus dem Zentrum seines lyrischen Selbstbewußtseins heraus, nach allen Seiten geschaut, seinen Horizont zu erweitern. Er nimmt die Lyrik des siglo de oro, die große spanische Lyriktradition des Barock, aus der er vor allem die schwierigen Dichter Luis de Góngora und Francisco de Quevedo für sich erschließt, mit der gleichen Intensität auf, wie die Dichtung der französischen Moderne: mit Rimbaud, Mallarmé, Lautréamont und Apollinaire. Er bewundert Walt Whitmans Verse und läßt sich von den Pariser Surrealisten anregen. Gleichzeitig sammelt er Volksliedgut und stellt fest, daß die Metapher als poetisches Bild im spanischen Volkslied, vor allem in der Tradition der andalusischen gitanos, seit Jahrhunderten ein bestimmendes Element war.
Lorca versucht, die für die spanische, vor allem andalusische, Dichtung und Kultur typischen und unverwechselbaren Merkmale und Spezifika aufzudecken und gelangt so zum Begriff des duende (dt. Kobold, Dämon), den „verborgenen Geist des schmerzreichen Spanien“ bezeichnend.
In seinem berühmten Vortrag „Theorie und Spiel des Dämons“, der wie der Text über Góngora als Teil seiner Poetik zu lesen ist, unterscheidet Lorca die Begriffe Dämon, Muse und Engel in der Kunst.

Engel und Muse kommen von außen; der Engel verleiht Talent, die Muse Form… Den Dämon aber muß man in den letzten hintersten Behausungen des Blutes aufrütteln… ein mentaler Wind, der beharrlich über die Köpfe der Toten bläst – auf der Suche nach neuen Landschaften und unbekannten Akzenten; ein Wind, der nach Kinderspeichel, nach zerstampftem Gras und Medusenschleier riecht, und der die ewige Taufe des im schöpferischen Augenblick erschaffenen ankündigt.

Lorca nennt Spanien das Land, das dem Tod geöffnet ist:

In allen Ländern ist der Tod ein Ende. Er kommt und die Vorhänge werden zugezogen. In Spanien nicht. In Spanien werden sie aufgezogen. … In Spanien ist ein Toter lebendiger als sonst auf der Welt: sein Profil versehrt wie die Schneide eines Rasiermessers. Der Scherz über den Tod und die schweigende Vertiefung in ihn sind den Spaniern vertraut.

Zwischen dem duende und jener Vertrautheit mit dem Tod stellt Lorca einen Zusammenhang her: Der Dämon komme nur, wenn er eine Möglichkeit des Todes sehe und wisse, daß er „das Trauergezweig schütteln kann, das wir alle in uns tragen“. Die magische Eigenschaft der Dichtung besteht nach Lorca darin, „immer eins zu sein mit dem Dämon, um mit dunklem Wasser all die zu taufen, die ihn anschaun“.

Der Gedichtband, in dem sich Lorcas Verhältnis zur spanischen Tradition am stärksten niedergeschlagen hat, sind die Romancero gitano (Zigeunerromanzen, 1928). Sein Freund Jorge Guillén sah in diesen Dichtungen traditionelle Modernität und modernes Traditionsbewußtsein gleichermaßen verkörpert.
Das Buch ist als ein, von Lorca betont antifolkloristisch aufgefaßtes, Bild Andalusiens entworfen, in dem die Figuren dem tausendjährigen mythologischen Hintergrund dienen. Lorca sah das Buch als einen Ausdruck der „andalusischen Pein“, die nichts mit Melancholie noch mit Sehnsucht noch irgendeinem Kummer oder Seelenschmerz zu tun hat, sondern mehr ein himmlisches als ein erdhaftes Gefühl ist, ein Kampf des verliebten Verstandes mit dem Geheimnis, das ihn umgibt und das er nicht begreifen kann:

Reine Pein und immer einsam.
Pein verborgnen, dunklen Rinnens
und schon lang vergangnen Morgens!

Im Buch entfalten sich alle Möglichkeiten der modernen Metapher; ihre Fähigkeit, Sinneseindrücke zu verschmelzen, Ursache und Wirkung zu vertauschen, Reales zu entgrenzen, Gegenstände und unbeseelte Wesen zu personifizieren. Hugo Friedrich sah die faszinierende Wirkung dieser Dichtungen auf dem kunstvollen „Verweben von kaum angedeuteten Geschehnisresten mit irrealem Bild- und Wortzauber“ beruhen. Unvermittelt stehen neben ebenso einfachen wie geschliffen beschreibenden Versen kühne Metaphern und vielschichtige Chiffren für das Unausgesprochene.

In der Krone eines Ölbaums
weinen zwei uralte Frauen,
während dieses Kampfes Stier
an den Wänden sich emporbäumt
Schwarze Engel brachten Tücher,
Wasser von geschmolznem Schnee –
Engel mit gewalt’gen Flügeln
ganz aus Albaceter Messern.
(Aus: „Reyerta“, „Streit“)

Um die achtzehn Gedichte der Zigeunerromanzen rankt sich mittlerweile eine ungeheure Bibliographie in vielen Sprachen. Man hält das Buch heute für das am häufigsten gelesene, rezitierte, studierte und gerühmte Gedichtbuch der gesamten spanischen Literatur. Lorca selbst war dieses Ruhmes bald überdrüssig, sah sich mißverstanden und weniger künstlerisch als folkloristisch interpretiert.

Die enge Freundschaft mit Salvador Dalí, der sich stark vom Surrealismus angeregt fühlte und ihn später in Paris auch mitgestaltete, hat Lorca stets verführt, auch in die eigene Dichtung surrealistische Elemente einzubringen. Doch schreibt Lorca nicht aus jenem „psychischen Automatismus“ heraus, den die Pariser Surrealisten sich programmatisch vorgegeben hatten, sondern beruft sich auf eine durch das „klarste Bewußtssein erleuchtete“ poetische Logik. Lorca bezieht lediglich surrealistische Elemente in die Komposition seiner Dichtungen ein. In seinem erst nach seinem Tod erschienenen Gedichtband Poeta en Nueva York (Dichter in New York, 1940) führt er die Erfahrungen mit dem Surrealismus und mit der spanischen traditionellen Dichtung zu einem neuen aber unverwechselbar eigenen Stil zusammen.

Gräßliche Maske! Seht euch die Maske an!
Welch große Schlamm- und Glühwurmwoge auf New York!

Auf der Terrasse kämpft’ ich mit dem Monde.
Schwärme von Fenstern durchlöcherten einen Schenkel der Nacht.
Aus meinen Augen tranken des Himmels sanfte Kühe.
Und an des Broadways Fensterscheiben, grau wie Asche,
klopften die Brisen mit sehr langen Schwingen.

Der Tropfen Blut war auf der Suche nach des Sternes Innerm,
um einen toten Apfelsamen darzustellen.
Der Ebene Luft, vorangetrieben von den Hirten,
erzitterte mit einer Angst gleich einem Weichtier ohne Schale.

(Aus: „Danza de la muerte“, „Tanz des Todes“)

(…)

Am 5. Juni, dem 100. Geburtstag Lorcas, teilte der spanische König Juan Carlos 1. offiziell mit, den ganzen Lorca gelesen zu haben und besuchte gemeinsam mit der Königin Lorcas Geburtsort Fuente Vaqueros. Eine Gelegenheit, bei der das Königspaar eine Gedenktafel enthüllte; mit dem Textzusatz: „Ihre Majestäten ehrten dieses Haus, in dem er gelebt hat“. Nahezu gleichzeitig hatte der konservative spanische Ministerpräsident José Maria Aznar voller Euphorie verkündet, daß ganz Spanien in diesem Jahr FEDERICO heiße, und sich gemeinsam mit dem spanischen Kronprinzen die Ehre genommen, die große Madrider Lorca-Exposition zu eröffnen. Eine Ausstellung, in der mit Sorgfalt all jene Details aus der Biographie des Dichters ausgespart worden waren, die auch im heutigen Spanien noch dezent verschwiegen werden sollen: sein soziales Engagement und seine Homosexualität.

Axel Helbig, Ostragehege, Heft 13, 1998

 

Rudolph Kieve: Federico García Lorca, Merkur, Heft 44, Oktober 1951

Jorge Guillén: Federico García Lorca, Merkur, Heft 175, September 1962

Hans-Jürgen Heise: Ein Andalusier wie kein anderer

Hans-Jürgen Heise: Lorca zwischen Granada und dem Kulturbetrieb

Hans-Jürgen Heise: Die Mörder waren keine Zivilgardisten. Dossiers zum Tod Federico García Lorcas.

Peter Jungblut: Darum wird im Mordfall García Lorca nicht mehr ermittelt

 

 

FÜR FEDERICO GARCIA

Lorca, den haben sie
umgebracht. Oben im Gebirg. Im sinnentleerten
Gebirg.                                                                   Ay!

Auf Gewehren gingen sie
rum, auf ihren Zeitungen, den Prothesen. Sie haben
ihn umgebracht.                                                  Ay!

Tot sind sie jetzt, verrostet. Ihre
Gewehre verfault. Aus den Zeitungen stinken
sie uns entgegen.                                                Ay!

Und sie kommen wieder und wieder. Verbreiten
ihren Stunk. Dahinter die geschniegelten
Herren. Der Rost fresse sie auf.                      Ay!

Richard Wagner

 

 

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer + Kalliope + UeLEX

 

Zum 25. Todestag des Autors:

Salomé Kestenholz: Federico Garcia Lorca
Die Tat, 19.8.1961

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Sylvia M. Patsch: Die Stimme aus dem Innersten
Die Furche, 4.6.1998

Zum 85. Todestag des Autors:

 

 

Zum 125. Geburtstag des Autors:

Jens Grandt: Das andalusische Genie
nd, 4.6.2023

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + ErinnerungenIMDb +
Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA


Federico García Lorca – Porträt, Teil 1/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 2/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 3/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 4/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 5/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 6/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 7/7.

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